03. Juni 2020
Das Leben hat in Fleischfabriken keinen Wert. Nicht nur das der Tiere. Es herrschen unmenschliche Zustände. Eine Handvoll Schlachtkonzerne beutet Tausende Arbeitsmigranten aus. Pfarrer Peter Kossen über moderne Sklaverei — mitten in Deutschland.
In Deutschland isst man gerne Fleisch. Pro Kopf rund 59,5 Kilogramm im letzten Jahr. Der Gesamtverbrauch, in dem der Verbrauch von Tierfutter, die industrielle Verwertung sowie die Produktverluste berücksichtigt sind, summierte sich auf etwa 87,8 Kilogramm.
Um so viel Fleisch überhaupt bezahlen zu können, müssen die Produktionskosten – vor allem die Lohnkosten – auch gedrückt werden. Im fleischverarbeitenden Gewerbe liegt das durchschnittliche Gehalt aktuell bei 26.707 € brutto. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung lagen die Personalkosten pro Beschäftigten 2015 mit 29.356 € weit unter dem Durchschnitt der Nahrungs- und Genussmittelindustrie (42.453 €) und dem Verarbeitenden Gewerbe (58.611 €). Dem gegenüber steht jährlich 364.908 € Umsatz für jeden Beschäftigten.
Die Bedingungen der Fleischindustrie sind nichts Neues, doch es brauchte eine Corona-Masseninfektion unter Angestellten eines Schlachthauses in der Nähe von Pforzheim, um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Mehrere fleischverarbeitende Großbetriebe mussten ihre Produktion einstellen. Das Corona-Kabinett der Bundesregierung beschloss am 20. Mai ein Verbot von Werkverträgen in der Fleischindustrie. Doch um die Missstände zu korrigieren, reicht das noch lange nicht.
Jacobin sprach mit Peter Kossen über die Arbeitsbedingungen, vor welchen Problemen Arbeitsmigrantinnen stehen und was die katholische Soziallehre von Karl Marx lernen kann. Der katholische Pfarrer aus Lengerich setzt sich seit Jahren für die Rechte von Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie ein.
Peter, Du hast in Deinem Engagement für die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten den Begriff des »Wegwerfmenschen« geprägt. Was verstehst Du darunter?
Mein Bruder ist Mediziner und der beschreibt mir immer wieder aus seiner Dorfarztpraxis, dass jeden Tag Menschen aus der Fleischindustrie bei ihm Patientinnen und Patienten sind. Er ist sonst ein ganz Ruhiger, aber er wird regelmäßig wütend, er kann dann kaum die Sätze zu Ende sprechen, wenn er beschreibt, was die Lebens- und Arbeitssituation mit diesen Menschen macht. Die Härte der Arbeit, die gesundheitsgefährdende Unterbringung in diesen Wohnungen und auch die Unmöglichkeit, sich zu regenerieren. Er beschreibt das mit dem Begriff der Totalerschöpfung, aber auch mit dem Verschleiß von Menschen. In dem Versuch, das zu beschreiben, was da für ganz viele Menschen die Wirklichkeit ist, ist mir der Begriff des »Wegwerfmenschen« gekommen, der ja zynisch ist, aber den ich leider in diesem Zusammenhang für sehr treffend halte.
Wie kann es eigentlich sein, dass es erst eine Pandemie braucht, damit offensichtlich menschenunwürdige Zustände, die Du seit Jahren anprangerst, jetzt erst angegangen werden?
Auf der einen Seite gibt es einen starken Lobbyismus, gerade von Seiten der Fleischindustrie. Ich sage mal, so ein Fleischfabrikant wie Clemens Tönnies ist sicher nicht der einzige, der in die Politik, in die Wirtschaft und bis in die Juristerei hinein einen langen Arm hat und auch wichtige Dinge verhindern konnte. Der Lobbyismus hat über Jahre hinweg eine starke Wirkung entfaltet. Man hat der Bevölkerung erfolgreich glauben machen wollen, dass es eine Win-Win-Situation ist: wir haben für die Arbeitsmigranten Arbeit hier, die diese Menschen zuhause nicht haben, sie verdienen hier fünfmal so viel wie beim Mindestlohn in Rumänien, dazu haben wir noch das billige Fleisch.
Dazu kommt, dass die Arbeitsmigranten über Jahre hin nicht in der Lage sind, aufgrund ihrer Lebens- und Arbeitssituation Deutsch zu lernen und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dadurch gibt es ganz wenige menschliche Kontakte über die Communities hinaus. Ich glaube, das war im Endeffekt jetzt so eine Mischung aus verschiedenen Sorgen: Es wird ja immer für die Leute bedrängend, wenn es ihnen auf die Pelle rückt. Zum Teil war jetzt die Betroffenheit größer, wenn Leute da infiziert sind, die in der Nachbarschaft wohnen, weil es da so eine Schrottimmobilie gibt, die vollgestopft ist mit Arbeitsmigranten, und dann ist man ja vielleicht selbst auch gefährdet. Jetzt war der Druck so groß auf die Politik, dass sie dann doch auch an einen Clemens Tönnies und anderen Größen der Fleischindustrie vorbeigegangen sind.
Gehen Dir die Beschlüsse des Corona-Kabinetts zum Arbeitsschutz, der Lohnpraxis und der Leiharbeit in der Fleischindustrie weit genug?
Sie sind auf jeden Fall ein wichtiger, ganz wichtiger Schritt. Wenn sie durchgesetzt werden können, sind sie auch ein Durchbruch. Das bedeutet ja, dass man versucht die organisierte Verantwortungslosigkeit zu beenden. Wir haben jetzt die Situation, dass in großen Teilen der Wertschöpfungskette in der Fleischindustrie, im Schlachten und Zerlegen die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen, für Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer einfach an Werkvertragsnehmer und ganze Ketten von Subunternehmern delegiert wird. Bis zur Unkenntlichkeit wird die Verantwortung delegiert und weggeschoben.
Jetzt will man dem einen Riegel vorschieben, indem man sagt, es gibt dort gar keine atypische Beschäftigung mehr, die Leute müssen alle direkt angestellt werden; alle, die im Kernbereich tätig sind, also beim Schlachten und Zerlegen. Das hat ganz praktische Auswirkungen: ein Betriebsrat ist dann mal wieder zuständig, vielleicht die Gewerkschaft oder eine Berufsgenossenschaft. Bisher fliegen diese Leute unter dem Radar von Arbeitsschutz und Sozialgesetzgebung. Keiner schaut genau hin. Und so ist ganz viel möglich, was eigentlich in einem Rechtsstaat nicht möglich sein sollte. Es wird jetzt darauf ankommen, dass es Behörden gibt, die personell und rechtlich in der Lage sind, das zu kontrollieren.
Wie müssen diese Behörden eigentlich ausgestattet sein, damit sie dieses Gesetz durchsetzen und kontrollieren können? Bisher waren viele Beschlüsse oder Anordnungen reine Papiertiger, die in der Realität für die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter keine Relevanz hatten.
Als der Mindestlohn eingeführt wurde, da erzählte mir jemand von der Finanzkontrolle »Schwarzarbeit«, die die reguläre Auszahlung des Lohnes überprüfen, dass in ganz Nordwestdeutschland, wo es eine hohe Dichte von Fleischindustrie gibt, ein einziger Mitarbeiter mehr eingestellt worden sei. Also die »Gefahr« mit einer ungesetzlichen Praxis aufzufallen, war bisher verschwindend gering. Man hat in den letzten Jahren – jetzt sicher auch bedingt durch Corona, aber auch davor schon – die Kontrollen deutlich zurückgefahren.
Es braucht tatsächlich Personal und auch eine Bündelung der Behördenkompetenz. Wir haben in Deutschland eine Zersplitterung der Kompetenzen. In anderen europäischen Ländern gibt es eine Arbeitsinspektion, die auch Sanktionen verhängen kann.
»Mein Mitleid mit den Firmen hält sich da sehr in Grenzen.«
Wie lange laufen Arbeitsverträge in der Fleischindustrie? Wie muss man sich das vorstellen?
Das ist ganz unterschiedlich. Es ist ein Teil des Problems, dass es oft Ketten von Befristungen gibt, was eigentlich in Deutschland gar nicht geht. Aber wenn da jemand als Subunternehmer in der Fleischindustrie in einem Unternehmen am Start ist, dann ist das manchmal so, dass er nicht nur mit einer Firma dort ist, sondern mit mehreren Firmen oder auch an verschiedenen Stellen, und die Leute dann beliebig von der Firma A in die Firma B, C oder D schieben kann und dann wieder in die Firma A, bevor sie Rechte einfordern können.
Es gibt immer wieder einen neuen Anstellungsvertrag, eine neue Probezeit wird vereinbart. Dadurch schaltet man ein Stück Rechtssicherheit für die Arbeitnehmer aus. Das ist diesen Leuten durchaus bewusst. Wer aber kritische Fragen stellt – wer aufbegehrt, wer etwas fordert – fliegt raus. Und es gab sogar Situationen, und die gibt es vielleicht immer noch, dass Leute einen ganzen Stapel von Sachen unterschreiben, wenn sie nach Deutschland kommen und eingestellt werden. Oft Dinge, die sie nicht verstehen, weil sie nicht in ihrer Muttersprache geschrieben sind. Darunter war auch schon mal eine Blanko-Kündigung.
Etliche Arbeiterinnen und Arbeiter stehen zurzeit unter Quarantäne, müssen sich in ihren Unterkünften aufhalten. Wie ist gewährleistet, dass die Vorgabe »eine Person, ein Raum« auch eingehalten wird?
Ich glaube, das wird an den wenigsten Stellen eingehalten. Ehrlich gesagt, kenne ich gar keinen Fall oder kaum einen Fall, wo das jetzt durchgehalten wird. Das ist natürlich auch ein Problem, das man schon lange vorher hätte angehen müssen: dass die Leute menschenunwürdig, gesundheitsgefährdend untergebracht sind. Das war vorher schon auch der Fall, aber jetzt sind sie durch Corona nochmal besonders gefährdet.
Das stellt natürlich die Firmen vor eine gewisse Herausforderung. Mein Mitleid mit den Firmen hält sich da sehr in Grenzen. Das hätten sie lange vorher machen müssen. Jetzt kann man in Hotelkapazitäten ausweichen, und das wird hier und da getan, aber die Frage des sozialen Wohnraums stellt sich natürlich jetzt ganz akut.
Die große Sorge, die betroffene Menschen haben, ist einerseits selbst zu erkranken und andererseits, dass in Quarantäne oder in Krankheit niemand für sie aufkommt, sie nicht bezahlt werden und sie dann nicht zur Arbeit gehen dürfen, aber auch keinen Lohn bekommen. Das ist ja eigentlich in Deutschland völlig ungesetzlich, aber die Sorge ist berechtigt. Bei diesen Subunternehmern war das durchaus gang und gäbe die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, die dann in der Fleischindustrie eingesetzt waren, für die Tage, an dem sie nicht gearbeitet haben, nicht zu bezahlen. Was natürlich die Sorge derzeit noch einmal vermehrt, dass Menschen auch zur Arbeit gehen, wenn sie Symptome haben oder anderweitig krank sind, um ja auch sicherzustellen, dass sie Geld bekommen.
Das heißt, für die Arbeiterinnen, die jetzt in Quarantäne sind oder halt nicht zur Arbeit gehen können, weil ihr Betrieb geschlossen wurde, ist die Lohnfortzahlung nicht garantiert?
Auf alle wird das nicht zutreffen, aber was ich so mitgekriegt habe, haben viele Angst davor, und sie wissen auch, warum sie davor Angst haben, weil sie das selbst schon erlebt haben, dass sie für Krankheitstage oder auch für Urlaub kein Geld bekommen haben.
Wie sind Arbeitsmigrantinnen mit Werkverträgen versichert?
Die meisten dieser Arbeiterinnen und Arbeiter sind mittlerweile nach deutschem Recht sozialversicherungspflichtig angestellt und damit auch krankenversichert. Das ist, wenn man so will, besser geworden in den letzten Jahren. Das war schon mal ungeklärter, als die Menschen über Entsendung kamen. Mein Bruder beschreibt, dass viele sich aber nicht krankschreiben lassen wollen, bei Schnittverletzungen oder Krankheiten, weil sie einfach klare Ansagen gekriegt haben, dass jemand, der zu oft krank geschrieben wird, seinen Job verliert.
Wenn es jetzt tatsächlich so sein wird, dass es diese Werkverträge ab dem 1. Januar 2021 nicht mehr gibt und die Arbeitsmigrantinnen zu Festangestellten werden, wie schätzt Du die Chancen der Gewerkschaften ein, diese Menschen zu organisieren? Und mit welchen Barrieren sind Gewerkschafterinnen generell konfrontiert?
Ich habe in den letzten Jahren sehr gerne mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) zusammengearbeitet, weil ich die Menschen auch engagiert für die Situation der Nichtmitglieder erlebt habe. Zunächst einmal sind die Gewerkschaften für ihre Mitglieder da und vertreten sie, aber gerade die NGG hat das meines Erachtens auch weiter gesehen und sich weiter engagiert. Sie haben tatsächlich in den letzten Jahren auch neue Mitglieder gewonnen, auch unter Arbeitsmigranten. Sicher nicht in der Masse, aber sie haben welche gewonnen.
Eine Schwierigkeit ist, dass Leute aus Rumänien und Bulgarien Gewerkschaften aus der Heimat, wie auch viele andere Behörden, als korrupt kennen, jedenfalls nicht als hilfreich und deshalb Gewerkschaften gegenüber sehr skeptisch sind. Von daher wird man sehen müssen. Das wäre natürlich sehr zu begrüßen, wenn die Arbeitsmigranten, sobald sie in Festanstellung kommen, sich auch gewerkschaftlich organisieren.
Aldi Nord und Süd haben für Ende Mai Preissenkungen bei Wurstwaren angekündigt. Lidl und Rewe werden wahrscheinlich nachziehen. Findest Du, der Staat sollte in der Preisgestaltung des Lebensmittelhandels, insbesondere in die der Marktmonopolisten, eingreifen?
Die fünf großen deutschen Discounter-Ketten spielen in diesem ganzen Spiel von Fleischindustrie, Lebensmittelproduktion und Ausbeutung eine ganz unseriöse Rolle. Dieser Unterbietungswettbewerb im Preis hat eben auch genau die Folge, über die wir hier reden. Das ist in hohem Maße unmoralisch. Die Rechnung bezahlen die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, aber auch, wenn man so will, die Tiere.
Ich komme aus der Region Oldenburger Münsterland, eine Region intensiver Tierhaltung und Landwirtschaft. Man sieht lange schon die Folgen, die das für das Grundwasser hat, für die Böden. Ich weiß nicht, ob der Staat das kann, aber wenn es möglich ist, muss man einen Preis definieren und sagen: »darunter darf es eben nicht sein.« Sonst hat es genau diese Folge: dass der Preis eben nicht mehr das wiedergibt, was dahinter steht an Wert, auch an Aufwand.
»Ich habe das lange so nicht für möglich gehalten, dass es die Zustände, auf die Karl Marx reagiert hat, noch einmal wieder geben könnte in einer sozialen Marktwirtschaft.«
Lässt sich überhaupt gewährleisten, dass ein höherer Preis für Fleischwaren den Arbeiterinnen und Arbeitern zugutekommt?
Die Frage ist, wie und ob der da ankommt. Viele Leute sagen mir, ich würde ja mehr bezahlen, für die Grillwurst oder für das Steak, wenn ich wirklich wüsste, dass es bei den Bauern oder bei den Arbeitern und Arbeiterinnen ankommt. Man könnte das möglicherweise durch eine Zertifizierung einigermaßen sicherstellen. Das ist wie beim Tierwohl. Die Leute, die bereit sind, dafür mehr zu geben, wollen gerne sichergestellt wissen, dass es auch diesem Zweck dient und nicht im Handel stecken bleibt oder irgendwo in anderen Strukturen oder bei den Unternehmen.
Was ist Dein Eindruck, was bekommen die Arbeitsmigrantinnen und -migranten vom Politikum um sie herum mit?
Ich habe diesbezüglich wenig gehört. Vor etwa drei, vier Wochen erzählte mir eine junge Frau aus Rumänien, dass sie vor Jahren mit ihrem Mann hierhergekommen sei und beide auch in der Fleischindustrie gearbeitet haben, sich dort haben rausarbeiten können. Sie sagte, sie nimmt die Situation vieler ihrer Landsleute so wahr, dass diese durchaus ihre Lebens- und Arbeitssituation realisieren, aber viele auch nicht die Kraft haben, sich dagegen aufzulehnen und da rauszukommen, und deshalb auch ein Stück weit resignieren.
Für Leute, die mehrfach abhängig sind in solchen Verhältnissen, stellt sich auch die Frage, wie sie ihre Rechte geltend machen sollen. Wenn sie bei den gleichen Menschen hausen, bei denen sie auch beschäftigt sind, fliegen sie am gleichen Tag aus der Arbeit und aus der Wohnung raus. So etwas geschieht alltäglich, und das spricht sich natürlich rum und führt zu einer großen Furcht. Sie führen ein Leben am Rande, wollen gar nicht auffallen und stehen unter einem wahnsinnigen Druck. Der wirkt sich aus. Da ist eine große Anzahl von Menschen in unserer Gesellschaft, die aber in einer Parallelwelt, in einer Schattenwelt leben. Aktuell weiß ich nicht, ob sie das schon so mitbekommen haben. Ich könnte mir vorstellen, dass es sich schnell herumspricht in den Communities.
Gab es Möglichkeiten für Organisationen vor Ort, die den Menschen ganz konkret in ihrer Arbeitssituation und in ihrer Rechtlosigkeit helfen konnten?
Es gibt seit ein paar Jahren bundes- und landesfinanzierte Förder- oder Beratungsstellen. Insgesamt gibt es etwa 30 Beratungsstellen in Deutschland, wovon viele über Bundesmittel finanziert werden. Dann organisiert der DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) ein Projekt namens »Arbeit und Leben«. Diese Beratungsstellen sind seit einigen Jahren wirklich sehr aktiv, Arbeitsmigrantinnen anzusprechen und sie über ihre Rechte aufzuklären.
Wir haben hier vor Ort selbst einen Verein gegründet, der die Angebote noch darum ergänzt, dass Leute, wenn sie es wollen, auch einen Juristen oder eine Juristin an ihre Seite bekommen bis vor Gericht. Es scheitert oft daran – das klingt ganz banal – dass in den allermeisten Fällen die Betroffenen und Betrogenen nicht bis vor ein Gericht ziehen, weil sie die Prozesskostenhilfe nicht kennen oder die Beratungshilfe, die es für jeden gibt in Deutschland, der Bedarf hat. Viele wissen das nicht oder wissen nicht, wie sie da rankommen, sprechen kein Deutsch, glauben nicht, dass sie einen Anwalt bezahlen können.
Diese Lücke wollen wir schließen, weil das Arbeitsrecht in Deutschland eigentlich davon ausgeht, dass jeder seine Rechte selbst geltend machen kann mithilfe eines Betriebsrates, einer Gewerkschaft oder eben eines Anwalts, einer Anwältin. Wenn wir von dreieinhalb bis vier Millionen Arbeitsmigranten aus dem EU-Ausland in Deutschland ausgehen und etwa 30 Beratungsstellen in Deutschland haben, kann man sich vorstellen, wie die Trefferquote ist. Die Leute werden gebraucht. Damit die Demografie in Deutschland rein ökonomisch aufgefangen werden kann, braucht es einen Netto-Zuzug – das klingt etwas zynisch – von 400.000 Menschen jedes Jahr, in der Regel aus dem EU-Ausland. Deswegen sind diese Leute absolut notwendig. Umso unverständlicher ist es, viele von ihnen so schlecht zu behandeln.
Der Urvater der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Breuning, schrieb in den 1970er Jahren: »Wir alle stehen auf den Schultern von Karl Marx«. Welche Rolle spielt Marx in Deinem Wirken heute?
Das geht mir schon oft durch den Kopf. Diese Erkenntnisse, die ja heute ihre Gültigkeit nicht verloren haben: dass der Arbeiter und die Arbeiterin nur ihre Arbeitskraft in die Waagschale werfen können und nur, wenn sie sich zusammenschließen, eine gewisse Macht haben. Wenn ihre Arbeitskraft unter Preis verramscht wird, dann gibt es eben diese Verwerfungen.
Ich habe das lange so nicht für möglich gehalten, dass man die Zustände, auf die Karl Marx reagiert hat und die ihn sicher auch auf den Plan gerufen haben in der Industrialisierung, dass es so etwas noch einmal wieder geben könnte in einer sozialen Marktwirtschaft. Und das halten viele auch nicht für möglich, bis heute nicht, aber gerade in den Verwerfungen der Fleischindustrie, auch in anderen Branchen, im Versandhandel, bei den Paketdiensten findet man das wieder. Bis dahin kannte ich das nur aus dem Geschichtsunterricht, das Schlafen im Schichtbetrieb, dass drei Leute das gleiche Bett nutzen. Da habe ich gedacht: »Das ist doch 200 Jahre her«. Aber offensichtlich ist es das nicht.
Nell-Breuning war ein sehr klarer Denker, der Dinge schon vorhersehen konnte, wohin sich eine doch zunächst mal sozial eingegrenzte Marktwirtschaft auch entwickeln kann. Man sieht, das ist nicht gesichert, das kann sich zurückentwickeln. Und wenn man den Kommunismus zurückgedrängt hat, wenn er an manchen Stellen auch gescheitert ist, dann hat das natürlich auf der anderen Seite dem Turbokapitalismus Tür und Tor geöffnet. Da müssen auch die Kirchen Stellung beziehen und das nicht einfach zur Kenntnis nehmen oder erschrecken oder was auch immer. Heute fehlt mir, wenn ich das hier so sehe in Deutschland in der Kirche, dieser Wille.
Es gibt nach wie vor sehr engagierte, politisch engagierte und sensibilisierte Theologen und Theologinnen, aber die Gefahr einer Kirche ist immer die Verbürgerlichung und das Sich-Einrichten in einem System, von dem man selbst ganz gut lebt. Die Gefahr sehe ich ganz klar, dass da die Sensibilität nicht ausreichend vorhanden ist.
Und, wie gesagt, das gilt für mich wie für die sonstige Gesellschaft auch: Wenn ich niemanden kenne, den es betrifft, und wenn ich selbst nicht betroffen bin, dann tut es ja gar nicht so weh, wenn Unrecht geschieht. Es müsste der Kirche aber weh tun, auch bei Menschen, die nicht zu ihr gehören.
Peter Kossen ist ein katholischer Priester. Er setzt sich gegen moderne Sklaverei und für faire und würdige Arbeitsbedingungen ein.