20. Februar 2024
Schlechte Nachrichten für arbeitende Menschen in aller Welt: Die FDP blockiert die EU-Lieferkettenrichtlinie, die es ermöglichen würde, Unternehmen für Vergehen in ihren globalen Produktionsnetzwerken zu belangen. Die Industrie ist »erleichtert«.
Die FDP zieht zu Felde gegen lästige EU-Verordnungen, die unnötig Menschenrechte schützen.
Dass der Koalitionsvertrag das Papier nicht wert ist, auf dem er geschrieben ist, ist längst zur Binsenweisheit verkommen. Doch wie sehr sich die FDP nicht nur gegen Beschlüsse stellt, die sie selbst mit ausgehandelt hat, sondern jetzt auch noch reguläre Abstimmungsprozesse innerhalb von Bundesregierung und EU torpediert, steht auf einem anderen Blatt.
Mehr als drei Jahre rangen die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europäische Rat erst um ihre jeweiligen Positionen und schließlich um einen gemeinsamen Kompromiss. Im Dezember 2023 dann kamen die sogenannten »Trilog«-Verhandlungen über die EU-Lieferkettenrichtlinie endlich zum Abschluss. Die anschließenden Abstimmungen über die finale Position sollten dann eigentlich nur eine Formsache sein.
Doch Mitte Januar beschloss die FDP plötzlich, den Kompromiss nicht mehr mitzutragen. Die Bundesregierung muss sich im EU-Ministerrat enthalten. Dort wurde die ursprünglich für den 9. Februar geplante Abstimmung zunächst auf den 14. Februar verschoben – und dann auf unbestimmte Zeit. Denn durch die Enthaltung Deutschlands war die sogenannte qualifizierte Mehrheit nicht mehr gesichert.
SPD-Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ebenso wie die Europäische Kommission machen der FDP ein Verhandlungsangebot nach dem anderen, doch die Liberalen stellen sich stur: Über die EU-Lieferkettenrichtlinie solle nach den EU-Parlamentswahlen im Juni neu verhandelt werden, heißt es jetzt aus dem FDP-geführten Bundesjustizministerium.
Aus sozialistischer Sicht ist natürlich klar: Eine EU-Richtlinie »über die Sorgfaltspflichten von Unternehmen mit Blick auf die Nachhaltigkeit« wird weder die Eigentumsverhältnisse verändern noch die Ausbeutung im globalen Kapitalismus beenden. Doch das behauptet auch niemand. Regularien wie diese sind Teil reformistischer Bestrebungen, um Unternehmen zur Rechenschaft ziehen zu können, wenn ihre Wirtschaftsaktivitäten zu Menschenrechtsverletzungen führen – und zwar nicht im eigenen Land, sondern anderorts.
Die EU-Richtlinie beruht, ebenso wie das 2023 in Kraft getretene deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), auf den »Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte« der Vereinten Nationen. Diese wurden 2011 verabschiedet und bilden – auch wenn sie völkerrechtlich nicht bindend sind – auf Ebene der globalen Normen einen wichtigen Referenzpunkt für progressive Akteure, darunter viele Gewerkschaften.
Die Leitprinzipien halten fest, dass Unternehmen eine sogenannte extraterritoriale Pflicht haben, die Menschenrechte entlang ihrer Wertschöpfungsketten zu achten. In der bestehenden Rechtspraxis können Unternehmen die Verantwortung für Missstände im Wesentlichen auf ihre Zulieferer abwälzen: Fehlende Sicherheitsvorkehrungen in der Textilindustrie, Wasserverschmutzung beim Bergbau, Unterdrückung von gewerkschaftlicher Organisierung in der Autofabrik? Die auftraggebenden Unternehmen wissen von nichts – und selbst wenn, dann sind sie jedenfalls rechtlich nicht verantwortlich. Gleichzeitig profitieren sie von der Herstellung ihrer Güter in global weit verzweigten Produktionsnetzwerken, in denen niedrige Arbeits-, Umwelt- und Sozialstandards ihnen »Wettbewerbsvorteile« bieten.
»Wenn erneut eine Textilfabrik in Bangladesch einstürzen oder in Pakistan verbrennen sollte, könnten die Überlebenden die europäischen Firmen, die in diesen Fabriken produzieren lassen, zur Verantwortung ziehen.«
Lieferkettengesetze setzen diesem »Wettlauf nach unten« kein Ende. Aber sie halten erstmals rechtlich bindend fest, dass transnationale Unternehmen sehr wohl eine Verantwortung für das haben, was auf der anderen Seite des Globus bei der Herstellung von Zwischengütern für ihre Endprodukte passiert. Im Gegensatz zu freiwilligen Maßnahmen von Unternehmen (Stichwort: Corporate Social Responsibility) oder Zertifizierungen durch sogenannte Multi-Stakeholder-Initiativen (Stichwort: Fair Trade) handelt es sich bei dem deutschen LkSG sowie der nun vorerst gescheiterten EU-Lieferkettenrichtlinie um Vorgaben des Gesetzgebers, bei dessen Missachtung Konsequenzen drohen.
Tatsächlich sah die EU-Richtlinie bei Verstößen nicht nur Bußgelder von bis zu 5 Prozent des Unternehmensumsatzes vor, sondern hätte es Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen auch ermöglicht, Unternehmen vor Gerichten in der EU auf Schadensersatz zu verklagen. Wenn erneut eine Textilfabrik in Bangladesch einstürzen oder in Pakistan verbrennen sollte, könnten die Überlebenden die europäischen Firmen, die in diesen Fabriken produzieren lassen, zur Verantwortung ziehen. Auch Prozesskostenhilfen waren hierfür vorgesehen.
Diese zivilrechtliche Haftung von Unternehmen ist einer der zentralen Punkte, in dem die EU-Richtlinie über das deutsche LkSG hinausgehen würde, das 2021 noch unter der Großen Koalition verabschiedet wurde. Doch es ist wohl eben dieses europäische Ambitionsniveau, dass bei der FDP und den großen Industrieverbänden nun auf noch mehr Widerstand stößt als das ohnehin schon ungeliebte LkSG.
In dem Präsidiumsbeschluss vom 15. Januar begründet die FDP ihre Ablehnung der EU-Lieferkettenrichtlinie damit, dass diese »unverhältnismäßige bürokratische Hürden und Rechtsunsicherheiten schaffen und erheblich über das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz hinausgehen [würde ...], da sie neben Bußgeldern auch erstmals explizite Haftungsregelungen einführen, umweltrechtliche Anforderungen erheblich verschärfen und den Verantwortungsbereich der Unternehmen ernstlich ausweiten würde«.
Dass die FDP davon wenig begeistert ist, verwundert nicht. Durchaus erstaunlich ist aber – zumindest für diejenigen, die noch nicht völlig im Zynismus versunken sind –, mit welcher Vehemenz die FDP eine EU-Richtlinie torpediert, deren finaler Aushandlung sie erst einen Monat vorher zugestimmt hatte. Zuvor hatte die FDP ohnehin dafür gesorgt, dass die Position der Bundesregierung im EU-Rat möglichst schwach ausfällt.
In einem Briefing für die Initiative Lieferkettengesetz, ein Bündnis von mehr als 130 zivilgesellschaftlichen Organisationen, analysiert Menschenrechtsreferent Armin Paasch ausführlich, was die FDP durchgesetzt hatte: Beispielsweise beschloss die Bundesregierung auf Druck von FDP-Justizminister Marco Buschmann eine »Weisung«, in der sie Sanktionen für die fehlende Umsetzung von Unternehmens-Klimaplänen strikt ablehnte. Mit dieser Position setzte sich die Bundesregierung in den EU-Verhandlungen durch: Unternehmen sollten zwar einen Klimaplan im Einklang mit dem 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens erstellen, aber die Umsetzung würde letztlich nicht überprüft werden.
Auch die Frage, ob Sorgfaltspflichten ebenfalls für das Ende der Wertschöpfungskette – also den Verkauf beziehungsweise die Nutzung von Produkten – gelte, wurde letztlich negativ entschieden, obwohl das Europäische Parlament einen entsprechenden Anwendungsbereich gefordert hatte. »Ob giftige Pestizide per Flugzeug auf Sojafeldern und Bananenplantagen versprüht werden und die Gesundheit von Arbeiter*innen und Anwohner*innen geschädigt wird, liegt damit außerhalb der Verantwortung von Chemiekonzernen wie Bayer und BASF«, schreibt Paasch. Und fügt hinzu: »Auch hier wurde die Forderung der FDP also übererfüllt.«
In anderen Bereichen wurde die Position der Bundesregierung wirtschaftsliberal von anderen Staaten überholt: So hatte sich die FDP innerhalb der Bundesregierung durchgesetzt, Finanzinvestitionen vom Anwendungsbereich auszunehmen; auf Druck Frankreichs wurden Finanzgeschäfte letztlich jedoch komplett ausgeklammert.
»Unterm Strich«, so schreibt Paasch, »geht die Einigung der EU-Institutionen vom 14. Dezember nicht über die Position der Bundesregierung in den Trilog-Verhandlungen hinaus.« Die letzte Position der Bundesregierung vom 15. November 2023, also kurz vor Abschluss der Verhandlungen, wurde wie die vorherigen auch von Justizminister Buschmann mitgeprägt und mitgetragen. Doch dann kam die plötzliche Kehrtwende.
Mit dem Präsidiumsbeschluss Mitte Januar ist die FDP in den Wahlkampfmodus übergegangen. Die begleitenden Stellungnahmen zur Ablehnung der EU-Lieferkettenrichtlinie erwähnen allesamt die EU-Kommissionspräsidentin: »Kein Unternehmen braucht derzeit neue bürokratische Belastungen von Ursula von der Leyen«, sagt FDP-Vize Johannes Vogel.
Die Europawahl-Spitzenkandidatin Marie-Agnes Strack-Zimmermann setzt noch einen obendrauf: »Der Bürokratismus hat einen Namen und der heißt: von der Leyen.« Und laut FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai würden »die Dinge, die auf der europäischen Ebene auch zentral von Frau von der Leyen angestoßen, debattiert und beschlossen werden, vor allem dem Wirtschaftsstandort Deutschland schaden.« Dabei ist Bürokratieabbau auch für die CDU ein zentrales Thema im nun beginnenden EU-Wahlkampf. Die FDP hat offenbar vor, im Wählerinnenpool der CDU zu fischen.
Wirtschaftsnahe Politikerinnen und Politiker führen nur zu gern eine vorgebliche Sorge um den guten alten deutschen Mittelstand ins Feld, um gegen Unternehmensregulierungen zu kämpfen. Dabei hätte die EU-Richtlinie außerhalb von sogenannten Risikobranchen wie dem Bergbau nur jene Unternehmen betroffen, die mindestens 500 Mitarbeitende haben und einen Mindestumsatz von 150 Millionen Euro im Jahr verzeichnen. Das sind in Deutschland häufig Firmen, die auf hochtechnologische Maschinen- und Anlagenbauteile spezialisiert und dabei oft nach wie vor Weltmarktführer sind.
Auch das Bild der bürokratischen Überforderung, die drohe, wenn plötzlich zehntausende Zulieferer überprüft werden müssten, ist schlichtweg falsch: Die EU-Richtlinie und das LkSG basieren auf einem »risikobasierten Ansatz«, der vorsieht, dass Überprüfungen und entsprechende Berichterstattungen anhand von Risikoanalysen erfolgen. Das heißt: Es muss eben nicht das gesamte Produktionsnetzwerk überprüft werden, sondern einzelne Zulieferer, bei denen es Verdacht auf Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzungen gibt. Darüber hinaus müssen Unternehmen vor allem nachweisen, dass sie sich angemessen bemühen, schwere Missstände anzugehen – nicht aber beweisen, dass sie damit erfolgreich waren.
»Die FDP stellt die Lieferkettenrichtlinie grundsätzlich infrage – und erhört damit die materiellen Interessen der Auto-, Anlagen- und Maschinenbauer, die in den großen Industrieverbänden Deutschlands maßgeblichen Einfluss haben.«
Unternehmen aus anderen Branchen, darunter Aldi Süd, Kik und Tchibo, hatten sich öffentlich für die Richtlinie ausgesprochen – auch, um ein »level playing field« zwischen deutschen und anderen Unternehmen zu schaffen, weil erstere ohnehin schon vom LkSG betroffen sind. Eine EU-weite Regelung würde bedeuten, »dass Wettbewerbsvorteile auf Kosten von Mensch und Umwelt endlich unterbunden werden«, heißt es in der Erklärung. Doch einflussreiche Akteure wie die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) und der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sehen das anders.
So zieht eine im Januar veröffentlichte Umfrage des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) ein Jahr nach Inkrafttreten des LkSG erste Bilanz: »Bürokratischer Aufwand bringt viele Betriebe an den Rand der Verzweiflung«, heißt es im Titel. Um die Vorgaben zu erfüllen, müsse jedes zweite Unternehmen sogar »Leistungen externer Beratungsunternehmen oder Anwaltskanzleien in Anspruch nehmen« – eine Praxis, die Unternehmen wohl nur dann zu teuer erscheint, wenn es nicht darum geht, Steuern sparen oder neue Märkte identifizieren zu wollen.
Dabei verkennt nicht einmal der BDI, dass es mit Menschenrechtsverletzungen und Umweltverschmutzung einhergeht, wenn die Herstellung in globale Produktionsnetzwerke ausgelagert wird. Doch der größte deutsche Industrieverband zieht daraus eine andere Konsequenz: »Die Politik sollte akzeptieren, dass die Einflussmöglichkeiten deutscher Unternehmen jenseits ihrer direkten Vertragspartner begrenzt sind.« Um die Standards in der Lieferkette deutscher Unternehmen zu erhöhen, solle man auf »Entwicklungszusammenarbeit« setzen. So forderte der Verband im Januar: »Das deutsche LkSG und sein geplantes europäisches Pendant sollten deshalb nochmals grundsätzlich infrage gestellt werden.«
Diese grundsätzliche Infragestellung leistet nun die FDP – und erhört damit die materiellen Interessen der Auto-, Anlagen- und Maschinenbauer, die in den großen Industrieverbänden Deutschlands maßgeblichen Einfluss haben. Die FDP inszeniert sich dabei als Retterin des »Wirtschaftsstandorts Deutschland«, den man vor der Brüsseler Bürokratie schützen müsse. Und die Unternehmen danken entsprechend: »Die deutsche Industrie ist erleichtert«, sagte BDI-Präsident Siegfried Russwurm der Tagesschau, nachdem die Enthaltung der Bundesregierung bei der EU-Lieferkettenrichtlinie bekannt wurde.
Mit der kurzfristigen Blockade der Lieferketten-Richtlinie ist die FDP nicht nur in den Wahlkampfmodus übergegangen, sondern brüskiert erneut die Kolleginnen und Kollegen in der Ampelkoalition. Es ist fast schon peinlich mitanzusehen, wie Außenministerin Annalena Baerbock und Umweltministerin Steffi Lemke von den Grünen oder Arbeitsminister Hubertus Heil von der SPD in letzter Minute versuchen, mit öffentlichen Aussagen und konkreten Verhandlungsangeboten ihren Koalitionspartner umzustimmen, der wieder einmal alles über den Haufen geworfen hat.
Doch der Schaden ist auch an anderer Stelle enorm: Dank der FDP wird allen in der EU erneut vor Augen geführt, was für eine machtvolle Sonderrolle Deutschland innehat. Denn dass sich ein Mitgliedsstaat nach erfolgreichem Abschluss der Trilog-Verhandlungen überhaupt traut, plötzlich eine andere Position einzunehmen und im Europäischen Rat anders als angekündigt abzustimmen, kam in den letzten Jahren nur einmal vor: Als die FDP plötzlich das de facto Verbrenner-Aus in der EU blockierte.
Entsprechend lauten nun die Schlagzeilen in internationalen Zeitungen wie der Financial Times: »EU partners lose trust in Berlin after policy U-turns«, der Vertrauensverlust aufgrund Deutschlands Hin und Her sei groß. Noch dazu mache die EU-Kommission jetzt »ungewöhnlich weitgehende Zugeständnisse« an die FDP, damit diese doch noch zustimme, wie es selbst die FAZ formuliert.
Doch die FDP hat kein Interesse daran, dass die Richtlinie überhaupt kommt: Laut Table.media hat FDP-Chef Christian Lindner gar einen Deal mit Italien gemacht, dass man gegenseitig für Sperrminoritäten im EU-Rat sorge, um nicht nur die EU-Lieferkettenrichtlinie, sondern auch die EU-Verpackungsverordnung zu blockieren. Eine derartige Absprache – die die jeweils zuständigen Ministerien sowie die Koalitionspartner in der Bundesregierung übergeht – ist eigentlich ein Skandal. Doch dieser bleibt bisher aus. So stehen die Zeichen weiter auf Dysfunktionalität – in der Bundesregierung, in der EU sowie der politischen Öffentlichkeit.
Merle Groneweg schreibt über den globalen Kapitalismus. Zu ihren Schwerpunkten gehören Rohstoff- und Handelspolitik ebenso wie Konflikte in den China-USA-Beziehungen. Sie arbeitet für kritische Medien und NGOs, darunter PowerShift e.V.