27. Februar 2022
Welche Sanktionen die USA und Europa gegen Russland planen – und welche Rolle der Energiesektor dabei spielt.
Friedensdemonstration für die Ukraine in Berlin, 27.02.2022.
Anmerkung der Redaktion: In der Nacht von Samstag auf Sonntag haben die USA, Kanada, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland sowie die EU-Kommission beschlossen, einige russische Banken vom SWIFT-System auszuschließen sowie Maßnahmen gegen Russlands Zentralbank zu ergreifen. Welchen Einfluss dieses Vorgehen auf die russische Wirtschaft und die Menschen haben werden, beschreibt der folgende Text, der vor den Beschlüssen entstanden ist.
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Mit der Eskalation in der Ukraine haben sich in Europa und den USA die Beratungen über Finanzsanktionen intensiviert. In der kurzen Zeit seit der Ankündigung von Präsident Biden am Donnerstagnachmittag ist viel geschehen. Am Samstagmittag kursierten erste Gerüchte über Maßnahmen, die einer finanziellen Kriegserklärung an Russland gleichkämen.
Die Debatte ist kompliziert und schnelllebig und wird sowohl von politischen als auch von technischen Argumenten bestimmt. Um die Dinge zu sortieren, ist es hilfreich, drei Fragen zu unterscheiden: Welche Einrichtungen werden sanktioniert? Welche Zahlungs- und Kommunikationsmittel werden sanktioniert? Welche Arten von Käufen werden sanktioniert und welche nicht?
Ein wirklich umfassendes Sanktionssystem, wie jenes, das die USA gegen den Iran verhängt haben, beinhaltet gleichzeitige und sich gegenseitig verstärkende Aktionen an allen drei Fronten. Dazu gehören Maßnahmen sowohl gegen Privatbanken als auch gegen die nationale Zentralbank, der Ausschluss von Finanzinstituten aus den Korrespondenzbankbeziehungen und dem SWIFT-System sowie gezielte Bemühungen, den Handel mit strategischen Gütern zu unterbinden – notfalls durch die Verhängung von Sekundärsanktionen gegen diejenigen, die versuchen, mit dem sanktionierten Land Handel zu treiben.
Die USA legten mit diesen Mitteln die Wirtschaft des Iran lahm. Die iranischen Ölexporte sanken von 2,5 Millionen Barrel pro Tag auf nur noch 400.000 Barrel. Davon sind wir heute in Bezug auf Russland noch weit entfernt.
Zum jetzigen Zeitpunkt haben die USA ihren Finanzinstituten sämtliche Korrespondenzbankbeziehungen zu allen großen russischen Geschäfts-, Industrie- und Staatsbanken untersagt. Dabei ist entscheidend, dass die Sanktionen auch die Sberbank – die bei weitem wichtigste russische Bank – betreffen. Der Ausschluss der Sberbank vom Dollarhandel wird sich bedeutend auf ihre Fähigkeit auswirken, ihren Kundinnen und Kunden internationale Dienstleistungen anzubieten. Seit dem 26. Februar funktionieren die von der Sberbank ausgegebenen Visa-Kreditkarten außerhalb Russlands nicht mehr.
Der Aktienwert der Sberbank ist daraufhin abgestürzt und wird wahrscheinlich noch weiter einbrechen. Die Bank könnte sich einem Ansturm russischer Einlegerinnen und Einleger ausgesetzt sehen, die ihr Bargeld so schnell wie möglich in ausländische Währungen umtauschen wollen. Etwa die Hälfte aller russischen Haushalte hat ein Konto bei der Sberbank.
Als Biden am Donnerstag seine Maßnahmen ankündigte, blockierte eine europäische Opposition jeden Schritt, die russischen Banken aus SWIFT auszuschließen – dem in Europa ansässigen Interbanken-Kommunikationssystem, das weltweit 11.000 Banken miteinander verbindet. Mit »europäischer Opposition« sind Deutschland und Italien gemeint, die beide um die Bezahlung ihrer Energierechnungen besorgt waren.
Was den Energiesektor betrifft, so bestand von US-amerikanischer Seite nie die Absicht, die Zahlungen zu unterbrechen. Wie ich in meinem Newsletter dargelegt habe, sind Zahlungen für Energie von den Sanktionen ausgenommen, wobei jedoch diejenigen, die Energie kaufen wollen, Umgehungslösungen finden müssen.
Als sei die Botschaft nicht schon klar genug gewesen, unterstrich Amos Hochstein, der leitende Berater für Energiesicherheit im US-Außenministerium, später noch einmal, dass die Regierung nicht beabsichtige, Maßnahmen zu ergreifen, die sich auf den Ölmarkt auswirken würden. Die USA sind zum jetzigen Zeitpunkt nicht bereit, die Interessen der Erdölkäufer zu opfern. Auch die US-amerikanische Ölindustrie hat kein Interesse an Störungen im Handel. Das war der Stand der Dinge am Donnerstag.
Seit Freitag haben die Empörung über die russische Aggression, der heldenhafte ukrainische Widerstand und die Aussicht, dass die Lage weiter eskalieren könnte, die Stimmung in Europa aufgeheizt. Nicht nur, dass immer mehr europäische Länder – darunter nun auch Deutschland – Waffen an die Ukraine liefern, außerdem werden Rufe laut, Russland finanziell so stark unter Druck zu setzen, dass Putin und sein Umfeld umdenken müssen.
Am Samstagmittag erklärten sich die deutsche und die italienische Regierung zu Gesprächen bereit, Russland vom SWIFT-System auszuschließen. Selbst die pro-russische ungarische Regierung unter Viktor Orbán hat angedeutet, dass sie dem nicht im Wege stehen wird.
Wie bereits von vielen Seiten betont wurde, ist SWIFT nicht das A und O. Der Wegfall des SWIFT-Zugangs wird die internationalen Transaktionen der russischen Banken weiter erschweren. Am meisten wird ihnen aber der Abbruch ihrer Beziehungen zu den Korrespondenzbanken zusetzen. Wie Biden betonte, waren die gegen die Sberbank ergriffenen Maßnahmen schwerwiegender als ein Ausschluss von SWIFT. Nichtsdestotrotz trägt auch dieser dazu bei, den Druck noch weiter zu erhöhen.
Was die Energielieferungen betrifft, so hieß es am Samstag aus Berlin, dass der SWIFT-Ausschluss selektiv sein werde. Es ist also zu erwarten, dass es auch hier Ausnahmen für Zahlungen im Energiebereich geben wird.
SWIFT ist ein Massennachrichtensystem, das täglich über 40 Millionen Sendungen mit einem Gesamtumfang von 5 Billionen Dollar verarbeitet. Seine Attraktivität liegt in der Kombination von Effizienz und Sicherheit. Was die Bezahlung von Energie in Europa angeht, sind jedoch weder Effizienz noch Sicherheit von unmittelbarer Besorgnis.
Es geht dabei um tägliche Zahlungen in Höhe von vielleicht 600 Millionen Dollar für Öl- und Gaslieferungen. Die Zahl der einzelnen Transaktionen ist überschaubar und kann bei Bedarf auf direktere und altmodischere Weise abgewickelt werden. Für die Bezahlung von Gazproms Gaslieferungen ist SWIFT zwar praktisch, aber nicht unbedingt erforderlich.
Wenn der SWIFT-Ausschluss umgesetzt wird, bedeutet dies einen schweren Schlag für die russischen Finanzinstitute und indirekt auch für den Handel und das Vertrauen in die Wirtschaft des Landes. Das könnte sich auch auf das Finanzsystem von Belarus auswirken, das möglicherweise als Durchgangsstation für russische Zahlungen fungieren und in diesem Fall ebenfalls sanktioniert werden könnte.
Wie Edward Fishman und Julia Friedlander vom Thinktank Atlantic Council erklärt haben, müssen sich Europa und die USA, wenn sie Russland direkter schaden wollen, dazu durchringen, kein russisches Öl und Gas mehr zu kaufen, und als nächstes überlegen, ob sie bereit sind, andere für den Kauf von russischem Öl und Gas zu bestrafen. Nach Schätzungen des deutschen Instituts für Weltwirtschaft in Kiel würde ein westliches Embargo für Öl- und Gaskäufe die russische Wirtschaft um rund 4 Prozent schwächen. Würden sekundäre Sanktionen – also eine Finanzblockade von Russlands fossiler Brennstoffindustrie – verhängt, dann wäre der Schaden noch weitaus größer. Bislang wird jedoch weder das eine noch das andere in Betracht gezogen.
Was am Samstagmorgen in Washington gemunkelt wurde, waren keine zusätzlichen Schritte im Energiebereich, sondern eine weitere Eskalation der finanziellen Maßnahmen: Sanktionen gegen Russlands Zentralbank.
Die russische Zentralbank aus dem Euro- und Dollar-Finanzsystem auszuschließen, wäre ein wirklich dramatischer Schritt, der die russische Volkswirtschaft als Ganzes und eine von Russlands größten strategischen Vorteile treffen würde: seine Devisenreserven. Russland verfügt über Devisenreserven in Höhe von 469 bis 630 Milliarden Dollar, je nachdem, was man zählt.
In einer herkömmlichen Finanzkrise sind solche Reserven ein wichtiges Polster. Dieselbe Funktion erfüllen sie in einem Szenario mit begrenzten Sanktionen – etwa wenn sich diese auf Einzelpersonen und Unternehmen beschränken, wie zum Beispiel im Jahr 2014. Ich habe diese Reserven regelmäßig als Grundlage für Putins Unabhängigkeit in internationalen Angelegenheiten bezeichnet. Als solche haben sie sowohl 2008 als auch 2014 fungiert – und Russland ist nicht der einzige Staat, der eine solche Strategie verfolgt.
Wenn Russlands Aggression jedoch einen vollumfänglichen Finanzkrieg provoziert, der auch Sanktionen gegen die russische Zentralbank einschließt, macht das alle vorherigen Annahmen hinfällig. In einem solchen Szenario hängt alles davon ab, ob es Russland dennoch gelingt, auf seine immensen Reserven zuzugreifen, und wie es diese ausgeben kann. Dann wird sich zeigen, in welchem Maße finanzielle Ansprüche von einem breiteren Rahmen von Legalität und Zusammenarbeit abhängen.
Russland hat dafür gesorgt, dass ein großer Teil seiner Reserven nicht in Dollar oder im US-amerikanischen Finanzsystem gehalten wird. Wo genau sich die Gelder befinden, ist Gegenstand großen Interesses. Eine fast schon forensische Untersuchung deutet stark darauf hin, dass ein großer Betrag in der Eurozone – insbesondere bei der Bundesbank – gebunkert sein könnte: Auf der Grundlage offizieller Veröffentlichungen hat der ehemalige IWF-Ökonom Chris Marsh unter Berufung auf eine Arbeit von Zoltan Pozsar von der Credit Suisse die Korrelation zwischen den von der russischen Zentralbank gemeldeten offiziellen Einlagen und den entsprechenden Forderungen gegenüber dem Euro-System und insbesondere der Bundesbank ermittelt.
Eine hohe Korrelation, wie sie in diesem Fall vorliegt, ist zumindest ein Hinweis darauf, dass es sich um russisches Geld handelt. Endgültig bewiesen ist es damit aber nicht. Dies ist die entscheidende Frage, welche die Bundesbank auf ihrer nächsten Pressekonferenz beantworten sollte: Wie viele Einlagen der russischen Zentralbank sie hält und ob sie diese umgehend einfrieren wird.
Außerdem hat Russland große Goldreserven. Aber was sind diese Reserven wert, wenn der russischen Zentralbank der Zugang zu den internationalen Märkten verwehrt wird, wo Russland das Gold gegen Euro oder Dollar verkaufen könnte? Es wäre dann gezwungen, Gold oder andere Vermögenswerte direkt gegen die benötigten Importe einzutauschen. Auf diese Weise könnte Russland die Vermittlung über internationale Währungen umgehen. Aber welche Partner wären bereit, sich auf einen solchen Handel einzulassen – und zu welchem Preis? Dafür kommt wahrscheinlich nur China infrage, und es würde harte Bedingungen stellen. Doch wie aufmerksame Marktbeobachter feststellen, bedeuten die Zahlungsschwierigkeiten, dass russisches Öl bereits mit Abschlägen gehandelt wird.
Kurz gesagt, Sanktionen gegen die russische Zentralbank wären gleichbedeutend mit einem vollumfänglichen Finanzkrieg. Die Aussicht darauf weckt Erinnerungen an das Chaos der 1990er Jahre.
Es ist unwahrscheinlich, dass der Energiebereich in einem solchen Szenario ausgenommen wäre. Natürlich wäre es möglich, eine Art Ausnahmeregelung zu treffen. Aber wäre Russland bereit, Öl und Gas an Abnehmer zu liefern, die in solch extreme finanzielle Sanktionen verwickelt sind? Das scheint mehr als unwahrscheinlich. Der Geoökonom Sony Kapoor hat argumentiert, dass der Westen nun proaktiv handeln sollte, da Russland wahrscheinlich die Gaslieferungen in Kürze einstellen wird.
Die Lage in der Ukraine ist kritisch. Es kommt jetzt auf jeden Tag an. Während die Anlegerinnen und Anleger das Ausmaß des anzunehmenden Schadens abwägen, sind die Finanzmärkte in Moskau beunruhigt. Am Freitag, als die Märkte den Eindruck gewannen, dass die Sanktionen möglicherweise nicht so streng ausfallen wie zunächst befürchtet, sind die Kosten für die Absicherung russischer Schulden gegen Zahlungsausfall sogar gesunken.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch offen, wie weit Europa und die USA zu gehen bereit sind. Wenn der Westen den Druck auf Russland aufrechterhalten und den ukrainischen Überlebenskampf materiell unterstützen will, muss er jedoch seine Maßnahmen verstärken. Die am Donnerstag und Freitag angekündigten Maßnahmenpakete kommen dem Eingeständnis einer Niederlage gleich. Wenn der Westen Russland umfassend bestrafen will, hat er die Mittel dazu. Die Kosten werden weitaus geringer sein als das riesige Opfer, das die Ukraine bringt. Wenn die Sanktionen auch den Bereich Energie betreffen, könnten diese Kosten jedoch beträchtlich werden. So ein Vorgehen würde sicherlich nicht nur die Elite, sondern einen großen Teil der russischen Gesellschaft treffen. Das ist ein großer Schritt.
Der Artikel erschien zuerst auf Englisch in Chartbook, dem Newsletter von Adam Tooze.