15. April 2022
Seit 1945 war Finnland ein neutraler Staat und bemühte sich um freundschaftliche Beziehungen zu Russland. Doch Putins Krieg hat den finnischen NATO-Befürwortern in die Hände gespielt – und linke Kritiker des Militärbündnisses stehen auf verlorenem Posten.
Die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin und der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Helsinki, 8. April 2022.
Im Jahr 2007 fasste ein konservativer finnischer Politiker die drei zentralen sicherheitspolitischen Anliegen seines Landes mit folgenden Worten zusammen: »Russland, Russland und Russland«. In den letzten Monaten haben viele Finninnen und Finnen diese Worte wieder zitiert. In weiter westlich gelegenen Ländern wurden die russische Invasion der Ukraine und die damit verbundenen Gräueltaten meist mit Worten wie: »Schrecklich, diese armen Menschen!« kommentiert. In Finnland lautete die Reaktion hingegen eher folgendermaßen: »Mein Gott – das könnten wir sein!«
Die Erinnerungen an den sowjetisch-finnischen Krieg von 1939–40, der einen zentralen Aspekt des finnischen Nationalmythos darstellt, sind selbst unter überzeugten Pazifistinnen und Pazifisten noch sehr präsent. Die aktuelle Debatte lenkt den Blick zurück auf eine wesentliche Fragestellung: Wie kann Finnland sicherstellen, dass dem Land keine ähnliche Katastrophe blüht wie der Ukraine?
Der Einmarsch in die Ukraine ist zugleich eine erschreckende Verletzung der europäischen Sicherheit und eine weitere Eskalation des russischen Imperialismus – das steht außer Frage. Es gibt nichts, was diesen entsetzlichen Krieg legitimiert. Das gilt auch für alles, was etwa über die Entwicklungen im Donbass oder die Rolle der extremen Rechten in der ukrainischen Politik vorgebracht werden könnte.
Die aggressive Rhetorik, mit der in den russischen Medien für die Ausweitung der »Entnazifizierung« Stimmung gemacht wird, hat sich bislang weniger gegen Finnland und eher gegen die Staaten im Baltikum sowie Polen und Moldawien gerichtet. Die Situation Finnlands ist auch kaum mit derjenigen der Ukraine oder Georgiens zu vergleichen. Denn für Moskau bietet sich in beiden Fällen die Möglichkeit, die dortigen lang anhaltenden Konflikte und regional ansässigen Minderheiten für die eigene Machtpolitik auszunutzen. Doch gerade weil kaum jemand einen derartigen Krieg in der Ukraine hat kommen sehen – selbst nach dem vorangegangenen Säbelrasseln –, haben die jüngsten Entwicklungen die Debatte in Finnland neu aufgeworfen. Wenn dieser Krieg nicht vorhersehbar war, was kann dann überhaupt noch als gesichert gelten?
Diese Verunsicherung hat in Finnland dazu geführt, dass sich in Fragen der Militärausgaben, der wirtschaftlichen Unabhängigkeit und der Bedeutung der Agrarwirtschaft ein neuer Konsens etabliert hat. Helsinki hat sich anderen europäischen Regierungen angeschlossen und Waffen an die Ukraine geliefert sowie russische Diplomaten ausgewiesen. Wie in vielen andere Ländern auch, wird in Finnland momentan darüber debattiert, wie die Abhängigkeit von russischem Gas und Öl möglichst rasch beendet werden kann. Doch das derzeit wichtigste Gesprächsthema berührt einen der langjährigen Grundsätze sicherheitspolitischer Debatten in Finnland, der nun eine völlig neue Dringlichkeit erlangt hat: die Frage nach dem NATO-Beitritt.
Die amtierende Mitte-links-Regierung lehnte diesen bisher geschlossen ab. Finnlands Ministerpräsidentin Sanna Marin – eine linke Sozialdemokratin – hatte noch im Januar in einem Interview wiederholt, dass ein finnischer NATO-Beitritt in naher Zukunft unwahrscheinlich sei, aber längerfristig womöglich in Betracht gezogen könnte. Viele Befürworterinnen und Befürworter der NATO werteten diese Aussage als Beleg für Marins Verantwortungslosigkeit. Dabei hat Finnland seit Gründung der NATO genau diese Position vertreten.
Doch die jüngsten Äußerungen der Ministerpräsidentin lassen durchklingen, dass sich ihre die Haltung diesbezüglich geändert hat. Dasselbe gilt für den finnischen Präsidenten, der in dieser Frage zuvor ebenfalls zögerlich war und der einen vielleicht noch größeren Einfluss auf die Außenpolitik des Landes hat. Die Entscheidung könnte nun schneller bevorstehen, als irgendjemand vor einigen Monaten hätte voraussehen können.
Finnland war schon lange neutral – aber historisch betrachtet hat das Land immer gen Osten geschaut. Schon vor diesem Krieg war die NATO-freundliche »Atlantiker«-Fraktion Finnlands der Auffassung, man stehe unter der ständigen Bedrohung eines russischen Angriffs, der jederzeit erfolgen könne. Ihr zufolge gibt es nur einen Weg, um eine solche Aggression abzuwenden – der Beitritt zur NATO. Kritikerinnen und Kritiker dieser Position argumentieren hingegen, dass gerade dadurch Finnland erst zu einem potenziellen Konfliktherd werden könnte.
In dieser Debatte spielen jedoch auch tief verankerte kulturelle Einstellungen eine Rolle. Die NATO-Befürworter sind der Auffassung, dass Finnland dem Westen nicht nahe genug sei und die »Finnlandisierung« immer noch nachwirke – unter diesem Schlagwort wurde in Zeiten des Kalten Krieges die Politik der sowjetfreundlichen Neutralität bezeichnet. Heute wird der Begriff vor allem verwendet, um Politikerinnen und Politiker zu diffamieren, deren Haltung als zu nachgiebig gegenüber Moskau aufgefasst wird. Die Zusammenarbeit zwischen Finnland und der NATO ist tiefgreifend und auch die Mehrheit der finnischen außen- und sicherheitspolitischen Elite befürwortet die NATO – eine Haltung, die auch von vielen finnischen Medien widergespiegelt wird. Dennoch ist Finnland dem Bündnis bislang nicht beigetreten.
Dieser Status quo kann jedoch seit Beginn des Ukraine-Krieges nicht mehr als gesichert gelten. Während eine NATO-Mitgliedschaft vor der Invasion noch in weiter Ferne lag, gilt der finnische Beitrittsantrag nun als so gut wie besiegelt. Dieser Umbruch zeichnete sich bereits vor Monaten ab, als russische Truppen in der Nähe der Ukraine aufzogen. Die formelle Entscheidung über den Antrag auf Mitgliedschaft könnte sogar noch vor Ostern fallen.
Doch die Einreichung eines Mitgliedschaftsantrags ist das eine. Seine Bewilligung durch die Allianz steht auf einem anderen Blatt. Die Transatlantiker wissen ganz genau, dass sich das Stimmungsbild in Finnland zu ihren Gunsten verändert hat. Eine Umfrage vom 23. Februar 2022 – einen Tag vor der Invasion – ergab, dass über 53 Prozent der finnischen Bevölkerung eine NATO-Mitgliedschaft befürworten würden. Seither sind die Zustimmungswerte weiter gestiegen.
Aufseiten der Transatlantiker ist man dennoch besorgt, dass sich das Möglichkeitsfenster schnell wieder schließen könnte. Der ehemalige norwegische Ministerpräsident und NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat bereits angedeutet, dass Finnland während eines beschleunigten Aufnahmeprozesses Sicherheitsgarantien erhalten würde. Einige Fragen bleiben dennoch offen. So ist etwa ungeklärt, ob Länder wie Ungarn den Beitritt blockieren. Ungarn könnte etwa auch eine Art Gegenleistung für die EU-Sanktionen verlangen, die aufgrund der Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien unter Viktor Orbán verhängt wurden.
Ein weiterer Aspekt der unter NATO-Mitgliedern eine Debatte auslösen könnte, ist die Frage nach der unmittelbaren Reaktion Moskaus auf einen möglichen finnischen NATO-Beitritt. Ein bisschen Säbelrasseln war bereits zu vernehmen – hier eine Verletzung des Luftraums, dort eine kriegerische Ansprache eines russischen Politikers. Für die finnische Bevölkerung stellt dies jedoch nichts Ungewöhnliches dar. Seit Jahrzehnten sprechen russische Politiker Drohungen gegenüber verschiedenen Nachbarländern aus. Mittlerweile ist dies zur Normalität geworden.
Insgesamt fiel die russische Reaktion eher verhalten aus. Das könnte womöglich darauf zurückzuführen sein, dass ein Großteil der nordwestlichen Armee Russlands, die für gewöhnlich in den an Finnland angrenzenden Regionen stationiert ist, in die Ukraine abgezogen wurde und schwere Verluste erlitten hat. Dennoch kann nichts ausgeschlossen werden, weshalb finnische Politikerinnen und Politiker vor allen Dingen Sicherheitsgarantien im Auge hatten und weniger den eigentlichen NATO-Beitritt.
Und auch ein anderer großer Nachbar stellt für Finnland ein Problem dar: Schweden. Die beiden Länder traten 1995 gleichzeitig in die EU ein, wobei der Prozess in Finnland erst durch den überraschenden Antrag Schwedens in Gang gesetzt wurde. Im Bereich der Verteidigung arbeiten Finnland und Schweden eng zusammen. Finnische Transatlantikerinnen haben eine – überraschende – Ankündigung eines schwedischen NATO-Beitritts jahrelang prognostiziert und ermutigten Finnland dazu, das ebenso zu tun. Doch nun sind die Rollen vertauscht: Die finnische Regierung strebt eine möglichst baldige NATO-Mitgliedschaft an, während sich die schwedische mehr Zeit lässt.
Die aktuelle politische Debatte fokussiert sich vor allem auf die Frage, ob Finnland der NATO so schnell wie möglich beitreten oder eine Entscheidung in dieser Frage eher noch abwarten sollte. NATO-kritische Stimmen werden in dieser Diskussion entweder niedergemacht oder als Sympathisantinnen und Sympathisanten Putins verunglimpft.
Die Linke ist in dieser Angelegenheit gespalten. Selbst im Linksbündnis (Vasemmistoliitto) – Finnlands stärkster Partei links der Sozialdemokratie – hat der Stimmungsumschwung dazu geführt, dass die Parteivorsitzende verkündete, dass die NATO-Mitgliedschaft keine rote Linie für die Regierungsbeteiligung darstellen würde. Hier ist also bereits ein Umdenken in einer Position erfolgt, die für das Selbstverständnis der Partei früher prägend war – und einige Mitglieder drängen darauf, noch weiter zu gehen.
Auch am anderen Ende des politischen Spektrums gibt es einige Kritikerinnen und Kritiker einer NATO-Mitgliedschaft. Dazu zählen sowohl rechtspopulistische als auch eher konservative Kräfte, welche die traditionelle Neutralität Finnlands bewahren wollen. Der ehemalige Außenminister Paavo Väyrynen von der Zentrumspartei (Suomen Keskusta), welche die zweitstärkste Kraft in der amtierenden Regierung stellt, ist seit vielen Jahren ein Gegner der NATO, und er hat auch nicht davor zurückgeschreckt, diese Ansicht lautstark zu vertreten – obwohl er mit dieser Meinung selbst in seiner eigenen Partei in der Minderheit ist. Ano Turtiainen, der einer verschwörungstheoretischen Splittergruppe der rechtspopulistischen Partei Wahre Finnen (Perussuomalaiset) angehört, ist der vielleicht einzige Abgeordnete, der eine eindeutig prorussische Position vertritt. Aber auch die Rechtspopulisten sind nicht von der Linie der Regierung abgewichen und haben einen NATO-Beitritt kürzlich befürwortet.
Bei all dem wird die Frage vernachlässigt, welche Rolle Finnland in der NATO überhaupt spielen soll – geht es um die Verteidigung der baltischen Staaten oder etwas anderes? In den Augen der finnischen Bevölkerung ist die NATO entweder eine Organisation, die Finnland gegen Russland verteidigen soll, oder aber eine Organisation, die vorhat, Finnland an die vorderste Front eines Konflikts mit Russland zu stellen.
Viele Staaten kümmern sich in allererster Linie um ihre eigenen Angelegenheiten und der kurzsichtige Ansatz, der sich in der Debatte um den NATO-Beitritt herauskristallisiert, ist typisch für dieses Denken. Doch dies verhindert eine umfassende Gesamtschau auf die künftige Entwicklung der NATO. Gerade die amerikanischen Präsidenten richten ihren Blick zunehmend auf den pazifischen Raum statt auf Europa. In den USA gibt es viele, die Europa für einen zweitrangigen und im Niedergang begriffenen Kontinent halten, und mehrere US-Präsidenten haben den Kalten Krieg mit China immer weiter angeheizt. Sollte es gleichzeitig zu einem Konflikt im Baltikum und einem Konflikt mit den Pazifik-Staaten kommen, wie viele Ressourcen würden die USA dann in die jeweiligen Auseinandersetzungen stecken?
Um dem oberflächlichen Gerede darüber, dass »der Westen« nun zusammenstehen müsse, etwas entgegenzusetzen, haben viele darauf hingewiesen, dass die Türkei, die für die Unterdrückung der Kurden und ihren Autoritarismus berüchtigt ist, ebenso Teil der NATO ist. Doch auch andere, offensichtlich »westlichere« Mitgliedsländer der Allianz führen postkoloniale Kriege, an denen sich die breite Mehrheit der finnischen Bevölkerung nicht beteiligen will. Bei aller nominellen Zurückweisung der russischen Autokratie haben viele westliche Politikerinnen und Politiker versucht, mit Russland Handelsbeziehungen einzugehen, ohne dabei auf die angrenzenden Länder Rücksicht zu nehmen – eine zynische Tradition, die lange zurückreicht. Für viele in Westeuropa bleibt Osteuropa Terra incognita – eine Region voller Nationen, die nur wahrgenommen werden, wenn es um Angelegenheiten geht, in die der Westen direkt involviert ist. Finnland muss sich auch mit diesen Fragen auseinandersetzen.
Was in entfernten Ländern wie der Türkei geschieht, ist für die meisten Menschen in Finnland dieser Tage sehr weit weg. Selbst zögerliche und neu hinzugekommene Befürworterinnen und Befürworter der NATO halten die Mitgliedschaft im besten Fall für eine Vernunftehe. Die Vorstellung, die NATO stehe für Demokratie und das Licht der Freiheit liegt ihnen eher fern. Doch ganz egal wie der Prozess letztendlich ablaufen wird – und es ist sehr wahrscheinlich, dass Finnland bis zum Ende des Jahres NATO-Mitglied ist –, so lässt sich schon jetzt ein Akteur erkennen, dem man die Schuld für diese Entwicklung zuweisen sollte.
Die Verhinderung der NATO-Erweiterung mag eines der erklärten Ziele des russischen Angriffskriegs gewesen sein. Doch die schiere Unvorhersehbarkeit der russischen Invasion ist einer der ausschlaggebenden Faktoren, die den NATO-Beitritt Finnlands fast unausweichlich gemacht haben. Selbst bei einer Invasion kleineren Maßstabs wie im Falle Georgiens wären die Folgen ungewiss gewesen. Folgende Beobachtung haben auch andere bereits gemacht: In den letzten dreißig Jahren haben die Transatlantiker in Finnland zwar viel Tinte vergossen, doch kein Politiker hat die NATO so effektiv beworben wie Wladimir Putin.
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Tatu Ahponen lebt in Tampere, Finnland. Er ist Mitglied der Linksbündnisses und stellvertretendes Mitglied des Parteirats.
Tatu Ahponen lebt in Tampere, Finnland. Er ist Mitglied der Linksbündnisses und stellvertretendes Mitglied des Parteirats.