15. Juni 2024
Überall in Europa haben Anti-Migrationsparteien zugelegt. In Finnland hingegen war der große Wahlsieger das Linksbündnis, das 17 Prozent der Stimmen erhielt. Dessen Vorsitzende Li Andersson erzählt im Interview, wie sie die Rechte schlagen konnte.
Li Andersson bei einem Fernsehauftritt im Rahmen der finnischen Präsidentschaftswahl, 25. Januar 2024.
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament am vergangenen Wochenende kam es in den meisten EU-Staaten zu einer Verschiebung nach rechts. Rechtsradikale Parteien – darunter auch einige mit Neonazi-Bezügen und -Skandalen wie die deutsche AfD oder die zypriotische Nationale Volksfront – werden insgesamt etwa ein Viertel aller Sitze einnehmen.
Nordeuropa hat diesem Trend weitgehend getrotzt. Besonders erfreulich sind die Wahl-Nachrichten aus Finnland. Zwar ist die rechtsradikale Partei »Die Finnen« (oder Finnenpartei) seit einem Jahr an der Regierung beteiligt, doch den großen Gewinner der Wahl am vergangenen Sonntag gab es am anderen Ende des politischen Spektrums: Das sozialistische Linksbündnis erhielt 17,3 Prozent der Stimmen und rangiert damit hinter der konservativen Nationalkoalition auf dem zweiten Platz. Die Linken entsenden nun drei Abgeordnete ins EU-Parlament. Die Finnenpartei hingegen verliert einen Sitz in Brüssel und Straßburg; ihr Stimmenanteil sank von 13,8 auf 7,6 Prozent.
Ganz oben auf der Wahlliste des Linksbündnisses stand die Parteivorsitzende Li Andersson, die persönlich 247.600 Stimmen erhielt – also jede siebte aller abgegebenen Stimmen in Finnland. Das ist die höchste direkte Stimmenzahl, die eine finnische EU-Parlamentskandidatin je erhalten hat. Außerdem ist es das beste Ergebnis für die finnische Linke seit 1979.
Andersson warb – für eine linke Kandidatin wenig überraschend – gegen die anhaltenden Attacken auf Arbeiterrechte sowie auf die Rechte von Migrantinnen und Migranten in Finnland und ganz Europa. Ein weiterer Teil ihres erfolgreichen Wahlkampfs war indes die Forderung nach Sanktionen gegen Israel wegen des Krieges in Gaza, eine klare Haltung zur Stationierung von Atomwaffen in Finnland und eine Entspannung der finnischen Beziehungen zu China. Einige ihrer Ansätze – beispielsweise die Entscheidung, es den Mitgliedern des Linksbündnisses freizustellen, ob sie im finnischen Parlament für oder gegen den NATO-Beitritt stimmen – hatten in der konservativen Presse zuvor für Empörung gesorgt. Dennoch halten 25 Prozent der finnischen Wählerinnen und Wähler sie für die kompetenteste aller Parteivorsitzenden im Land.
Chris Dite sprach für JACOBIN mit Li Andersson über den Kampf des Linksbündnisses gegen die radikale Rechte, die Kriegsbedrohung und den Aufbau einer internationalen linken Alternative.
Viele in Europa dürften mit Neid auf eure Wahlergebnisse schauen. Wie habt ihr diesen Erfolg zustande gebracht?
Tatsächlich haben alle rot-grünen Parteien in Finnland, Dänemark und Schweden sehr gute Ergebnisse erzielt. In den nordischen Ländern wurde viel Arbeit geleistet, um moderne Parteien zu gründen und aufzubauen, die eine ambitionierte Umwelt- und Klimapolitik mit traditionellen linken Themen verknüpfen: Arbeitnehmerrechte, Investitionen in Sozialleistungen, gerechte Einkommensverteilung etcetera. Man kann hier wirklich sehen, dass sich die Linke verändert. Diese Parteien und Bündnisse entwickeln sich zu echten Power-Playern und sind nicht mehr nur Steigbügelhalter für die Sozialdemokraten. Sowohl in Finnland als auch in Dänemark haben diese rot-grünen Parteien mehr Stimmen erhalten als die traditionellen sozialdemokratischen Fraktionen. Das zeigt, dass sie für viele Wählerinnen und Wähler zur »präferierten Alternative« im linken Spektrum werden.
Für die radikale Rechte in Finnland gab es hingegen einen herben Rückschlag. Haben die Wählerinnen und Wähler die sogenannte Finnenpartei (Perussuomalaiset) abgestraft, weil diese in der Regierung diverse Austeritätsmaßnahmen durchdrückt?
Rechtsradikale Parteien sind derzeit in Finnland und Schweden mit an der Macht. Sie arbeiten dort mit den traditionellen Konservativen und Rechten zusammen und beeinflussen die Politik. Die Wählerinnen und Wähler konnten also direkt erleben, was die Rechten tun, wenn sie an der Macht sind. In Finnland haben sie nahezu alle Wahlversprechen gebrochen. Die von ihnen umgesetzte Wirtschaftspolitik ist genau die gleiche – oder sogar noch schlimmer – als die der traditionellen konservativen Parteien. Es gab historische Einschnitte bei den Einkommen und beim Sozialschutz für viele Geringverdiener. Hinzu kommen harsche Angriffe auf die Gewerkschaften und auf die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter.
»Die Rechte profitiert sehr vom Zynismus in Bezug auf die Zukunft. Sie zerrt die politische Atmosphäre in eine Richtung, in der diese Zukunft so schrecklich erscheint, dass viele Menschen sich gar nicht mehr in der Politik engagieren wollen.«
Unsere Botschaft an die Wählerinnen und Wähler während des gesamten Wahlkampfs war deswegen: Wir müssen sicherstellen, dass diese Art von Politik nicht auch auf europäischer Ebene stattfindet. Die Wählerschaft hat erlebt, was es bedeutet, wenn die radikale und die traditionelle Rechte zusammenarbeiten; deswegen hat sie der radikalen Rechten bei der EU-Wahl den Rücken gekehrt. Die Finnenpartei hatte ein sehr schlechtes Wahlergebnis, und auch im Nachbarland haben die Schwedendemokraten deutlich an Stimmen eingebüßt.
Einige der Parteien, mit denen ihr euch nun um EU-Parlament auseinandersetzen müsst, haben klare oder kaum versteckte Neonazi-Verbindungen. Meinst du, dass eure Erfahrung mit der Finnenpartei euch gut darauf vorbereitet hat? Und: Was ist der beste Weg, um der Anziehungskraft der Rechtsextremen entgegenzutreten?
Diese Parteien mögen sich zwar selbst als »nationalistisch« bezeichnen, aber die Erfahrung in Finnland zeigt, dass die Machtübernahme der Rechten katastrophale Folgen für die normalen Menschen im Land hat. Die Finnenpartei hat die einfachen Menschen, die sie gewählt haben, verraten – und zwar in allen Fragen, die ihre Rechte und ihr tägliches Leben betreffen.
In den Verhandlungen mit ihren Koalitionspartnern war Migration für die Finnenpartei das einzig relevante Thema: Sie wollten, dass Finnlands bereits sehr strenge Migrationspolitik noch restriktiver wird. Dafür waren sie bereit, alle anderen zu vernachlässigen: Arbeiterinnen und Arbeiter, Geringverdienerinnen und Geringverdiener, Menschen, die gewisse Sozial- und Gesundheitsleistungen benötigen. Ein wichtiger Teil im Kampf gegen die radikale Rechte war es für uns daher, genau diese Erfahrung der finnischen Bevölkerung zur Sprache zu bringen.
»Es gibt in der finnischen Gesellschaft weiterhin einen klaren Widerstand gegen Atomwaffen.«
Die Rechte profitiert sehr vom Zynismus in Bezug auf die Zukunft. Sie zerrt die politische Atmosphäre in eine Richtung, in der diese Zukunft so schrecklich erscheint, dass viele Menschen sich gar nicht mehr in der Politik engagieren wollen. Das hat negative, reale Auswirkungen auf die Demokratie, vor allem für Menschen aus marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Eine weitere Erkenntnis, die ich aus den Wahlergebnissen in den nordischen Ländern ziehe, ist, dass wir eine rot-grüne Politik brauchen, die Hoffnung schafft, um der radikalen Rechten etwas entgegenzusetzen. Wir müssen den Menschen zeigen, dass wir in der Lage sind, auf die große ökologische Krise zu reagieren, die unser aller Zukunft betrifft. Wir müssen betonen, dass wir dieses Rennen noch nicht verloren haben und dass es eine Möglichkeit gibt, die Situation zu ändern.
Ebenso entscheidend ist der »rote« Teil. Sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene können wir den rechtsradikalen Parteien den Wind aus den Segeln nehmen, indem wir soziale Fragen ernst nehmen und eine progressive Politik in den Bereichen Lebenshaltungskosten, Wohnungsbau, Arbeiterrechte, Sozial- und Gesundheitswesen betreiben. Wir müssen zeigen: Wenn wir als Linke an der Macht sind, können wir Veränderungen herbeiführen, die sich auf das tagtägliche Leben der Menschen auswirken.
Junge Menschen, die sich in Finnland gegen den Krieg in Gaza engagieren, haben kürzlich einige ihrer Forderungen durchsetzen können. Das Linksbündnis zeigt sich als konsequente Kraft gegen den Krieg in Gaza und gegen die Profitmacherei finnischer Firmen mit der Gewalt der israelischen Armee. Glaubst Du, dass die junge Generation die allgemeine Debatte über Palästina verschiebt?
Ja, absolut. Für viele junge Wählerinnen und Wähler in Finnland ist Gaza tatsächlich eines der wichtigsten Themen. Soweit ich weiß, ist das auch in anderen nordischen Ländern der Fall. Viele junge Menschen sind schockiert, dass die Welt offenbar so unfähig ist, menschliches Leid in diesem Ausmaß, wie wir es in Gaza beobachten, zu stoppen. Viele junge Menschen erkennen eine Doppelmoral, die für sie absolut unverständlich ist.
Das Linksbündnis hat ausführlich die Auswirkungen angesprochen, die diese Situation für den sogenannten »westlichen Block« in seinen Beziehungen zum Globalen Süden und dem Rest der Welt haben wird. Es wirkt so unlogisch: Erst fordern, dass alle mitmachen, wenn es um die Verurteilung Russlands geht, und sich dann weigern, das Gleiche zu tun, wenn es um Israel geht. Genauso wie wir alle den illegalen Einmarsch Russlands in der Ukraine verurteilen müssen, sollten wir auch Israels Vorgehen im Gazastreifen verurteilen können, da dort ebenfalls gegen das Völkerrecht verstoßen wird. Das Linksbündnis hat deswegen Sanktionen gegen Israel und das Einfrieren des Freihandelsabkommens zwischen der EU und Israel gefordert, um Druck auf die israelische Führung auszuüben.
In Deinem Wahlkampf hast Du auch dafür geworben, dass die Diskussion um in Finnland stationierte Atomwaffen neu geführt werden sollte. Im vergangenen Jahr hast Du als Parteichefin den Linksbündnis-Abgeordneten im Parlament die freie Wahl gelassen, ob sie für oder gegen einen NATO-Beitritt Finnlands stimmen. Welche Besonderheiten und Komplexitäten gibt es in der finnischen Debatte über Krieg und Frieden in Europa?
Für die Menschen in Finnland sind Krieg und Frieden – schon allein aufgrund der geografischen Lage – nichts rein Theoretisches. Krieg ist etwas, mit dem die Menschen in allen Familien vor einigen Generationen reale Erfahrungen gemacht haben. Außerdem gibt es bei uns eine allgemeine Wehrpflicht; normale Bürgerinnen und Bürger leisten Wehrdienst. Sie wissen, dass im Falle eines tatsächlichen Krieges alle zum Einsatz kommen würden. Das ist nicht so wie in den USA [oder anderen westlichen Staaten], wo normalerweise nur die Arbeiterklasse den Preis zahlt.
Aus diesen Gründen ist Sicherheitspolitik ein Thema, das ein breites Spektrum der finnischen Wählerschaft beschäftigt. Beispielsweise hat Finnland die Ukraine von Beginn an sehr stark unterstützt: Viele finnische Menschen identifizieren sich aufgrund ihrer eigenen historischen Erfahrungen mit der heutigen Situation der Ukrainer. Das zeigt sich auch daran, wie sich die Einstellung zur NATO-Mitgliedschaft verändert hat. Für die Finninnen und Finnen war es ein Schlag ins Gesicht, dass unser Nachbar offensichtlich gewillt und bereit war, eine groß angelegte Invasion eines anderen unabhängigen Landes zu starten. Die allgemeine Meinung war, dass wir deswegen Teil von etwas werden müssen, das größer und stärker ist als wir. So könnten wir die Wahrscheinlichkeit verringern, dass etwas Ähnliches mit unserem eigenen Land passiert. Daher haben auch viele Wählerinnen und Wähler der Linken ihre Einstellung zur NATO-Mitgliedschaft geändert. Ich persönlich hätte mir gewünscht, dass es für Finnland eine europäische Option für eine solche Sicherheitsgarantie gäbe, aber die gibt es nun einmal wirklich nicht.
»Wir haben jetzt die Chance, uns in die Debatten auf europäischer Ebene einzubringen, und zwar in einem viel größeren Rahmen als bisher.«
Gleichzeitig gibt es in der finnischen Gesellschaft aber weiterhin einen klaren Widerstand gegen Atomwaffen. Geltendes Recht verbietet die Einfuhr und Stationierung von Atomwaffen auf finnischem Boden. Unsere Parteilinie ist und bleibt, dass das entsprechende Gesetz nicht geändert wird.
Zur Entscheidung, den linken Abgeordneten eine freie Abstimmung über die NATO-Mitgliedschaft zu erlauben: Wir haben damals erkannt, wie gespalten die Meinungen innerhalb der Partei, der Fraktion und unserer Wählerschaft waren. Wenn es in der Partei derart unterschiedliche Ansichten gibt, ist es manchmal besser, eine Atmosphäre zu schaffen, in der man sich konstruktiv widersprechen kann, als dass alle in der Fraktion zur einstimmigen Entscheidung nach Parteilinie gezwungen werden.
Du bist aktuell die beliebteste Politikerin in Finnland, hast Deinen Parteivorsitz nun aber abgegeben, um ins Europäische Parlament einzuziehen. Demnächst stehen Kommunalwahlen in Finnland an – wird es für das Linksbündnis dementsprechend schwieriger?
Nein, das denke ich nicht. Ein Führungswechsel ist sinnvoll, wenn die Partei in einer guten Position ist. Es wäre doch viel schlimmer, wenn man gehen muss, weil es eine Vertrauenskrise gab oder man eine Wahl verloren hat oder ähnliches. Die Mitgliederzahl des Linksbündnisses ist so hoch wie seit fünfzehn Jahren nicht mehr, und seit dem Wahltag sind viele neue Mitglieder eingetreten. In den aktuellen nationalen Umfragen schneiden wir durchweg besser ab als bei der letzten Parlamentswahl. Wir haben viele sehr gute neue Abgeordnete, aber auch erfahrene Parlamentarier, die ihre dritte oder vierte Amtszeit absolvieren.
Wir konnten bei den EU-Wahlen unsere Unterstützung auf diesem recht guten Niveau halten und ziehen nun mit drei Abgeordneten in das Europäische Parlament ein. Wir haben jetzt die Chance, uns in die Debatten auf europäischer Ebene einzubringen, und zwar in einem viel größeren Rahmen als bisher. Natürlich können wir diesen Einfluss und diese Ressourcen auch auf nationaler Ebene in Finnland nutzen. All das verschafft uns eine gute Ausgangsposition für die Zukunft.
Li Andersson ist Vorsitzende des finnischen Linksbündnisses Vasemmistoliitto und Mitglied des finnischen Parlaments.