30. Oktober 2025
Die Empörung der liberalen Öffentlichkeit über Friedrich Merz’ »Stadtbild«-Aussage dient lediglich der Selbstvergewisserung: Sie wahrt das Bild einer Gesellschaft, die sich für aufgeklärt und feministisch hält und die eigene Gewalt lieber ausblendet.

Tausende demonstrieren vor der CDU-Zentrale in Berlin nach den umstrittenen Äußerungen von Friedrich Merz, 21. Oktober 2025.
Bei einem öffentlichen Termin in Brandenburg erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz, die Bundesregierung habe in der Migrationspolitik bereits »viel erreicht«. Als Beleg führte er an, die Zahl der neuen Asylanträge sei zwischen August 2024 und August 2025 um 60 Prozent gesunken. Anschließend ergänzte er einen Satz, der den Rahmen statistischer Fakten verließ: »Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.«
Diese Bemerkung löste umgehend eine Welle der Empörung aus. Zahlreiche Journalistinnen, Politiker und zivilgesellschaftliche Akteure warfen Merz vor, Migration pauschal als »Problem« zu markieren und rassistische Stereotype zu bedienen, indem er das »Stadtbild« als Indikator gesellschaftlicher Störung inszenierte. Als Merz kurz darauf seine Worte bekräftigte und sagte: »Fragen Sie Ihre Töchter – alle bestätigen, dass das ein Problem ist«, verschob er die Debatte zusätzlich auf eine geschlechterpolitische Ebene. Mit dem Verweis auf die Sicherheit »unserer Töchter« stellte er Geschlecht in den Dienst nationaler Ordnungspolitik – ein rhetorischer Reflex, der weit über den Einzelfall hinausweist.
Der Aufschrei über Merz’ Aussage lässt sich nicht allein als moralische Reaktion auf Rassismus erklären. Er offenbart vielmehr ein tieferliegendes Spannungsverhältnis innerhalb der deutschen Gesellschaft: das Bedürfnis, sich selbst als moralisch aufgeklärte, antifaschistische und feministisch sensibilisierte Nation zu inszenieren – und jene Sprache zu verurteilen, die allzu offen ausspricht, was im kollektiven Unterbewusstsein längst präsent ist.
Die Vehemenz der Reaktion verweist auf eine affektive Ökonomie, in der Empörung zur zentralen Währung moralischer Zugehörigkeit geworden ist. Wer sich empört, zeigt Haltung, markiert sich als Teil der »zivilisierten Mitte« und grenzt sich symbolisch von jenen ab, die als »rückständig« oder »reaktionär« gelten. In dieser Logik fungiert Empörung nicht als Anstoß zur Reflexion, sondern als performativer Akt der Reinwaschung und stellt auf diese Weise moralische Differenz her, ohne jedoch politische Konsequenzen zu erzeugen.
Der Verweis auf »unsere Töchter« macht sichtbar, wie eng Vorstellungen von Geschlecht, Sicherheit und nationaler Identität miteinander verwoben sind. In dieser Formel verdichtet sich ein ganzer Komplex gesellschaftlicher Ängste: die Angst vor Kontrollverlust, vor sozialer Entgrenzung, vor dem Eindringen des Fremden in den Körper der Nation. Merz’ Worte rufen deshalb nicht nur eine politische, sondern eine symbolische Ordnung auf – jene des »geschützten Eigenen« gegenüber dem »bedrohlichen Anderen«. Gerade darin liegt die Sprengkraft seines Satzes: Er durchbricht die Rhetorik der liberalen Selbstbeschreibung, indem er das sagt, was im Hintergrund vieler Debatten mitschwingt.
»Dass Merz’ Rhetorik Empörung hervorrief, während andere Formen desselben Denkens kaum kritisch hinterfragt wurden, verweist auf eine tiefere Asymmetrie in der deutschen und westlichen Öffentlichkeit.«
Die Empörung richtete sich daher weniger gegen den Inhalt als vielmehr gegen die Deutlichkeit der Form. Merz hat die verdrängte Struktur des kollektiven Affekts ausgesprochen – und damit den liberalen Diskurs gezwungen, sich selbst im Spiegel zu betrachten. In dieser Dynamik wird Empörung zum moralischen Selbstreinigungsritual. Sie erlaubt der liberalen Öffentlichkeit, sich ihrer eigenen Unschuld zu versichern, indem sie den Skandal auf ein Individuum projiziert. Indem Merz als moralischer Sündenbock markiert wird, kann die Gesellschaft die Gewaltförmigkeit ihrer eigenen Ordnung unberührt lassen.
So wird der Skandal zum Ventil, das die Spannung zwischen Selbstbild und Realität entlädt. Er stabilisiert, was er zu kritisieren vorgibt. Der öffentliche Aufschrei wird zur affirmativen Geste eines liberalen Moralismus, der seine eigene Komplizenschaft mit Grenzregime, Abschiebepolitik und Sicherheitsdiskursen nicht anerkennt. Der Skandal bestätigt das Selbstbild eines »aufgeklärten Deutschlands«, das Rassismus und Sexismus verurteilt, ohne ihre strukturelle Verankerung in den Institutionen des Staates und der Gesellschaft zu thematisieren. Er verschleiert, dass dieselbe Öffentlichkeit eine Migrationspolitik akzeptiert, die auf Abschottung, Entrechtung und Gewalt basiert; dass Frauen an Grenzen misshandelt, in Abschiebehaft sexualisiert oder in Sammelunterkünften erniedrigt werden, ohne dass dies einen vergleichbaren moralischen Aufschrei auslöst.
Die Empörung entzündet sich letztlich an der Sprache, nicht jedoch an der Struktur. Sie reagiert auf die Formulierung, nicht auf die Form der Macht, aus der sie hervorgeht. So wird Sprache zum Ersatzschauplatz, auf dem die Gesellschaft ihre moralische Integrität inszeniert, während sie die materiellen Bedingungen des Ausschlusses unangetastet lässt.
Dass Merz’ Rhetorik Empörung hervorrief, während andere Formen desselben Denkens kaum kritisch hinterfragt wurden, verweist auf eine tiefere Asymmetrie in der deutschen und westlichen Öffentlichkeit. Denn auch progressive oder ausdrücklich als feministisch bezeichnete Politiken reproduzieren mitunter dieselben Grenzziehungen – so etwa die von Annalena Baerbock vertretene »feministische Außenpolitik«, die sich als eine auf Gleichberechtigung, Inklusion und Menschenrechten beruhende Politik verstand. Ihr erklärtes Ziel war es, Frauen ins Zentrum außenpolitischer Entscheidungsprozesse zu rücken – eine symbolisch und normativ bedeutsame Verschiebung in einem Feld, das traditionell von sicherheits- und geopolitischer Rationalität geprägt war.
Doch in der Umsetzung zeigte sich ein Spannungsverhältnis zwischen normativem Anspruch und realpolitischer Praxis. Baerbocks Ansatz blieb vielfach selektiv. Feministische Prinzipien wurden vor allem dort betont, wo sie kompatibel mit bestehenden geopolitischen Interessen waren – etwa in der Kritik an den patriarchalen Strukturen autoritärer Regime wie im Iran oder in Afghanistan. Dort, wo dieselben Prinzipien jedoch eine selbstkritische Reflexion deutscher Außenpolitik erfordert hätten – etwa angesichts von Waffenexporten nach Israel –, blieb die feministische Rhetorik weitgehend stumm.
Gerade diese Politikfelder berühren jedoch zentrale feministische Fragen: Wer erfährt Schutz, wessen Sicherheit wird priorisiert, und wessen Leid bleibt unsichtbar? In Gaza hat die Zerstörung zahlreicher Krankenhäuser, darunter Einrichtungen der reproduktiven Gesundheitsversorgung, Frauen und Mädchen besonders hart getroffen. 50.000 Schwangere mussten ohne medizinische Betreuung gebären, viele leiden unter Mangelernährung, Dehydrierung und fehlenden Hygieneartikeln. Die UN-Sonderberichterstatterin über Gewalt gegen Frauen und Mädchen, deren Ursachen und Folgen, Reem Alsalem, sprach in diesem Zusammenhang von einem »Femi-Genozid«.
»Die Aufregung über das Wort ›Stadtbild‹ wahrt das Bild einer Gesellschaft, die sich für aufgeklärt, human und feministisch hält – und gerade dadurch ihre eigenen Machtverhältnisse unsichtbar macht.«
In dieser Verschiebung wird sichtbar, was die Soziologin Sara Farris als Femonationalismus bezeichnet hat – die Instrumentalisierung feministischer Sprache im Dienst nationalistischer oder neoimperialer Projekte. Begriffe wie »Schutz«, »Befreiung« oder »Gleichberechtigung« fungieren darin als moralische Codes, die westliche Hegemonie affektiv aufladen und naturalisieren. Feminismus wird zur zivilisatorischen Währung: ein moralisches Kapital, das den Westen als aufgeklärtes Subjekt positioniert, während die »anderen« Kulturen als defizitär erscheinen.
In dieser Verknüpfung von Feminismus und Macht wird eine tieferliegende Struktur sichtbar – eine politische Theologie des Liberalismus. In modernen Demokratien werden politische Ordnungen über moralische Narrative der Reinheit, des Schutzes und der Erlösung legitimiert. Der Femonationalismus folgt genau dieser Logik. Der Westen erscheint als moralische Instanz, die die Welt von der »Sünde« patriarchaler Unterdrückung erlösen soll. Feministische Außenpolitik wird so zu einem säkularisierten Heilsversprechen – einer Form moralischer Souveränität, die über globale Normen und Sanktionen verfügt.
Merz und Baerbock repräsentieren zwei Seiten derselben Ordnung. Merz’ Schutzrhetorik stellt die deutsche Nation als moralisches Subjekt dar, das seine Frauen vor dem »Fremden« bewahren muss. Baerbocks feministische Außenpolitik überträgt dieses Muster auf den Universalismus: Nicht mehr die Nation, sondern die »Wertegemeinschaft« wird zum erlösenden Subjekt, das andere Kulturen von ihrer patriarchalen Dunkelheit befreien soll. Beide Diskurse operieren mit der gleichen Heilsstruktur von Schutz, Reinheit und Erlösung – nur in unterschiedlicher Sprache.
Warum also wird Merz skandalisiert, Baerbock hingegen kaum? Der Unterschied liegt nicht in der Struktur, sondern im moralischen Stil. Merz spricht offen in der Sprache des Nationalen, Baerbock in der des Humanitären. Merz bedroht das liberale Selbstbild, Baerbock bestätigt es. Der eine gilt als rückständig, die andere als moralisch fortschrittlich, obwohl beide Diskurse dasselbe Verhältnis von Macht und Moral reproduzieren: die Sakralisierung westlicher Werte.
In der liberalen Öffentlichkeit entscheidet nicht der Inhalt, sondern die Form der Artikulation darüber, ob eine Aussage als anstößig oder als legitim gilt. Merz’ Worte sind roh, unvermittelt, zu direkt; sie zeigen die Gewalt der Ordnung in ihrer nackten Gestalt. Baerbocks Worte hingegen sind eingebettet in eine Ästhetik des Guten; sie kleiden dieselbe Logik in die Sprache von Empathie, Schutz und universaler Moral. Die Differenz liegt also nicht im Denken, sondern im Ton.
Diese Ästhetisierung der Moral erzeugt eine neue Form der Immunität: Wer im Namen der Menschenrechte spricht, kann kaum als Träger von Gewalt erscheinen. Die humanitäre Sprache neutralisiert den üblen Beigeschmack der Macht, indem sie sie in das Vokabular des Mitgefühls übersetzt. Die mediale Öffentlichkeit wirkt in diesem Prozess wie ein moralischer Filter. Sie reguliert nicht, was gesagt wird, sondern wie es sagbar bleibt. Femonationalistische Narrative werden verurteilt, wenn sie in rechter Sprache auftreten, und übersehen, wenn sie in feministischer Rhetorik erscheinen. Die Empörung trennt zwischen »guter« und »schlechter« Macht, zwischen moralisch akzeptabler und unangemessener Gewalt.
Der Skandal entsteht dort, wo die liberale Ordnung sich selbst erkennt und ihr eigenes Spiegelbild nicht erträgt. Merz’ Sprache entlarvt den Kern einer Ordnung, die sich selbst nur in moralisch sublimierter Form ertragen kann. Die Aufregung über das Wort »Stadtbild« wahrt das Bild einer Gesellschaft, die sich für aufgeklärt, human und feministisch hält – und gerade dadurch ihre eigenen Machtverhältnisse unsichtbar macht.
Damit verschiebt sich die politische Debatte von der Analyse der Macht zur Bewertung der Moral. Der Skandal um Merz zeigt daher weniger, dass es Grenzen des Sagbaren gibt, als wie diese Grenzen produziert werden: nicht durch Zensur, sondern durch Ästhetik – durch den Unterschied zwischen der verrohten und der kultivierten Form desselben Gedankens.
Diese moralische Asymmetrie zeigt sich auch in der feministischen Öffentlichkeit. Gewalt gegen Frauen wird dort vor allem dann skandalisiert, wenn sie sich in ein moralisch anschlussfähiges Narrativ fügt – jenes des »patriarchalen Anderen«. Wenn migrantisierte Männer aus kulturell als »fremd« markierten Kontexten als Täter auftreten, ist die Empörung groß, und das Leiden der betroffenen Frauen erhält öffentliche Sichtbarkeit. Wenn jedoch Gewalt von staatlichen Institutionen ausgeht – etwa durch Polizeigewalt, durch die Entrechtung geflüchteter Frauen an europäischen Grenzen oder durch die Ausbeutung migrantischer Arbeiterinnen – bleibt die Reaktion meist verhalten.
Diese selektive Empfindlichkeit ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer moralischen Ordnung, in der Feminismus häufig zur Bestätigung des politischen Status quo beiträgt. Empörung wird dort laut, wo sie die bestehenden Machtverhältnisse stabilisiert, und bleibt aus, wo sie diese infragestellen müsste. So verwandelt sich feministisches Engagement teilweise in eine Form symbolischer Selbstvergewisserung: Es dient weniger der Veränderung von Strukturen als der Absicherung des liberalen Selbstbilds einer gerechten, humanen und aufgeklärten Gesellschaft.
»Wenn der Feminismus strukturelle Machtverhältnisse ausblendet, bleibt er symbolisch.«
In dieser Logik fungiert die feministische Öffentlichkeit als Teil einer breiteren kulturellen Ökonomie der Moral, die Gewalt hierarchisiert. Sie unterscheidet zwischen der »falschen« Gewalt – patriarchal, archaisch, fremd – und der »richtigen« Gewalt – staatlich, rechtlich, rationalisiert. Diese Differenz stabilisiert das Vertrauen in die eigene politische und moralische Überlegenheit: Der Westen erscheint als Raum, in dem Gewalt nicht Ausdruck von Herrschaft, sondern Instrument von Ordnung und Fortschritt ist. Die strukturelle Gewalt, die von staatlichen Institutionen ausgeht – in Grenzregimen, Abschiebepraxen oder der globalen Arbeitsteilung – wird dadurch weitgehend unsichtbar. Sie gilt nicht als Verstoß gegen feministische Werte, sondern als deren notwendige Begleiterscheinung.
Frauen, die von diesen Mechanismen betroffen sind, passen nicht in die moralische Erzählung des westlichen Feminismus. Damit stößt ein Feminismus, der sich vor allem über moralische Kategorien definiert, an seine Grenzen. Wenn er strukturelle Machtverhältnisse ausblendet, bleibt er symbolisch. Er benennt Unrecht, ohne seine Ursachen zu analysieren, und reproduziert so die Trennung zwischen »moralischem Diskurs« und »politischer Realität«.
Ein Feminismus, der emanzipatorisch wirken will, muss diese Trennung aufheben. Er müsste Macht nicht als Ausnahme, sondern als Bedingung der hiesigen gesellschaftlichen Ordnung verstehen – und seine Kritik entsprechend auch auf die Institutionen ausdehnen, die Gewalt rechtlich, administrativ und ökonomisch hervorbringen. Nur so kann er den moralischen Rahmen verlassen, in dem er bisher operiert.
Ein solcher Feminismus würde nicht primär an der moralischen Glaubwürdigkeit des Westens arbeiten, sondern an der Veränderung der materiellen und institutionellen Bedingungen, die Ungleichheit und Abhängigkeit erzeugen. Er würde sich weniger an Empörung orientieren als an Analyse, weniger an Identität als an Struktur, weniger an Schuld als an Verantwortung. Erst dann kann feministische Politik über den symbolischen Raum der Selbstbestätigung hinausweisen und zu einem Instrument realer gesellschaftlicher Transformation werden.
Khaled El Mahmoud ist Jurist und Völkerrechtler. Er promovierte im Völkerrecht an der Universität Potsdam und ist geschäftsführender Redakteur des Völkerrechtsblogs.