17. Oktober 2023
In Finnland hat eine rechte Regierung, der auch die rechtsextremen »Die Finnen« angehören, einen massiven Angriff auf die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter und den Sozialstaat gestartet. Doch die Gewerkschaften schlagen zurück.
Der finnische Ministerpräsident Petteri Orpo will den Sozialkompromiss aushöhlen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Finnlands kämpferische Gewerkschaften einen der stärksten Wohlfahrtsstaaten der Welt geschaffen. Heute gibt das Land mit rund einem Viertel des BIP mehr für den Sozialstaat aus als jedes andere OECD-Land. Finnland führt regelmäßig die Rangliste der glücklichsten Länder der Welt an und ist wohl eines der erfolgreichsten Beispiele für das sozialdemokratische Modell.
Das Herzstück des finnischen Klassenkompromisses ist die Tradition des sozialen Dialogs zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern und der Regierung, die zu jährlichen bundesweiten und sektoralen Verhandlungen über die Festlegung der Löhne für alle Gewerkschaftsmitglieder, zu dreiseitigen Verhandlungen über neue Gesetzesvorschläge und zum Ausbau des Wohlfahrtsstaates geführt hat. Doch dieser Gesellschaftsvertrag steht kurz davor, von einer neu gewählten rechtsgerichteten Regierung zerrissen zu werden.
Während die finnische Politik in den letzten Jahren mit einer von fünf Frauen geführten Mitte-Links-Koalition mit der jungen Sozialdemokratin Sanna Marin an der Spitze international für Schlagzeilen sorgte, errang bei der letzten Parlamentswahl im April 2023 eine radikalisierte Rechte die Mehrheit. Daraufhin bildeten die Konservativen, die Christdemokraten, eine schwedische Minderheitspartei und die rechtsextreme Finnen-Partei eine Regierung. Seitdem hat sie einen in der Geschichte des finnischen Wohlfahrtsstaates beispiellosen Angriff auf die Rechte der Arbeitnehmer und die soziale Sicherheit gestartet.
Annika Rönni-Sällinen, die Vorsitzende der finnischen Dienstleistungsgewerkschaft Palvelualojen ammattiliitto (PAM), sprach mit Daniel Kopp für JACOBIN über den beispiellosen Angriff der Regierung und die Antwort der finnischen Arbeiterbewegung.
Nach nur drei Monaten im Amt hat Finnlands rechte Regierung – eine Koalition aus Konservativen, Christdemokraten, den rechtsextremen »Die Finnen« und einer schwedischen Minderheitspartei – einen massiven Angriff auf die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter und den Sozialstaat gestartet, der Parallelen zu Margaret Thatchers neoliberalem Programm nach 1979 aufweist. Können Sie uns einen Eindruck von der Tragweite der vorgeschlagenen Reformen vermitteln?
Es ist schwer zu beschreiben, weil es sich um ein so umfangreiches Paket von Kürzungen und Reformen handelt. Es sind vielleicht 30 oder 40 verschiedene Vorschläge, die die Regierung mit Gewalt durchsetzen will. Sie greifen das Sozialversicherungssystem an, einschließlich der Arbeitslosenunterstützung, und schwächen gleichzeitig die Arbeitsplatzsicherheit in mehrfacher Hinsicht. Außerdem wollen sie viele grundlegende Elemente der Arbeitnehmerrechte ändern, wie das Streikrecht und das Modell der Lohnverhandlungen auf dem Arbeitsmarkt.
So etwas haben wir noch nie erlebt. Es gibt wirklich keine Verhandlungen. In Finnland haben wir eine lange und bewährte Tradition von trilateralen Verhandlungen zwischen Regierung, Arbeitgebern und Gewerkschaften. Normalerweise bereiten trilaterale Ausschüsse oder Arbeitsgruppen solche Gesetze vor und verhandeln sie – und die Gewerkschaften können dort ihre eigenen Vorschläge einbringen. Aber in diesem Fall legt die Regierung finale Vorschläge vor, die sofort umgesetzt werden können, und lässt keinen Raum für Verhandlungen.
Welche sind die gefährlichsten Reformen im Bereich der Arbeitnehmerrechte und des Sozialschutzes?
Betrachten wir zum Beispiel den Arbeitslosenschutz. Viele unserer Mitglieder im Dienstleistungssektor arbeiten in Teilzeit, weil es keine Vollzeitstellen gibt. Diese Beschäftigten kommen schon jetzt nicht über die Runden und sind auf das angepasste Arbeitslosengeld und das Wohngeld angewiesen. Die Regierung kürzt nun diese Leistungen, die sich auf 300 oder 400 Euro pro Monat belaufen könnten. Es ist schwer vorstellbar, wie diese Menschen mit Hunderten von Euro weniger überleben können. Aber wie sollen sie dann mehr arbeiten, wenn es keine Vollzeitstellen mehr gibt?
»So etwas haben wir noch nie erlebt. Es gibt wirklich keine Verhandlungen.«
Was die Rechte der Arbeitnehmer betrifft, so werden Entlassungen deutlich erleichtert. Heutzutage kann man in Finnland jemanden nur aus »schwerwiegenden Gründen« entlassen. Das soll nun geändert werden, um es den Arbeitgebern durch die vage Formulierung »relevanter Grund« leichter zu machen. Ebenso würden die Vorschläge die Zahl der befristeten Arbeitsverhältnisse erhöhen, da es nicht mehr erforderlich wäre, besondere Gründe für eine befristete Beschäftigung vorzulegen.
Hinzu kommen die vielen anderen Möglichkeiten, das Streikrecht einzuschränken, die Beteiligung der Sozialpartner zu begrenzen und das Recht auf Tarifverhandlungen zu beschneiden. Das ist wirklich gravierend.
Die Regierung scheint auch sehr strategisch vorzugehen: Sie fangen mit der Einschränkung des Streikrechts an, denn das wird es der Arbeiterbewegung schwerer machen, sich gegen die anderen Kürzungen zu wehren.
Ja, auf jeden Fall. Zum Beispiel würden die Geldstrafen für illegale Streiks deutlich erhöht, wenn die Regierung ihren Willen durchsetzt. Die höchsten Bußgelder würden bis zu 150.000 Euro betragen, die untere Grenze läge bei 10.000 Euro. Derzeit liegt die Höchststrafe bei 23.500 Euro ohne Untergrenze. Auch Beschäftigte könnten zu einer Geldstrafe verurteilt werden. Wenn eine Arbeiterin an einem Streik teilnimmt, der bereits von einem Gericht für illegal erklärt wurde, wird eine Strafgebühr von 200 Euro fällig. Es ist jedoch etwas unklar, was ein illegaler »fortgesetzter« Streik sein soll.
Unsere Vertreter in den Arbeitsgruppen fragten sich auch nach dem Sinn der Beschränkungen für politische Streiks, da wir in der Vergangenheit nicht so viele hatten. Wir fragten die Regierung nach ihrer Begründung, und sie antwortete einfach, dass es zu Streiks kommen könnte!
Sie machen sich also eher Sorgen über zukünftige Aktionen gegen die Pläne der Regierung, als bereits bestehende Probleme mit diesem System zu lösen.
Wie Sie erwähnten, gibt es in Finnland einen Sozialvertrag, der auf einem etablierten System des sozialen Dialogs beruht. Es scheint, als wolle die Regierung damit brechen?
Genau das passiert hier. In ihrem Programm hat die Regierung versprochen, die Wünsche der Arbeitgeber umzusetzen, ohne dass Verhandlungen möglich sind. Die Regierung greift sogar an Stellen ein, an denen sie es noch nie getan hat, indem sie zum Beispiel unsere Möglichkeiten zu Lohnverhandlungen einschränkt und die Rolle des nationalen Schlichters verändert. Wenn wir beispielsweise eine Streikwarnung aussprechen, sind wir gezwungen, das Büro des Schlichters aufzusuchen und die Verhandlungen fortzusetzen. Nach den Reformen wären der Schlichterin die Hände gebunden, da ihr Schlichtungsvorschlag nicht über das allgemeine Niveau der Lohnerhöhungen hinausgehen darf.
Wie rechtfertigt die Regierung diese Reformen?
Sie argumentieren, dass diese Reformen in den anderen nordischen Ländern bereits durchgeführt worden sind. Das stimmt aber nicht, sie picken sich nur die Teile heraus, die die Arbeitgeberseite begünstigen. Außerdem haben sie sich zum Ziel gesetzt, durch die Reformen 100.000 Arbeitsplätze zu schaffen und die Staatsverschuldung, die ihrer Meinung nach zu hoch ist, zu senken. Keines dieser Ziele wird jedoch wie versprochen erreicht. Die Regierung nimmt weiterhin Kredite auf, während sie die Einnahmen des Staates durch Steuersenkungen und besondere Steuererleichterungen für diejenigen, die mehr als 90.000 Euro im Jahr verdienen, verringert. Und es hat sich gezeigt, dass die Beschäftigungszahlen massiv übertrieben sind.
»Das ist extrem ideologisch. Sie wollen unser System der trilateralen Verhandlungen abschaffen. Sie wollen unsere Gewerkschaftsbewegung schwächen.«
Hätten Sie bei der Regierungsbildung im Juni erwartet, dass die neue Regierung diese Reformen so aggressiv durchsetzen würde?
Nein. Natürlich wussten wir, dass sie auf Maßnahmen drängen würden, mit denen wir nicht einverstanden sind. Aber wir haben uns nie das Ausmaß dieser verschiedenen Arten von Einschnitten in den Sozialschutz vorstellen können. Vor etwa acht Jahren hatten wir bereits eine rechte Regierung – und wir dachten, das wäre schlimm gewesen. Aber schon damals versuchte man, eine Art Mittelweg zu finden. Die Regierung wollte, dass wir mit den Arbeitgebern verhandeln. Zudem gab es Maßnahmen, die der Arbeitgeberseite nicht gefielen. Jetzt ist alles für die Arbeitgeberseite. Das sind Vorschläge, die sie in den letzten zehn oder zwanzig Jahren vorangetrieben haben. Das ist extrem ideologisch. Sie wollen unser System der trilateralen Verhandlungen abschaffen. Sie wollen unsere Gewerkschaftsbewegung schwächen. Und sie nehmen Geld von den Armen, während sie die Steuern für die Reichen senken, damit die noch reicher werden. Viele Menschen empfinden das als wirklich ungerecht.
Vor zwei Wochen hat der Zentralverband der finnischen Gewerkschaften, SAK, drei Wochen lang koordinierte Aktionen mit täglichen Arbeitsniederlegungen an verschiedenen Arbeitsplätzen angekündigt, an denen sich auch Ihre Gewerkschaft aktiv beteiligt. Wie sind die ersten Aktionstage verlaufen, und wie werden Sie weiter vorgehen, falls die Regierung die Reformen nicht aufgibt?
Wir haben diese Demonstrationen auf vielen Marktplätzen in ganz Finnland organisiert und es haben sich viele Menschen daran beteiligt. Sie waren definitiv ein Erfolg. Die Menschen sind sehr wütend. Natürlich wünschen wir uns, dass die Regierung es sich zweimal überlegt und uns zuhört, aber es sieht nicht so aus, als ob sie sich zurückziehen würde.
Das bedeutet, dass wir mit diesen Aktionen weitermachen werden und neue Aktionen planen. Bislang waren unsere Aktionen recht moderat. Aber natürlich werden wir den Druck erhöhen, wenn sich nichts ändert.
Die rechtsextreme Partei »Die Finnen«, die sich selbst als Vertreterin der Interessen der einfachen Leute darstellt, unterstützt und fördert die Reformen voll und ganz. Glauben Sie, dass dies bereits zu einem Wandel in der Wahrnehmung der Partei geführt hat, vor allem bei ihren Anhängern?
Wir haben in Finnland schon seit einigen Wochen keine Prognosen mehr gehabt. Aber ich habe mit Leuten gesprochen, die an den Aktionen teilgenommen haben. Manche haben fast geweint, weil sie für »Die Finnen« gestimmt haben und jetzt nichts mehr bereuen als das. Es scheint also, dass sie im Moment einige ihrer Wählerinnen und Wähler verlieren. Wir werden ein klareres Bild haben, wenn die nächste Umfrage herauskommt.
Was bedeuten die Entwicklungen in Finnland für die allgemeinen politischen Trends in Europa?
Vor allem erscheint es mir ein wenig seltsam, dass die finnische Regierung versucht, den sozialen Dialog im Lande abzuschaffen, während die Mindestlohnrichtlinie auf europäischer Ebene die Förderung des sozialen Dialogs, der Tarifverhandlungen und so weiter vorsieht. Insbesondere in der letzten Legislaturperiode haben die europäischen Institutionen einige progressive Maßnahmen ergriffen. Wir gehen hier also wirklich in die entgegengesetzte Richtung.
Annika Rönni-Sällinen ist Vorsitzende der finnischen Dienstleistungsgewerkschaft Palvelualojen ammattiliitto (PAM).