19. Juli 2023
Im Faust II schreibt Goethe vorausschauend wie kein anderer über die frühkapitalistische Ausbeutung und die Anfänge des Kreditwesens.
»Tatsächlich scheinen Goethe und Marx einige Einsichten zu teilen.«
Illustration: Piotr DudekNachdem Rosa Luxemburg 1919 in Berlin von Freikorpssoldaten verhaftet und ins Hotel Eden gebracht wurde, las sie noch einmal in Goethes Faust II. Das geht aus dem Bericht eines ihrer Mörder hervor. Kurz darauf wurde sie mit einem Gewehrkolben bewusstlos geschlagen, erschossen und in den Landwehrkanal geworfen. Luxemburg muss Goethes »Tragödie« schon einige Zeit bei sich getragen haben, hielt sie sich doch seit dem ein paar Tage zuvor gescheiterten Spartakus-Aufstand in verschiedenen Wohnungen versteckt. Warum griff die Revolutionärin in dieser Zeit der Straßenkämpfe ausgerechnet zu Goethe? Was konnte ihr ein bürgerlicher Aristokrat des ausgehenden 18. Jahrhunderts in diesem Moment sagen?
Wer heute den Faust II aufschlägt, ist zunächst überfordert. Faust I, dessen Lektüre hier und da Schulstoff ist, zeichnete sich noch durch eine einigermaßen nachvollziehbare Geschichte aus: Ein Gelehrter schließt einen Pakt mit dem Teufel Mephisto und lässt sich verjüngen, um eine Frau zu gewinnen. Der zweite Teil hingegen liest sich wie ein turbulentes Sci-Fi-Szenario inklusive einer »Zeitreise« in die Antike und der Schaffung künstlicher Intelligenz. Faust wird dabei zum Ausbeuter, der dem Meer Land abgewinnen will und dabei die Gewalt gegen Menschen und Natur nicht scheut: »Man hat Gewalt, so hat man Recht«, sagt Mephisto, der Arbeiter »heranschaffen« soll und ein altes Ehepaar im Schlaf umbringt, weil ihre bloße Existenz Faust im Weg steht.
Goethe war sich bewusst, dass sein letztes großes Werk aufgrund seiner formalen Grenzüberschreitungen verstören würde und ließ es bis zu seinem Tod versiegeln. Nachdem Faust II dann veröffentlicht wurde, galt er lange Zeit als unverständlich oder sogar misslungen. Heute muss man aber sagen, dass das Gegenteil wahr ist. Faust II ist einer der spannendsten – wenn auch keiner der zugänglichsten – Fälle der Literaturgeschichte, ein hellsichtiges Werk, das schon zu Beginn des modernen Kapitalismus dessen Dynamiken erfasste.
Wurde der zum »deutschen Nationaldichter« stilisierte bürgerlich-aristokratische Goethe am Ende seines Lebens zu einem Genossen? Tatsächlich las der alte Goethe nachweislich einige frühsozialistische Schriften – bedeutender für seine Einsichten in den Kapitalismus, die Goethe im Faust II präsentiert, dürfte aber seine Beschäftigung mit Wirtschaftstheorie und seine Zeit als Finanzminister am Weimarer Hof sein. In seiner Bibliothek fanden sich etliche Schriften zur Nationalökonomie, darunter dürften wiederum viele gewesen sein, die auch der junge Marx studierte, der gerade mal ein Jahrzehnt nach Goethes Tod von philosophischen zu ökonomischen Fragen überging. Und tatsächlich scheinen Goethe und Marx auch einige Einsichten zu teilen.
Es war der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer, der in den 1980er Jahren eine umfassende Untersuchung des Faust II aus marxistischer Perspektive vorlegte und dabei zeigte, wie nah sich das Denken von Marx und der Gehalt von Goethes letztem Werk gekommen sind. In einer frühen Aufzeichnung über das Geld von 1844 zitiert Marx aus einem Monolog Mephistos: »Wenn ich sechs Hengste zahlen kann / Sind ihre Kräfte nicht die mein? / Ich renne zu und bin ein echter Mann / Als hätt’ ich vierundzwanzig Bein.« Marx interpretiert: »Die Eigenschaften des Geldes sind meine – seines Besitzers – Eigenschaften und Wesenkräfte. Das was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine Individualität bestimmt.«
»Vor einigen Jahren löste der Ex-Bundesbank-Chef Jens Weidmann eine kleine Kontroverse aus, indem er den Faust II als eine frühe Warnung vor einer ›inflationären Geldschöpfungspolitik‹ der Zentralbanken deutete.«
Marx wird den Gedanken später im Kapital wieder aufgreifen, wenn er von »ökonomischen Charaktermasken« spricht. Kapitalistinnen und Kapitalisten handeln bei Marx als »Personifikationen ökonomischer Kategorien […], Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen«. Wer sie in der Welt sind und nach welcher Logik sie handeln, hängt nicht von ihrer Persönlichkeit ab, sondern von unpersönlichen Eigentumstiteln. Ganz ähnlich funktionieren wiederum die Figuren in Goethes Tragödie. Der zweite Teil des Faust lässt sich als »Allegorie des 19. Jahrhunderts« lesen. Die Figuren stehen also nicht mehr nur für sich selbst, sondern verkörpern Momente abstrakter Strukturen und Ideenkomplexe, etwa die des frühen Kapitalismus.
Wie wirkmächtig Goethes literarische Verdichtung des Frühkapitalismus ist, lässt sich auch daran ablesen, dass der Faust II immer wieder durch laufende Debatten um Geldschöpfung und die Rolle von Zentralbanken spukt. Vor einigen Jahren etwa hat der Ex-Bundesbank-Chef Jens Weidmann eine kleine Kontroverse ausgelöst, indem er den Faust II als eine frühe Warnung vor einer »inflationären Geldschöpfungspolitik« der Zentralbanken deutete. Auch andere Ökonominnen und Ökonomen sehen in Goethe einen frühen Kritiker expansiver Geldpolitik. Doch wer den Faust II genau liest, muss die Tragödie anders interpretieren: Goethe beschreibt ganz materialistisch, wie eine Revolution der ökonomischen Verhältnisse – in diesem Fall die Schaffung einer neuen Finanztechnologie – neue Wertvorstellungen und Lebensformen hervorbringt.
Faust und Mephisto kommen zu Beginn des zweiten Teils an den Hof des Kaisers, der mit seinem Staatsrat gerade eine tiefgreifende ökonomische Krise seines Reichs diskutiert: Die Weinschläuche sind leer, die Schweine mager und das Land liegt »geplündert und verheert«. Am drängendsten jedoch: Es fehlt dem Hof an Geld. Doch Faust und Mephisto haben eine Lösung – die Einführung von Papiergeld. Goethe verhandelt damit eine der wichtigsten ökonomischen Fragen des 17. und 18. Jahrhunderts. Zahlreiche Staaten experimentierten damals – mal mehr, mal weniger erfolgreich – mit Papier- und Kreditgeld; 1789 beschloss etwa die revolutionäre Nationalversammlung in Frankreich, sogenannte Assignaten auszugeben, eine Art von Staatsanleihen, die durch enteigneten Kirchenbesitz gedeckt waren und eine Zeit lang das Metallgeld als Zahlungsmittel ersetzten. In den meisten Fällen – so auch in Frankreich – endeten diese Experimente in Inflation und Krisen. Umso interessanter ist, wie Goethe die Frage des Papiergelds im Faust II verhandelt.
Von Faust gelenkt unterschreibt der Kaiser letztlich das Papiergeld. Die »Zauberblätter« werden »vertausendfacht« und beleben die Wirtschaft: Fleischereien, Bäckereien, Schenken sind in vollem Betrieb, Schulden werden beglichen und alle akzeptieren das Papiergeld als Goldersatz. Das neue Geld soll zwar theoretisch mit dem Gold gedeckt sein, das überall im Kaiserreich in der Erde liegen soll, doch Faust spricht zugleich aus, was das wirkliche Prinzip des modernen Geldes ist: »Doch fassen Geister, würdig tief zu schauen, / Zum Grenzenlosen grenzenlos vertrauen.« Grenzenlos ist dabei sowohl die potentielle Menge der Papierzettel als auch das Vertrauen, dass man sie im Zweifel wieder gegen Gold eintauschen kann. Was hier inszeniert wird, ist die Geburt des modernen Geldes aus dem Geist der Fiktion, denn wie viel Gold tatsächlich im Boden liegt, bleibt der Fantasie der Staatsmacht überlassen.
Viel wichtiger als ein »echter« Wert-Referent ist also das Vertrauen auf die Rückzahlung. Mit dem neuen Kreditgeld entsteht so eine umfassende Ökonomie von Gläubigern und Schuldnern. Auch Marx betonte, dass das Kreditgeld am Anfang der kapitalistischen Moderne steht: »Der öffentliche Kredit wird zum Credo des Kapitals. […] Die öffentliche Schuld wird einer der energischsten Hebel der ursprünglichen Akkumulation.« Das alte Metallgeld erweist sich als zu träge und zu begrenzt, um allein die kapitalistische Expansion zu tragen. Die Staatsschuld bringt Marx zufolge »das Börsenspiel und die moderne Bankokratie« hervor, die sich »den Regierungen an die Seite stellen und, dank den erhaltenen Privilegien, ihnen Geld vorzuschießen im Stande waren«. Faust und Mephisto verkörpern in dieser Szene allegorisch diese Banken.
»Es gibt kein zurück hinter die brutalen Modernisierungsprozesse des Kapitals, der einzige Ausweg führt mittendurch.«
Goethe war klar, dass die wirtschaftlichen Krisen im 18. Jahrhundert wesentlich aus Schwierigkeiten im Umgang mit der neuen Kreditgeldwährung hervorgingen. Die Handlung des Faust II betont jedoch die produktiven Effekte des Papiergelds mehr als seine Krisenpotentiale. Goethe muss also geahnt haben, dass sich das neue Geld trotz seiner notorischen Krisenhaftigkeit durchsetzen würde. Das Kaiserreich gerät zwar auch im Faust II nach der Papiergeldszene erneut in eine Krise, doch diese ist eben nicht ökonomischer Natur, sondern entspringt den Fehden zwischen den feudalen Kleinstaaten und ihren Fürsten.
Goethes Text warnt daher weniger vor Inflation oder einer fehlenden Realwertdeckung des Geldes, wie das einige monetaristische Interpretationen der Mainstream-Ökonomie bis heute behaupten. Vielmehr legt er offen, dass das neue Kreditgeldsystem auf Dauer eine ganz andere Ökonomie erfordert als die starre feudale Ordnung. Es braucht Unternehmer, Arbeiterinnen, Kapital und eine gewinnträchtige Zukunft.
Genau diese Art von Wirtschaft wird am Ende des Dramas in der Faust-Figur aufgerufen. Fausts Landnahmeprojekt, sein Expansionsdrang und seine Gewalt machen ihn zu einem frühen Kapitalisten. Faust ist kein feudaler Grundbesitzer, der für seine Bedürfnisse und die seiner Untertanen produzieren lässt, sondern ein Unternehmer, der in abstrakter Sorge um die Vermehrung seines Reichtums handelt, als müsste er seine Gläubiger bedienen. Fausts ewiger Tatendrang steht auch für einen von Kreditgeld getriebenen Kapitalismus.
Wie der Literaturwissenschaftler Jospeh Vogl herausgearbeitet hat, verdichtet sich in der Faust-Figur ein neues Menschenbild – der Homo Oeconomicus, den die junge Wissenschaft der Nationalökonomie zu dieser Zeit erfindet. Dieser kapitalistische Mensch arbeitet nicht primär für die Befriedigung der Bedürfnisse, sondern für einen Überschuss. Genau dieses Prinzip begreift Marx als strukturelles Merkmal des Kapitalismus: Die Produktion von Mehrwert durch die Arbeitenden, aus dem letztlich auch der Zins auf den Kredit gezahlt wird.
Faust II erscheint an einer Epochenschwelle und verdichtet das ökonomische Wissen seiner Zeit zu einem großen literarischen Werk. Es erzählt von dem Zerfall der politischen Mächte des Feudalismus und der neuen kapitalistischen Ökonomie und legt auch die Gewalt der letzteren offen: »Krieg, Handel und Piraterie, / Dreieinig sind sie, nicht zu trennen«, weiß Mephisto, und dass der Kapitalismus ein blinder, brutaler Prozess ist, zeigt sich am Ende an Faust. Nachdem er im fünften Akt selbst erblindet, hört er, wie die Arbeiter schaufeln, und glaubt, hier würde ein Graben zur Landgewinnung ausgehoben. In Wirklichkeit ist es sein eigenes Grab. Der Faust hält dabei allerdings noch eine andere Erkenntnis bereit: Es gibt kein zurück hinter die brutalen Modernisierungsprozesse des Kapitals, der einzige Ausweg führt mittendurch.
So formuliert Faust dann auch im Augenblick seines Todes noch den Traum von einer neuen Gesellschaft: »Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen: / Verweile doch, Du bist so schön.« Der brutale Kapitalismus, so lässt sich diese Stelle deuten, bringt unweigerlich die Vision einer anderen, besseren Gesellschaft hervor.
Matthias Ubl ist Contributing Editor bei Jacobin.