05. Februar 2021
Filme mit politischen Stoffen sind populär geworden – von den Inhalten abgesehen, sind die meisten aber gähnend konventionell. Dabei war der Film jahrzehntelang ein Medium der revolutionären Agitation.
Porträt des sowjetischen Filmregisseurs Sergei Eisenstein (1898 – 1948)
Jahrzehntelang drehte sich bei politischen Filmemacherinnen, Kritikern und dem Publikum alles um die Frage nach der Form. Auf welche Weise wurden sie gedreht und geschnitten, wie wurde der Ton aufgenommen, welche Mis en Scène wurde gewählt; selbst die Produktions- und Vorstellungsweise sowie die Vertriebswege eines Films wurden als mindestens genauso wichtig erachtet wie sein Inhalt. Aus heutiger Sicht ist schwer vorstellbar, dass Filmemacher weltweit seit Ende des ersten Weltkriegs bis in die späten 1970er Jahre gehofft hatten, mit Formexperimenten beim internationalen Publikum ein neues revolutionäres Bewusstsein zu entfachen.
Diese Zeiten sind vorbei. Wer streitet heute noch über die politischen Implikationen von Schnitttechniken oder vertritt gar einen Brecht’schen Aufführungsstil, der ein aktives, politisiertes Publikum voraussetzt, wer lehnt Mickey-Mouse-artige Toneffekte und emotional manipulative Soundtracks ab?
Heute ist Inhalt alles. Die meisten Filme begnügen sich bereits mit einem vielversprechenden politischen Thema: Der junge Karl Marx, The Death of Stalin, Peterloo. Zwar unterscheiden sie sich natürlich in Qualität und Wirkung, gemeinsam ist ihnen jedoch eine ähnlich standardisierte Drehweise. Für das kommende Jahr hat der Regisseur Ryan Coogler (Black Panther, Nächster Halt: Fruitvale Station) einen Film über die Ermordung des Anführers der Black Panther, Fred Hampton, angekündigt. Allein schon die Aussicht auf einen sozialistischen, politischen Stoff sorgte für Begeisterung – was jedoch die Form angeht, sollten wir uns keine Hoffnungen machen.
Und vielleicht ist das die richtige Einstellung. Im Nachhinein lässt sich schwer beurteilen, ob eine angeblich revolutionäre Filmform bei den Zuschauerinnen, selbst denen der Sowjetunion in den 1920er Jahren, tatsächlich etwas »bewirken« konnte. Warum sollte man also diese alte Obsession wiederaufleben lassen? Bong Joon Hos Film Parasite war großartig, er hat sich in unser Gedächtnis eingebrannt, obwohl er mit glatt polierten, völlig konventionellen Mitteln arbeitet, die sich den internationalen Spielfilm-Regeln unterwerfen.
Die wenigsten wissen, dass es diese Regeln schon seit Generationen gibt. Eine dezente kinematographische Gestaltung, die nicht vom Plot ablenkt; eine sanfte Zusammenstellung der Szenen, die unbedingt mit der Psychologie der Filmfiguren harmoniert; ein Soundtrack, der perfekt mit der Handlung auf der Leinwand verschmilzt und die emotionale Stimmung untermalt: Solche Mittel stören niemals das, was gezeigt wird, treten nicht selbst in Erscheinung. Sie gehören alle zu den Montage-Regeln des sogenannten »Continuity System«, das in den 1910er und 20er Jahren von den führenden Filmindustrien perfektioniert wurde, allen voran den Hollywood Studios. Indem sich der Zuschauer mit dem Protagonisten identifiziert, wird er in ein angenehmes Idealbild der Wirklichkeit hineingezogen – dieses System, wie Kritiker dieser Form beanstandeten, ist durchdrungen von regressiven ideologischen Positionen. Die Konstruiertheit dieser künstlichen Wirklichkeit, der elaborierte Apparat hinter den Kulissen sowie die Geschäftsinteressen hinter der Massenproduktion von Filmen, werden sorgfältig kaschiert, nicht zuletzt durch die Ablenkung von der Filmform selbst. Die Zuschauenden sollen nicht aus ihrem Kinotraum geweckt werden.
Um sich von den Zwängen des »Continuity Systems« zu befreien, die ihnen das kommerzielle Kino auferlegte, entwickelten Filmemacher in den 1920er Jahren eine Reihe kühner, formalistischer Alternativen, darunter dadaistische und surrealistische Avantgardefilme und andere Kunstfilm-Bewegungen wie der Deutsche Expressionismus, der Französische Impressionismus und der Sowjetische Montagefilm.
Sergei Eisenstein etwa, der einflussreichste unter den sowjetischen Filmemachern, war überzeugt, durch die Montage eine Art »filmische Vernunft« erzeugen zu können, die es ihm ermöglichen würde, eine Filmadaption des Kapitals zu drehen und den Arbeitern »das dialektische Denken beizubringen«. In Filmen wie Streik, Panzerkreuzer Potemkin und Oktober kommt Eisensteins auf der marxistischen Dialektik basierende Theorie der »Kollisionsmontage« zum Einsatz: Indem der Inhalt einer Aufnahme mit einer anderen kollidiere – gleich einer dialektischen These mit ihrer Antithese – entstehe die Synthese im Kopf des Betrachters. Das überwältigende Ergebnis resultiere in einer neuen Art radikalen Filmdenkens, das die Zuschauenden mit in die Welt hinausnähmen.
In Oktober finden sich einige von Eisensteins ambitioniertesten »intellektuellen Montagen«. Er artikuliert hier seine Kritik der Religion, indem er irritierende Aufnahmen von religiösen Ikonen aneinanderreiht. Der russisch-orthodoxe Christus, dessen Anblick seinem Publikum wohlvertraut war, wird neben befremdlich erscheinenden Ikonen anderer Religionen gezeigt und verliert auf diese Weise seine Vertrautheit.
Eisensteins Theorien waren Teil der weit verbreiteten modernistischen Auffassung, dass Filme die Prozesse im Gehirn veräußerlichten und objektivierten. Dem ersten Filmtheoretiker Hugo Münsterberg zufolge sei das Kino auf einen Schlag so populär geworden, weil es unsere Denkweise nachahme: Rückblenden imitieren die Erinnerung, Nahaufnahmen stehen für die geistige Fähigkeit, uns auf einen Gegenstand zu konzentrieren. Eisenstein meinte, dass Filme gedankliche Vorgänge nicht nur nachahmen, sondern diese auch hervorrufen und verfestigen; dem Hollywood-Kino müsse etwas entgegengesetzt werden, da es ganzen Generationen eine kapitalistische Denkweise einimpfe.
Sein Panzerkreuzer Potemkin (1925) hat früh Standards gesetzt. In vielen Ländern, darunter Frankreich und das Vereinigte Königreich, war er in den Kinos verboten, wurde aber zu einer festen Größe bei privaten Vorführungen in Gewerkschaftsräumen und Kinogesellschaften weltweit. Mitreißend war allein schon der Inhalt des Films: Die dynamische Nachstellung einer Meuterei gegen Machtmissbrauch auf der Potemkin im Jahr 1905, die zum berüchtigten Massaker zaristischer Truppen an den Bürgern der Hafenstadt Odessa führte. Legendär wurde der Film jedoch wegen seines agitatorischen Schnitts. Die Sequenz auf der Hafentreppe von Odessa – neben Alfred Hitchcocks Duschszene in Psycho die wohl berühmteste Montage der Filmgeschichte – wurde aufgrund ihrer wirkmächtigen formalen Kühnheit bekannt, die aus jedem, der diesen Film sehe, einen Bolschewiki mache, wie NS-Reichsminister für Propaganda, Joseph Goebbels, später mit zähneknirschender Bewunderung schrieb.
Joseph Stalin beendete die sowjetischen Montage-Experimente mit der Behauptung, dass einfache Sowjetbürger die obskure Form solcher Filme, die sich an der dekadenten europäischen Kunst- und Filmbewegungen orientiere, nicht verstehen würden. Er führte den sozialistischen Realismus als vorgeschriebenen Stil in allen Künsten ein, und jahrzehntelang sahen sich die Sowjets hauptsächlich plumpe, heroische Unterhaltungsfilme nach Parteilinie an, in denen »das einfach Volk« zu sehen war, und die klare Lektionen erteilten, um alle zu besseren Kommunistinnen und Kommunisten werden zu lassen. Die formalistischen Bewegungen wurden weltweit ausgebremst, als die Große Depression, der Aufstieg des Faschismus und der Krieg dafür sorgten, dass hauptsächlich in dokumentarische und realistische Kinobewegungen investiert wurde.
Besonders einflussreich war der italienische Neorealismus der 1940er und 50er Jahre. Er entstand nach dem Zweiten Weltkrieg und lehnte den Stil der italienischen Filmindustrie unter faschistischer Leitung ebenso ab wie die Unterhaltungskultur aus Hollywood, die sich um das illustre Treiben reicher Leute drehte und die brutale Realität jenseits der Studios ignorierte. Sozialistische und kommunistische Filmemacher aus Italien, die nach Kriegsende ihre Hoffnungen auf das Wiedererwachen linker Politik setzten, wählten als Drehort zerbombte italienische Städte und arbeiteten mit natürlichem Licht sowie Laienschauspielern. Dabei entstand eine raue, kahle Ästhetik, die einen schockierenden Kontrast zu den Spielfilmen jener Zeit darstellte. Roberto Rossellini prägte diese Form mit seinem Film Rom, offene Stadt (1945) und sagte einmal höhnisch: »Wenn ich versehentlich eine schöne Szene filme, schneide ich sie hinterher raus.«
Für Filmkritiker André Bazin bestand der Schlüssel zum Erfolg des italienischen Neorealismus in der durchgehenden Tiefenschärfe langer Kameraeinstellungen, die nicht durch Montageschnitte oder optische Tricks im Stil der 1920er Jahre unterbrochen wurden. Mark Waynes Marxism Goes to the Movies zufolge werde durch diese Tiefenschärfe eine komplexe soziale Wirklichkeit sichtbar. Der Blick des Zuschauers könne sich auf eine Weise im Bild zerstreuen, wie es weder die Sowjetische Montage noch das »Continuity System« aus Hollywood erlaube. Letzteres sieht vor, Szenen dem Plot entsprechend zu schneiden, der wiederum der Figurenpsychologie und den Absichten der Protagonisten gehorche. »Match-on-Action«- und »Eyeline-Match«-Aufnahmen sind die Mittel der Wahl um eine Kontinuität zwischen dem emotionalen Erleben des Zuschauenden und der individuellen Figur herzustellen, die sich ihren Weg durch das dramatische Szenario bahnt, ganz im Sinne des amerikanischen Individualismus, den Hollywood besonders priorisiert.
Wie die Filmemacher der sowjetischen Montage erkannten auch die des italienischen Neorealismus im Hollywood-Kino eine ideologische Tarnkappentechnik, entwickelten jedoch eine andere Strategie, um gegen diese Technik ins Feld zu ziehen. Der Neorealismus neigt zur drastischen Lockerung von Erzählstrukturen und lehnt insbesondere kausale Zusammenhänge ab, die der »straffen Handlung« von Hollywood-Filmen sehr typisch sind. Er bevorzugte gleitende Kamerafahrten und Abschweifungen, Zufälligkeiten und immer Wiederkehrendes im Alltag, um die Erfahrungen der arbeitenden Bevölkerung wiederzuspiegeln.
Im brasilianische Cinema Novo wurde der italienische Neorealismus, der europäische Kunstfilm und die französische Nouvelle Vague weiterentwickelt und gipfelte in politischer Militanz und einer »Ästhetik des Hungers«. Die Forderung des Regisseurs Glauber Rocha, raue, wütende und hässliche Filme zu drehen, um die Erfahrung brutal unterdrückter Menschen wiederzugeben, die im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne hungrig sind, kommt in seinem Film Gott und der Teufel im Land der Sonne (1964) zum Ausdruck, der manchmal so wirkt, als wäre er mit einem Fleischerbeil geschnitten worden. Zunächst kamen Filmemacher des »Dritten Kinos« aus Lateinamerika, doch die Bewegung breitete sich auch in Asien, Afrika und anderen Regionen aus. Sie beflügelte den Traum einer multikontinentalen Revolution, die sich aus politischen Gründen der kommerziellen Hollywood-Ästhetik des »Ersten Kinos« verweigerte. Zugleich vermieden sie es, sich der Autorenfilm-Bewegung anzuschließen, dem »Zweiten Kino«. Sie wollten im Kollektiv Filme drehen, in denen es um radikale Befreiungskämpfe ging.
Der legendäre Film Schlacht um Algier (1966) etwa enthält Elemente des Zweiten und des Dritten Kinos. Der Regisseur Gillo Pontecorvo, ein ehemaliges Mitglied der italienischen Résistance und geschult in den Techniken des italienischen Neorealismus, stellte seinen Film in den Dienst eines militanten revolutionären Vorhabens: Zur Inszenierung des entscheidenden (und blutigen) Kampfes für die Befreiung von der brutalen französischen Besatzung, arbeitete er vor Ort mit der algerischen Bevölkerung zusammen.
Die radikalen Experimente des Dritten Kinos, Filme im Kollektiv zu produzieren, wurden von einer Reihe von Manifesten begleitet, darunter das Pamphlet »Für ein drittes Kino« der argentinischen Filmemacher Fernando Solanas und Octavio Getino. Sie verkündeten, das Kino müsse sich völlig neu erfinden – wie sie das allerdings erreichen wollten, war ihnen nicht von Anfang an klar. Alles müsse ausprobiert werden. Dabei ließen sie sich vom Entschluss leiten, den Imperialismus zu unterwandern, das politische Bewusstsein des Publikums zu schulen und aktiv einzubinden; mithilfe von Guerilla-Filmmethoden und alternativen Vertriebswegen und Vorführräumen sollte außerhalb des Systems operiert werden. Solanas und Getinos Die Stunde der Hochöfen (1968) ist ein vierstündiges, extravagantes Paradebeispiel für die Experimente des Dritten Kinos. Es beginnt mit einem bebenden Schlagzeug, das das Blut pulsieren lässt, worauf rasende, dokumentarische Aufnahmen von gewaltsamen Repressionen und Polizeibrutalität gegen Demonstrierende folgen, unterbrochen von Zitaten Che Guevaras, Frantz Fanons und anderer Revolutionshelden. Berühmt geworden ist der Film, weil er sich mit der Aufforderung an sein Publikum wendet, das Zuschauen jederzeit zu unterbrechen, um untereinander über die Revolution zu diskutieren.
Im Vergleich dazu sind die Medieninhalte, die uns heute verabreicht werden, ziemlich lauwarm. Von einer die Revolutionierung des Films sind wir so weit weg, dass es ziemlich altmodisch wirkt, wenn in einer Ausgabe der Cahiers du Cinéma von 1969 ernsthaft behauptet wird, dass Filmtheoretiker und Kritikerinnen glaubten, sie würden noch einmal »bei Null anfangen«. Jean-Louis Comolli und Paul Narboni schlugen in einem Essay vor, Filmkategorien von A bis G einzuführen, um das Publikum vor dem Müll zu warnen, den es konsumiere: Zur Kategorie A gehörten kommerzielle Mainstream-Filme sowie die meisten unabhängigen Arthouse-Filme, die »von der dominanten Ideologie durchdrungen« seien. Mit der Kategorie B wird die kleine Zahl löblicher Filme bezeichnet, die sich einem »unmittelbar politischen Thema« widmeten und »die [ihre eigene] ideologische Angepasstheit an zwei Fronten bekämpfen« – also in Form und Inhalt. Das Dritte Kino böte hier ein gutes Beispiel.
Mit den anderen Kategorien ist es etwas komplizierter. Zur Kategorie C gehören zum Beispiel Filme, die keinen offensichtlich politischen Inhalt haben und trotzdem eine politische Wirkung entfalten, weil sie formal gegen Konventionen verstoßen. Hollywoods Film Noir der 1940er Jahre mit seinem alptraumhaft expressionistischen Stil, der selbst gängigen melodramatischen Krimis ideologiekritische Züge verlieh, könnte durchaus in diese Kategorie passen.
Den Kritikern der Cahiers gefiel vor allem die Kategorie B und C. Die Kategorie D, in der heute die vermeintlich politischen, ideologisch anspruchsvollen Filme rangieren würden, war für sie besonders finsteres Terrain. Das seien Filme, die »explizit politische Inhalte« haben, »aber das ideologische System, in das sie eingebettet sind, nicht effektiv kritisieren, weil sie dessen Sprache und Bildsprache unhinterfragt übernehmen«.
Comolli und Narboni hätten wahrscheinlich bei einem Film wie Harriet – Der Weg in die Freiheit den Kopf geschüttelt und beklagt, dass mit dem öden Biopic von 2019 eine Chance verpasst wurde, das Leben der revolutionären Figur von Harriet Tubman auf ebenso revolutionäre Weise zu inszenieren. Wie zum Beispiel hätten Tubmans »Visionen« dargestellt werden können, die ihr wahrscheinlich in Folge eines lebensgefährlichen Schlags auf den Kopf kamen, den ihr ein Sklavenaufseher mit einem eisernen Gewicht verpasst hatte, als sie fünfzehn Jahre alt war? Dieser Gewaltakt radikalisierte Tubman und erschloss ihr einen unmittelbaren Zugang zu jenen, wie sie meinte, göttlichen Botschaften, von denen sie sich bei der Fluchthilfe der Versklavten leiten ließ. Die Regisseurin Kasi Lemmons übersetzt diese Visionen in ätherische Melodien mit bimmelnden Glöckchen, begleitet von Bildern wehender Wolken – eine für das kommerzielle Kino typische »Traumsequenz«.
Wo sich Filme ideologisch verorten lassen, ist gar nicht so leicht festzustellen, und am schwierigsten fällt das bei Comollis und Narbonis Kategorie E – einst beliebt in der Filmwissenschaft, um Masterstudierende bei der Suche nach »Lücken« und Widersprüchen in Mainstream-Filmen zu schulen. Filme der Kategorie E scheinen völlig von einem ideologisch dominanten System absorbiert zu sein, enthalten aber trotzdem Doppeldeutiges, legen Risse und Diskontinuitäten der rundum funktionierenden bürgerlichen Ideologie frei, weshalb sie sich dafür anbieten, »das System teils von innen heraus zu zerlegen«. Die späten Western von John Ford , wie etwa Der schwarze Falke (1956) oder Der Mann, der Liberty Valance erschoss (1962), galten als Paradebeispiele für Filme, in denen der konservative, patriotische Enthusiasmus des Regisseurs für das amerikanische »Manifest Destiny« seinen plumpen Charakter verliert. Vielschichtiger werden sie durch die unheimliche Tiefenschärfe der Aufnahmen, die düsteren Schicksalsfiguren und jene merkwürdige Untergangsstimmung, die dem »Amerikanischen Experiment« anhaftet.
Wer sich über solche naiven, schematischen Ansätze lustig macht, sollte bedenken, dass Comolli und Narboni, anders als wir heute, eine Idee für den Umgang mit revolutionären Medien hatten. Zwar gab es in den vergangenen fünfzig Jahren einige interessante formale Entwicklungen. Mit konkreten politischen Auswirkungen, geschweige denn Absichten, ließen sie sich aber kaum in Verbindung bringen. Vielversprechend war etwa die Dogma-95-Bewegung der 1990er Jahre. Für kurze Zeit lehnte sie es rigoros ab, die aalglatten, technisch raffinierten Konventionen des kommerziellen Kinos zu bedienen. Sie forderten, den Produktionsprozess von Filmen strengen Regeln zu unterwerfen, um Filmemacher zur Rückkehr zu einem rauen Neo-Neorealismus zu zwingen (Anm. d. Übers.: Gemeint sind die sogenannten »Keuschheitsgelübde«, die unter anderem genau festlegten, wo gedreht werden müsse, oder welche Kameraverfahren nicht in Frage kämen) – was sich eher als ein Gag entpuppte, nachdem die beiden federführenden Regisseure Lars von Trier und Thomas Vinterberg ihr Filmgelübde, das sie angeblich betrunken verfasst hatten, schnell wieder verwarfen.
Die Digitalisierung des Filmemachens hat den Produktionsprozess demokratisiert, indem er für viele kostengünstig zugänglich wurde – was kurzzeitig auch eine Art alternative Ästhetik in Aussicht stellte, die sich für politische Zwecke hätte nutzen lassen. Die technischen Möglichkeiten wurden jedoch schnell wieder nur zur Mimikry klassischer kinematographischer Effekte eingesetzt. Zudem glaubt heute kaum noch jemand an das politisch revolutionäre, bewusstseinsverändernde Potenzial des Kinos oder anderer Medien.
In einer Ära, in der der Sozialismus endlich ein Comeback feiert und wir uns wieder der dringenden Aufgabe stellen müssen, »eine Massenbewegung zu bilden«, »die Arbeiterklasse zu einen«und »die Solidarität zu stärken« – all die alten Begriffe und Phrasen –, fehlt uns ironischerweise ein adäquater Plan zur Wiederbelebung der alten Idee, Massenmedien für unsere Zwecke zu nutzen.
Und bei allem, was uns in der nahen Zukunft auf dem Spiel steht, können sich Radikale diese Einfallslosigkeit heute kaum mehr leisten.
Eileen Jones ist Filmkritikerin bei JACOBIN, Autorin von »Filmsuck, USA« und Moderatorin des Podcasts »Filmsuck«.