15. April 2022
Der Krieg in der Ukraine hat große Teile der Landwirtschaft lahmgelegt. Das kann weit über Europa hinaus verheerende Folgen haben.
»Ich wurde angewiesen, die ukrainische Armee zu versorgen. Aber die Lage ist schrecklich. Die Hälfte meiner Mitarbeiter sitzt im Keller. Es ist schwierig, LKWs und Fahrer zu finden, überall blockieren Posten den Weg.« An eine gewöhnliche Aussaat sei während des Krieges nicht zu denken, sagt Alex Lissitsa, CEO des ukrainischen Landwirtschaftsunternehmens IMC. Er gehe davon aus, dass es zu einer Hungersnot kommen werde.
Dabei gehören die ukrainischen Böden zu den fruchtbarsten des Planeten. Die Halme vieler Getreidesorten profitieren von den nährstoffreichen Sedimenten der Region. 11,5 Prozent der weltweiten Weizenproduktion gingen 2021 auf die Kappe des Schwarzmeerstaates. Doch wo sonst im Juli das Röhren der Mähdrescher ertönt, reißen heute russische Panzer die ukrainische Schwarzerde auf.
Seit Wladimir Putin 2014 die Krim annektierte und Separatisten im Donbass zu unterstützen begann, wird um das Staatsgebiet der Ukraine Krieg geführt. Zur gleichen Zeit findet ein weniger sichtbares Ringen um die ukrainischen Böden statt. Der Ökonom Frédéric Mousseau befindet, dass der Kampf um die Kontrolle des ukrainischen Landwirtschaftssektors »ein ausschlaggebender Faktor im größten Ost-West-Konflikt seit dem Kalten Krieg« sei.
Ebenfalls 2014, kurz nach den Maidan-Protesten, der Flucht des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch und der Ernennung einer Übergangsregierung, machte sich eine Delegation des Internationalen Währungsfonds (IWF) nach Kiew auf. Bald darauf war ein Finanzpaket in Höhe von etwas mehr als 17 Milliarden Dollar geschnürt. Janukowytsch hatte sich der finanziellen Unterstützung und damit einhergehenden Abhängigkeit vom IWF verwehrt. Seine Nachfolger brachen mit dieser Abwehrhaltung. In der Folge belegte die Ukraine 2020 Platz drei der größten Schuldnerländer des IWF.
Unter dem Reformdruck des IWF hob zuletzt die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj im Mai 2020 das Moratorium zum Verkauf von Land an Privatunternehmen und Personen auf, obwohl sich laut einer Umfrage rund 73 Prozent der Bevölkerung gegen die Aufhebung und 81 Prozent generell gegen den Verkauf von Land an ausländische Unternehmen aussprachen. Dass die vom IWF und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung gestützte Investitionsoffensive einer »Übernahme der ukrainischen Landwirtschaft durch westliche Konzerne« gleichkäme, mahnte Mousseau schon 2014 an.
Normalerweise findet das Gros des ukrainischen Weizens seinen Weg nach Nordafrika oder in den Nahen Osten. Welche Gefahr eine Unterbrechung dieser Lieferketten birgt, zeigte die Lebensmittelpreiskrise von 2007/08. Der Weizenpreis verdoppelte sich damals innerhalb eines Jahres und erreichte Spitzenwerte von über 300 Euro pro Tonne. Im Zuge dessen führte die Ukraine Preiskontrollen ein und begrenzte ihren Export, um Angebot und Kosten im Inland zu stabilisieren. Das verschärfte jedoch die Nahrungsmittelknappheit in einigen Regionen der Welt noch weiter. Hungersnöte und Proteste in vielen Staaten des Globalen Südens waren die Folge. Auch deshalb erntete die protektionistische Reaktion der ukrainischen Regierung viel Kritik.
Seit Russlands Angriff auf die Ukraine sind die Weizenpreise erneut drastisch angestiegen – diesmal sogar über die 400-Euro-Marke. Die SWIFT-Sanktionen erschweren zudem den russischen Weizenexport. Es geht die Angst um, der Preis pro Tonne könne selbst noch die 500 Euro übersteigen. Das kann für die arme Bevölkerung in Ländern, die auf Getreideimporte angewiesen sind, drastische Konsequenzen haben. Als Alternative zu protektionistischer Wirtschaftspolitik hat die Ökonomin Isabella Weber die Einrichtung internationaler Pufferlager für Grundnahrungsmittel vorgeschlagen. Diese könnten unter anderem Weizen in Zeiten des Überflusses günstig ankaufen, um sie im Falle von Knappheit wiederum zu niedrigen Preisen dorthin zu verkaufen, wo die Not am größten ist, und so die Grundversorgung sicherstellen.
Eine Computersimulation der NASA und des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung zeigt, dass der Ertrag von Mais und anderen Getreidesorten aufgrund des Klimawandels dramatisch schrumpfen könnte. Die Weizenerträge jedoch steigen laut Studie in den kommenden Jahrzehnten um bis zu 17 Prozent. Auch in Russland und der Ukraine waren für diesen Sommer Rekordernten prognostiziert worden. Zumindest in der Ukraine hat der Krieg diese Erwartungen zunichte gemacht.