08. März 2021
Das Ziel des Feminismus ist das gute Leben für alle – unabhängig von Geschlecht, Herkunft oder Klasse. Im Kapitalismus wird das nicht zu machen sein.
Das Problem sind nicht zu wenige Girlbosse, sondern zu viele Frauen in Armut.
Der folgende Text ist eine gekürzte Version eines Vortrags, den Nicole Aschoff, Redaktionsmitglied der amerikanischen Ausgabe von JACOBIN, bei einer Debatte im Cato Institut, Washinton DC, gehalten hat. Das Thema war: »Hilft oder schadet der Kapitalismus den Frauen?«
Die Frage, ob der Kapitalismus für die Frauen nun gut oder schlecht ist, wird zwar von Feministinnen und Nicht-Feministinnen seit langem diskutiert, doch das plötzlich gestiegene Interesse an dieser Frage kommt keineswegs aus dem Nichts. Welche Faktoren sind dafür verantwortlich, dass diese Fragestellung jetzt so einen Auftrieb bekommt?
Zum einen steckt der Kapitalismus in der Krise. Seit über einem Jahrzehnt wird mit trillionenschweren Rettungsaktionen der Zentralbanken, quantitativer Lockerung und der Normalisierung von Niedrig-Zinsraten versucht, Investoren davon abzuhalten, sich kollektiv von der Klippe zu stürzen.
Trotz dieser Anreize stagnieren die Gehälter und das Wirtschaftswachstum. Die Unternehmen zocken eher am Aktienmarkt als konventionelle Investitionen zu tätigen. Zur gleichen Zeit bröckelt die Legitimation des Neoliberalismus, dessen Normen, Vorstellungen und Politiken den Status quo der letzten vierzig Jahre geprägt haben. Regierungen kämpfen gegen massive Vertrauensverluste, der Glaube an den Kapitalismus schwindet und der Populismus im linken wie im rechten Spektrum gewinnt an Einfluss.
Ein zweiter Faktor ist das Erstarken des Feminismus im letzten Jahrzehnt, in den USA und weltweit. Der Feminismus umfasst eine Vielzahl an Perspektiven – sie alle folgen dem Anspruch, das bestmögliche Programm vorzulegen und sind, nicht zuletzt im Zuge der MeToo-Bewegung, fester Bestandteil des öffentlichen Diskurses geworden.
Die Niederlage von Hillary Clinton hat das vorherrschende Modell eines neoliberalen Feminismus in Frage gestellt – also die Vorstellung, dass sich feministische Ziele am besten durch die Erfolgsgeschichten einzelner Frauen in Machtpositionen erreichen lassen. Insbesondere jüngere Frauen machen sich für einen anderen Feminismus stark, bei dem oftmals ein antikapitalistischer Unterton mitschwingt. Umfragen zufolge würde etwa die Hälfte aller jungen Erwachsenen den Sozialismus dem Kapitalismus vorziehen.
Diese Krise, die mehr Wandel als Zusammenbruch ist, sollten wir nutzen, um nach vorn zu blicken und zu fragen, wie Feministinnen ihre Positionen und Kämpfe neu ordnen könnten.
Ich sage, der Blick nach vorn muss wohlüberlegt sein. Es ist jetzt an der Zeit, sowohl die hart erkämpften Errungenschaften zu bewerten als auch Strategien zu entwickeln, die es allen Frauen ermöglichen, an ihnen teilzuhaben.
Aber eines vorweg: Natürlich spreche ich weder für alle Frauen, noch für alle linken Frauen, alle Feministinnen, Sozialistinnen oder sozialistischen Feministinnen. Schließlich gibt es nicht die eine feministische Kapitalismuskritik.
Chelsea Follett – unsere Moderatorin, eine Politikwissenschaftlerin des Cato Instituts und leitende Redakteurin der Human Progress – war so freundlich, uns einige Diskussionsfragen zur Orientierung bereitzustellen.
Diese Frage lässt sich schwer beantworten, nicht zuletzt, weil ich es merkwürdig finde, eine Bilanz zu ziehen, die die menschlichen Auswirkungen von Jahrhunderten des Kapitalismus zu bemessen versucht. Überwiegen jüngste Entwicklungen wie eine höhere Lebenserwartung, Bildung und Unabhängigkeit oder die massenhafte Ermordung Indigener Frauen und Kinder, die verzweifelten Leben der gefangenen und gefolterten Versklavten sowie der verfrühte Tod all jener Frauen, die ihr Leben lang in Sweatshops schuften und sich durch die Fabrikarbeit kaputtgearbeitet haben?
Die Bilanz ist also alles andere als eindeutig. Doch wenn wir sie ziehen wollen, müssen wir die optimistischen Behauptungen über den Erfolg des globalen Kapitalismus mit der scharfen Realität konfrontieren, dass mehr als zwei Milliarden Menschen an Unterernährung leiden, dass die unteren 60 Prozent der Menschen weltweit nicht an den Erträgen aus dem globalen Wachstum teilhaben und dass die absolute Zahl an Menschen, die in Armut leben, in den vergangen Jahrzehnten um eine Milliarde angestiegen ist.
Wie Marx bin auch ich der Meinung, dass der Kapitalismus besser ist als der Feudalismus. Es lassen sich auch Daten finden, die einen gesamtheitlichen Fortschritt belegen, beispielsweise die Millenniums-Entwicklungsziele der UN für die Lebenserwartung, Sterblichkeit und Bildung. Frauen aus der Mittel- und Oberklasse in den meisten Teilen der Welt haben Möglichkeiten und Rechte, um die sie ihre Schwestern ein Jahrhundert zuvor beneidet hätten.
Doch wenn wir diese Errungenschaften feiern – und feiern sollten wir sie –, dann sollten wir keine vorschnellen kausalen Schlüsse ziehen. Während einige dieser Errungenschaften der Entwicklung und Rationalisierung zugeschrieben werden können, die mit dem Kapitalismus einhergehen, sind viele das Ergebnis zäher politischer Kämpfe – und eben nicht dem Kapitalismus geschuldet.
Gesetze und Normen gegen Diskriminierung, das Recht, kein Eigentum des eigenen Ehemanns zu sein, das Wahlrecht, das Recht, sich selbst und die eigenen Kinder vor häuslicher Gewalt zu schützen – diese und so viele andere Rechte wurden nicht von oben durch die Handelskammer erlassen. Sie waren der Verdienst sozialer Bewegungen, oftmals angeführt von Sozialistinnen und Feministinnen, die mit allen Mitteln gekämpft haben und auf dem Weg viele Niederlagen erleiden mussten.
An dieser Stelle es wichtig, den Blick auf die Zukunft zu richten. Selbst wenn wir bekräftigen, dass der Kapitalismus bisher ein Reingewinn für die Frauen war – was ich nicht glaube –, ist es jetzt umso wichtiger zu fragen, ob der Kapitalismus in Zukunft zu solchen Errungenschaften führen wird.
Im Feminismus geht es nicht nur darum, geschlechtsspezifische Diskriminierungsmuster zu beseitigen. Es geht darum, für Gleichheit und ein gutes Leben für alle zu kämpfen – unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Bildung, Einkommen, Religion oder Wohnort. Das ist das Großartige am Feminismus und es ist der Grund, warum ich Feministin bin.
In anderen Worten: Wir können diese Ziele im Kapitalismus nicht erreichen.
Das zeigt sich etwa am Beispiel des Klimawandels. Nichts zeigt das Scheitern des sogenannten freien Marktes besser als die sich anbahnende Klimakatastrophe. Während der Kapitalismus für Individuen rational erscheinen mag, ist er auf einer systematischen Ebene völlig irrational. Das rücksichtslose Streben nach Profiten durch Eliten und die Regierungen hat das kollektive Problem der Erderwärmung erst erschaffen, ganz zu schweigen von der Ressourcenerschöpfung und Zerstörung ganzer Ökosysteme. Doch statt sich diesem Problem geradewegs zu stellen – einem Problem, dessen wir uns bereits seit Jahrzehnten bewusst sind –, haben Eliten und Unternehmen in den letzten vierzig Jahren auf die heilende Kraft der freien Märkte gepocht. Sie haben behauptet, dass Märkte Teil einer spontanen, natürlichen Ordnung seien, dass rationale Individuen mit perfekten Informationen optimale Ergebnisse kreieren würden, dass externe Effekte trivial seien.
Wir wissen, was getan werden muss. Doch bisher haben uns Profitstreben und traditionelle Machtgefüge davon abgehalten eine Wirtschaft aufzubauen, die nicht auf fossilen Brennstoffen basiert, sondern nachhaltige Lösungen bietet.
Nur ein kollektives Projekt, das auf Solidarität und Kooperation basiert und unseren Planeten vor ausbeuterischen Gesellschaftsformen schützt, wird uns die reelle Chance geben, diesen Planet als bewohnbar zu erhalten.
Ist der Kapitalismus ausbeuterisch? In der Volkswirtschaft beschreibt Ausbeutung eine Beziehung, in der eine Person ihre Arbeitskraft an eine andere Person verkauft, die die Produktionsmittel besitzt und daraus Profit schlägt, indem sie der arbeitenden Person einen Lohn zahlt, der unter dem Wert der Sache liegt, die sie produziert. Also ja, die meisten Menschen, einschließlich Frauen, werden in dem Sinne ausgebeutet, als dass sie für einen Lohn arbeiten und ohne diese Lohnarbeit nicht in der Lage wären, Essen zu kaufen oder die Miete zu bezahlen.
Ist dies eine unterdrückende Ausbeutung, führt sie also notwendigerweise dazu, dass die arbeitende Person inhuman oder ungerecht behandelt wird? Nun ja, es kommt darauf an. In den USA beispielsweise werden nicht alle Frauen unterdrückt. Es gibt natürlich Feministinnen und Sozialistinnen, die bei dieser Einschätzung aufschreien würden. Trotzdem denke ich nicht, dass gut bezahlte weiße Frauen, die in ihrem Arbeitsleben Respekt, Sicherheit und Unabhängigkeit erfahren, unterdrückt werden – oder zumindest nicht genug, als dass mich das dazu bewegen würde, dagegen auf die Straße zu gehen.
Das Problem ist, dass dieses Szenario nicht die Situation der großen Mehrheit aller Frauen repräsentiert, ob in den USA oder weltweit. Eine Frau, die Vollzeit für einen Mindestlohn arbeitet und es sich nicht leisten kann, zum Arzt zu gehen oder ihre Miete zu zahlen, wird unterdrückt. Eine Hochschulabsolventin, die in den Schulden ihres Studienkredits versinkt und in einem Tech-Start-Up, das mit Freibier und Tischfußball im Pausenraum punkten will, eine 60-Stunden-Woche schiebt, wird unterdrückt.
Diese Unterdrückung ist zu einem gehörigen Anteil unmittelbar mit dem Patriarchat verbunden, oder genauer mit Sexismus, da wir formell in einer patriarchalen Gesellschaft leben. Das letzte Wort zur Frage, ob der Kapitalismus an sich sexistisch sei, ist noch nicht gesprochen. Und Sexismus existiert natürlich auch abseits des Kapitalismus. Aber der Kapitalismus bildet den Rahmen für diejenigen Normen, Prioritäten, Strukturen und Aktivitäten, die sich in unserer Gesellschaft über Zeit und Raum hinweg entwickeln.
Historisch betrachtet waren Sexismus und Rassismus ein Kernelement der Wertschöpfung im Kapitalismus. Sexismus lässt die unbezahlte Arbeit der Frauen im Haushalt, die für die Gesellschaft essenziell ist, als natürlich geleisteten »Liebesdienst« erscheinen. Sexismus und Rassismus sind außerdem ein Werkzeug des Unternehmertums, um Arbeiterinnen zu spalten und dadurch Forderungen nach besseren Löhnen und Zusatzleistungen zu verhindern oder die gemeinsame gewerkschaftliche Organisierung zu blockieren.
Um dieser Frage gerecht zu werden, müssen wir eine nuanciertere Diskussion führen. Wie ich bereits gesagt habe, hat sich die Lage von Frauen im Kapitalismus gebessert. Auch wenn dieser Fortschritt nicht der Verdienst des Kapitalismus war – sondern vielmehr eine Errungenschaft der Frauenbewegung, der Bürgerrechtsbewegung, der Arbeiterinnenbewegung und der Umweltbewegung –, so ist es immer noch so, dass Märkte Frauen stärken können.
Geld bedeutet Macht. Wenn amerikanische Frauen heutzutage das Glück haben, in einen reichen Haushalt hineingeboren zu werden oder mit Talenten und Fähigkeiten ausgestattet sind, durch die sie einen gut bezahlten, erfüllenden Job finden können, dann bestärkt sie das. Mehr noch, sie werden in der Lage sein, auch andere Frauen und nachfolgende Generationen zu stärken.
Doch die Beobachtung, dass Frauen im Kapitalismus durchaus Macht haben können, impliziert nicht, dass die Weichen für die Ziele des Feminismus bereits gestellt wurden. Der Reichtum der Wenigen an der Spitze ist kein Zufall. Es ist auch nicht so, als würde darunter eine wachsende Mittelschicht in relativem Wohlstand leben. Die marktfreundlichen Reformen der vergangenen Jahrzehnte haben eine Handvoll Menschen (hauptsächlich Männer) unvorstellbar reich gemacht, während die große Mehrheit um ihre Existenz fürchten muss.
Die unglaublichen technologischen und wissenschaftlichen Fortschritte der letzten vierzig Jahre hätten genutzt werden können, um die Armut drastisch zu reduzieren, das Gesundheitswesen und die Nachhaltigkeit unserer Produktionsprozesse zu verbessern und Wasserversorgung, nahrhafte Lebensmittel und adäquate Wohnverhältnisse bereitzustellen. Das sind Dinge, die alle Menschen wertschätzen. Und es sind auch Dinge, die die Frauen stärken würden, die unter dem Mangel dieser Dinge in überdurchschnittlichem Maß leiden.
Wir haben die Mittel, um die Lebensqualität der Frauen weltweit – und eigentlich aller Menschen – erheblich zu verbessern. Doch wir nutzen unsere Ressourcen, unser Wissen und unsere Energie nicht, um genau das zu erreichen. Und warum ist das so? Weil der Kapitalismus nicht das Ziel hat, die Welt zu verbessern – sondern Profite zu machen.
Nicole Aschoff ist Redakteurin bei der US-Ausgabe von Jacobin. Sie ist Autorin von »The Smartphone Society: Technology, Power, and Resistance in the New Gilded Age« und »The New Prophets of Capital«.