13. November 2024
Wer in Unternehmen oder Staaten investieren will, kommt an Ratingagenturen nicht vorbei. Dabei sind Ratingagenturen nicht nur extrem mächtige Marktteilnehmer – sie bestimmen die Spielregeln des Kapitalmarkts selbst.
Für große Ratingagenturen wie Fitch Ratings gibt es quasi keinen Wettbewerbsdruck, was das Geschäft für sie noch profitabler macht.
Mit dem Untergang der Investmentbank Lehman Brothers ging der 15. September 2008 in die Geschichtsbücher ein. Hohe Abschreibungen im US-amerikanischen Immobilienmarkt sorgten für Verluste im Milliardenbereich, sodass das Unternehmen nach fast 160 Jahren Geschäftstätigkeit Insolvenz anmelden musste. Der Zusammenbruch überraschte viele Anlegerinnen und Anleger – und das, obwohl große Teile der Verluste von Lehman Brothers bereits im Juni desselben Jahres bekannt waren. Denn trotz der riskanten Lage bewertete etwa die Ratingagentur Moody’s die Investmentbank noch bis zum Tag der Insolvenz mit der Note A2 und bescheinigte ihr damit ein niedriges Kreditrisiko – ein fatales Signal, das den Investoren ein falsches Bild über die Geschäftslage von Lehman Brothers vermittelte.
Denn Ratingagenturen genießen ein hohes Vertrauen am Kapitalmarkt. Insbesondere institutionelle Anleger, die viel Kapital investieren, orientieren sich maßgeblich an den Bewertungen der drei bekanntesten Agenturen: Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch Ratings. Gemeinsam decken diese großen Drei 95 Prozent des Marktes für Kreditbewertungen ab. Sie steuern große Teile der globalen Finanzmärkte – sind aber in privatem Besitz.
Wer Geld anlegen möchte, kann sich zwischen zahlreichen Investitionsmöglichkeiten entscheiden. Jedes einzelne Unternehmen oder Wertpapier auf etwaige Risiken zu überprüfen, ist aber wirtschaftlich nicht stemmbar. Hinzu kommt: An viele unternehmensspezifische Daten kommen Anlegerinnen und Anleger überhaupt nicht heran. Um diese Asymmetrie an Informationen zwischen Unternehmen und Investoren auszugleichen, haben sich Ratingagenturen etabliert.
Sie bewerten Staaten, Unternehmen oder Wertpapiere im Detail auf ihre Kreditwürdigkeit und verleihen ihnen am Ende des Ratingprozesses eine Note, anhand derer Anlegerinnen und Anleger das Risiko eines Investments einschätzen können. Die Ratings teilen sich für gewöhnlich in weniger riskante »investment grades« sowie riskantere »speculative grades« ein. Erhält ein Unternehmen oder ein Staat ein schlechteres Rating, schätzen Investoren das Risiko höher ein und ziehen schrittweise ihr Kapital ab. Um dem entgegenzuwirken, muss das Unternehmen oder der Staat höhere Zinsen auf seine Wertpapiere bieten – quasi als Entschädigung für das höhere Risiko.
Kurz gesagt: Die großen Drei entscheiden über die Finanzlage ganzer Staaten oder Regionen. Werten sie ein Land ab, wie zum Beispiel Griechenland während der Eurokrise, legen Investoren ihr Kapital lieber in Staaten mit geringerem Risiko und damit höheren Ratingnoten an. Der Einfluss der Ratingagenturen ist nicht aus Zufall entstanden – er war und ist politisch gewollt. Umfangreiche Gesetzesentwürfe aus den vergangenen hundert Jahren haben ihre Macht rechtlich verankert. Seit 1936 gilt etwa in den USA, dass dortige Banken nur in Unternehmen investieren dürfen, die von Ratingagenturen als »investment grade« eingestuft wurden. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde dieses Gesetz auch auf Versicherungen und Pensionsfonds erweitert.
Im Jahr 1975 schuf die US-Börsenaufsicht Securities and Exchange Commission (SEC) außerdem einen neuen Status sogenannter »anerkannter Ratingagenturen«. Die einzigen drei Unternehmen, die damals diesen Status bekamen waren Moody’s, Standard & Poor’s sowie Fitch Ratings. In den darauffolgenden Jahren erweiterten die Agenturen ihren Einfluss auch auf andere Teile der Welt. Vor allem die Regierung unter dem ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan war dafür maßgeblich verantwortlich.
»Ratingagenturen beeinflussen nicht einfach die Kapitalströme anderer Akteure innerhalb des Kapitalmarkts – sie beeinflussen die Spielregeln des Kapitalmarkts von außen. So nehmen sie eine Rolle ein, die für gewöhnlich öffentlichen Organisationen vorbehalten ist.«
Durch Reagans neoliberale Ausrichtung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank wurden insbesondere Kredite an Staaten sehr viel mehr an Ratings gekoppelt. Und auch in Europa ist die Macht der Ratingagenturen rechtlich besiegelt. Laut der Bankverordnung Basel II müssen europäische Banken jedes ihrer Portfolios auf etwaige Risiken bewerten. Während große Institute eigene Abteilungen dafür haben, greifen viele kleinere und mittlere Banken auf die Ratings der großen Drei zurück. Und selbst die Europäische Zentralbank (EZB) nutzt deren Ratings, um sich einen Überblick über das Risikoprofil von den Banken zu verschaffen, die sich bei ihr Geld leihen wollen.
Ratingagenturen sind also keineswegs nur mächtige Marktteilnehmer. Denn sie beeinflussen nicht einfach die Kapitalströme anderer Akteure innerhalb des Kapitalmarkts – sie beeinflussen die Spielregeln des Kapitalmarkts von außen. So nehmen sie eine Rolle ein, die für gewöhnlich öffentlichen Organisationen vorbehalten ist. Sie sind aber dennoch privatwirtschaftende Unternehmen. Dass die großen Drei zudem ein Oligopol bilden und somit nur geringem Wettbewerbsdruck ausgesetzt sind, ermöglicht ihnen ein hochprofitables Geschäft. In den vergangenen fünf Jahren betrug Moody’s Gewinn vor Steuern und Zinsen durchschnittlich 40 Prozent des Umsatzes – eine Zahl, von der selbst lukrative Software-Firmen nur träumen können, die bereits sehr hohe Umsatzrenditen von etwa 25 Prozent erzielen.
In Anbetracht ihrer besonderen Machtstellung sind die bestehenden Interessenskonflikte umso riskanter. Ein Blick auf die Eigentümerstruktur von Moody’s zeigt: Zu den größten Anteilseignern gehört die Investmentgesellschaft von Warren Buffet, Berkshire Hathaway, aber auch andere Vermögensverwalter wie Blackrock, Vanguard, oder Fidelity. Also genau jene Unternehmen, die eigene Fonds herausgeben, deren enthaltene Positionen wiederum von den Ratings der großen Drei abhängen. Eine ähnliche Eigentümerstruktur zeigt sich auch bei Standard & Poor’s.
»Zerbricht ein Unternehmen verlieren die Investoren zwar ihr investiertes Geld, doch ob die Bewertung einer Ratingagentur falsch war, spielt am Ende keine Rolle.«
Daneben besteht das Problem des Issuer-Pays-Modells: Auftraggeber der Ratingagenturen sind nämlich die zu bewertenden Unternehmen selbst. Genauso wie bei einer Wirtschaftsprüfung entscheidet also das Unternehmen, das geprüft werden soll, wer genau es beurteilt. Der Haken: Um langfristig von großen Kunden beauftragt zu werden, könnte eine Ratingagentur bessere Bewertungen vornehmen, als faktisch angemessen wäre. Für das Unternehmen bedeutet das, günstiger an Kapital zu kommen. Denn je besser ein Unternehmen bewertet wird, desto niedrigere Zinsen muss es auf ausgegebene Wertpapiere zahlen.
In der Folge führt eine mögliche Fehlbewertung jedoch dazu, dass Anlegerinnen und Anleger falsche Annahmen über die tatsächlichen Verhältnisse eines Unternehmens treffen. Sie wägen sich in Sicherheit, da sie die wahren Risiken des Unternehmens nicht kennen – und deshalb auch keine höheren Zinsen verlangen, die sie normalerweise bei erhöhtem Risiko bekämen.
Zerbricht ein Unternehmen, so wie es bei Lehman Brothers der Fall war, verlieren die Investoren zwar ihr investiertes Geld, doch ob die Bewertung einer Ratingagentur falsch war, spielt am Ende keine Rolle. Schließlich beharren die Agenturen darauf, dass ihre Bewertungen bloß Einschätzungen seien, die der Meinungsfreiheit unterliegen und nicht als Anlageempfehlung zu interpretieren sind. So war es auch im Zuge der Lehman-Brothers-Pleite 2008: Die entsprechende Klage an Moody’s sowie Standard & Poor’s über ihre falschen Ratings hat das zuständige US-Gericht abgelehnt. Für ihre falschen Bewertungen mussten die Ratingagenturen also auch in diesem Fall nicht haften.
Moritz Kudermann hat Wirtschaft, Geschichte und Politik studiert. Er arbeitet für eine unabhängige Redaktion und schreibt regelmäßig Texte über Wirtschafts- und Finanzthemen.