15. November 2023
1973 streikten »Gastarbeiter« bei Ford gegen ein System, das sie zu Arbeitskräften zweiter Klasse machte. Der Kampf für die Einheit der Arbeiterschaft ist ihr größtes Erbe, denn er ist das beste Mittel gegen Rassismus – und das einzige gegen den Kapitalismus.
Streikende an den Kölner Ford-Werken, 1973
Es hat ein halbes Jahrhundert gebraucht, doch nun ist endlich der Kölner Ford-Streik im Sommer 1973 in das kollektive Gedächtnis eingegangen – zumindest in das der deutschen Linken und Gewerkschaften. Die Vielzahl der Beiträge, die zum Jahrestag im August veröffentlicht wurden, ist ein beachtliches Zeugnis. Positiv ist vor allem, dass der Ford-Streik in allen linken Debattenbeiträgen in einen Zusammenhang mit den zahlreichen Arbeitsniederlegungen desselben Jahres eingeordnet wird und nicht mehr als Ausnahme allein dasteht, wie es sich konservative Narrative wünschen. So werden auch die Kämpfe bei Pierburg in Neuss oder jene bei Hella in Lippstadt und viele weitere herangezogen. Auch an ihnen hatten migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter einen wesentlichen Anteil.
Tatsächlich war der fünfzigste Jahrestag des Ford-Streiks aber auch Anlass für einige Beiträge der öffentlich-rechtlichen Medien, die sich vor allem auf kulturelle Aspekte konzentrieren und die Lage der »Gastarbeiter« entlang von liberalen Antidiskriminierungsdiskursen thematisieren. Das ist nur folgerichtig angesichts der feierlichen Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier beim Festakt zum sechzigsten Jahrestag des deutsch-türkischen Abkommens 2021: »Die Geschichten der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter verdienen einen Platz in den Geschichtsbüchern.« Es überrascht daher auch nicht die rundweg positive Bezugnahme der Heinrich-Böll-Stiftung, deren Hauptbotschaft die Grünen-Politikerin und Staatsministerin für Kultur und Medien, Claudia Roth, in ihrer Stellungnahme im August mit den Worten zusammenfasste, dass sich damals »ein historischer Wendepunkt in unserer Einwanderungsgesellschaft« ereignet habe.
Nicht selten kreisen jedoch auch linke Beiträge um einen anerkennungspolitischen Schwerpunkt, auch wenn historische Aspekte der politischen Ökonomie des Kapitals durchaus berücksichtigt werden. Mit dem Ford-Streik hörten die »Gastarbeiter« auf, bloße Arbeitskräfte zu sein, sie zeigten, dass sie Menschen waren – so der Grundtenor. Der Ford-Streik ist die Geburtsstunde des migrantischen Widerstands in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist richtig und wichtig, den antirassistischen Horizont auszuleuchten. Doch der klassenpolitische Kern des Ford-Streiks darf nicht unbeachtet bleiben.
Das Jahr 1973 steht in der Bundesrepublik Deutschland vor allem für das Ende der Wunderjahre für Westdeutschland und das kapitalistische Europa. Dass der deutsche Nachkriegsboom ab 1950 aus dem Zusammenspiel von Marshallplan, kaltem Systemkrieg und wirtschaftlicher Anpassung infolge selbstverschuldeter Ruinierung hervorging, ist das eine. Es musste wiederaufgebaut werden, was zerstört worden war.
Das andere ist der mit dem Menschenverlust im Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Bundeswehr entstandene Arbeitskräftemangel in der Bundesrepublik. Dieser sollte durch Anwerbeabkommen mit größtenteils südeuropäischen Ländern und der Türkei ausgeglichen werden. Die Sozialwissenschaftlerin Bafta Sarbo schreibt dazu: »Das bedeutet, dass es ›Gastarbeiter‹ waren, die man konjunkturbedingt entlassen oder auf die man als Reserve zugreifen konnte. Das wurde durch die Gesetzgebung und das sogenannte Inländerprimat institutionalisiert.« In der Folge kam es zu einer Überausbeutung der »Gastarbeiter« durch das deutsche Kapital im Verhältnis zur Ausbeutung deutscher Arbeiterinnen und Arbeiter, die durch dieses Verhältnis einen sozialen Aufstieg erfuhren.
»Die hohen Profite bis Ende der 1960er Jahre beruhten auf der besonders intensiven und gesetzlich abgesicherten Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft.«
Bereits in den ersten Jahren der Bundesrepublik zeichnete sich ab, dass der staatlich institutionalisierte Klassenkompromiss zwischen dem DGB und den Arbeitgeberverbänden einen rassistischen Charakter hat. Ein Teil der arbeitenden Klasse wird in Kooperation mit dem Kapital auf Kosten anderer Teile bessergestellt. Unter dem Label der Sozialpartnerschaft wird die rassistische Spaltung der arbeitenden Klasse politisch verhüllt.
In der Tat verdienten in den 1960er Jahren migrantische Arbeiterinnen und Arbeiter weniger Geld, weil sie in niedrigere Lohngruppen eingestuft wurden, und arbeiteten auch unter schlechteren Bedingungen, weil sie Vertragsarbeiter waren und keine Festangestellten wie ihre deutschen Kollegen. Die Lebensbedingungen beschränkten sich auf die physische Reproduktion. Sie wurden meist in betriebseigenen Wohnheimen am Stadtrand untergebracht. Die Abschottung vom gesellschaftlichen Leben und die geringen Löhne bedeuteten einen erzwungenen Verzicht auf kulturellen Konsum.
Folglich haben die »Gastarbeiter« nicht nur durch ihre geleistete Arbeit Anteil am Wiederaufbau. Auch beruhen die hohen Profite bis Ende der 1960er Jahre auf der besonders intensiven und gesetzlich abgesicherten Ausbeutung ihrer Arbeitskraft. Deshalb steht in der Zeitrechnung proletarischer Klassengeschichte das Jahr 1973 für Widerstand und Kampf für die Einheit der arbeitenden Klasse in der Bundesrepublik. Eine besondere Stellung nimmt dabei der siebentägige »wilde« Streik in den Kölner Ford-Werken vom 24. bis 31. August 1973 ein, der einer der letzten von 440 »wilden« Streiks im Sommer des Jahres sein würde. Was als »wild« verbrämt wird, war in Wahrheit eine politische Selbstermächtigung.
Beim Kölner Ford-Werk waren unter den 33.423 Arbeiterinnen und Arbeitern fast 16.000 migrantischer Herkunft, darunter 11.200 aus der Türkei und 2.200 aus Italien. Weder »wilde Türken« noch »kommunistische Rädelsführer« oder sonstige »Unruhestifter« verursachten den Ausstand. Es ist dokumentiert, dass er am Freitag, dem 24. August, am Fließband in der Y-Halle Endmontage mit vorwiegend migrantischen Arbeitern begann.
Rund fünfhundert türkische Arbeiter hatten ihren Urlaub teilweise unentschuldigt verlängert. Obwohl das gelebte Praxis war, nutzte die Geschäftsführung, die mit einer Absatzkrise konfrontiert war, die verspätete Rückkehr aus, um den Arbeitern abfindungsfrei zu kündigen. Dabei führten sie weder Einzelfallprüfungen durch, noch berücksichtigten sie, dass dies den Leistungsdruck auf die übrige Belegschaft bedeutend steigern würde.
Im Vorfeld des Ausstands verklebten Arbeiter Streikaufrufe auf dem Werksgelände. Die Freitags-Spätschicht in der Y-Halle legte dann »spontan« die Arbeit nieder. Nachdem am Wochenende die gut bezahlten Sonderschichten wieder stattfanden, entglitt der IG Metall ab Montag, dem 27. August, vollends die Kontrolle. Der Streik wuchs sich zu einer regelrechten Fabrikbesetzung mit Aufstandscharakter aus, wobei sich auch Selbstorganisationsstrukturen bildeten, die Arbeiterräten ähnelten. Noch am selben Tag entschied bei einer Abstimmung eine überwältigende Mehrheit dafür, den Streik zu unterstützen und fortzusetzen.
»Auch wenn die Streikenden auf dem Werksgelände die Macht innehatten, war die Öffentlichkeit von der rassistischen Propaganda des Ford-Konzerns beherrscht.«
Wenn der Kölner DGB-Vorsitzende Witich Roßmann in der Zeitschrift Sozialismus von einer »Unvereinbarkeit der Verhandlungs- und der Aufstandslogik« spricht und mit Blick auf dieses Geschehen ein »Desaster« bilanziert, so missversteht er, wie sich Kampfformen aus realen Kampfbedingungen entwickeln. Verhandeln und Aufbegehren sind beides gleichermaßen Momente im Arbeitskampf. Sie wechseln sich ab, sie steigern oder vermindern die Kampfkraft, sie gehen ineinander über, vor allem aber schließen sie sich nicht gegenseitig aus. Roßmanns Entweder-Oder unterteilt hingegen die Streikenden mechanisch in zwei Gruppen, die verantwortungsbewussten »Verhandler« hier und die verantwortungslosen »Aufständischen« dort. Dabei reproduziert er in der Analyse den Klassenkompromiss, der die »Aufständischen« als Unruhestifter beiseite schiebt. Dabei stand der Ford-Streik gerade gegen diesen spalterischen Klassenkompromiss und für die Klasseneinheit.
Zudem verhielten sich die »Aufständischen« auffallend verantwortungsbewusst: Ein Streikkomitee wurde demokratisch gebildet; die Überwachung der Werkstore, Reden, Tänze, Schlafplätze, Streikumzüge, die Nahrungsmittelversorgung organisiert; Alkohol, Gewalt gegen Arbeitswillige und Maschinen per Beschluss verboten. Die elenden Wohn- und Lebensverhältnisse der »Gastarbeiter« wurden erstmals ausführlich mit deutschen Kollegen diskutiert. Gefordert wurde zum Beispiel 1 Mark mehr Lohn und sechs Wochen Urlaub für alle – nicht nur für einzelne Gruppen. Der Streik erhob auch Forderungen, die unmittelbar den Produktionsprozess betrafen, zum Beispiel die Bandgeschwindigkeit herabzusetzen. Deshalb waren von Anfang an auch deutsche Arbeiterinnen und Arbeiter am Streik beteiligt.
Der Betriebsrat und die Führung der IG Metall wandten sich indessen vom Streik ab und arbeiteten vor allem gegen das Streikkomitee, obwohl fast alle Streikenden Gewerkschaftsmitglieder waren. Das war nur konsequent, ließ sich doch der IG-Metall-Vorstand schon 1967 im Rahmen der »konzertierten Aktion« in die »Stabilitätspolitik« der Regierung Willy Brandt einbinden.
Auch wenn die Streikenden auf dem Werksgelände die Macht innehatten, war die Öffentlichkeit von der rassistischen Propaganda des Ford-Konzerns beherrscht, der die Medien, die Politik und die Polizei auf seiner Seite hatte. Seine Strategie: Die Streikenden so schnell wie möglich diffamieren, isolieren und belagern. So führte die von Ford organisierte Gegendemonstration von leitenden Angestellten, Meistern, Werkschutz und zivilen Polizisten am letzten Tag des Streiks zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit den Streikenden, was einen Polizeieinsatz und die Räumung des Werksgeländes nach sich zog. Baha Targün, der wortgewandte Sprecher des Streikkomitees, wurde in »Schutzhaft« genommen und Dieter Heinert, der ins Streikkomitee gewählt worden war, des versuchten Totschlags beschuldigt, um nur einige Beispiele strafrechtlicher Kriminalisierung zu nennen. Der Streik wurde letzten Endes niedergeknüppelt.
Trotz der zweiten Ölkrise und dem Anwerbestopp gingen die »Gastarbeiter« weder zurück in die Passivität noch in ihre Herkunftsländer. Der Ford-Streik hatte aus Objekten bürgerlicher Klassenherrschaft Subjekte proletarischer Klassenpolitik gemacht. Auch der DGB reagierte: Er musste seine Politik hinterfragen und im Nachgang neu bestimmen. Die Industriegewerkschaften übernahmen die Forderung nach einem Recht auf bessere Repräsentation im Betrieb.
Trotz – oder gerade wegen – der zunehmenden staatlichen Repression stieg die Zahl gewerkschaftlich organisierter Arbeiterinnen und Arbeiter mit Migrationsgeschichte von 28,2 Prozent 1973 auf 55,6 Prozent 1991 an. Das machte sich auch in der Betriebsarbeit und in den Betriebsräten bemerkbar und trug dazu bei, dass sich ihre politischen Anliegen in den Gewerkschaftspositionen niederschlugen. Das zeigt sich exemplarisch an der Debatte um das kommunale Wahlrecht für Migrantinnen und Migranten in den 1980ern: So organisierte die IG Metall die Kampagne »Ein Mensch – eine Stimme. Wahlrecht ist Menschenrecht.«
»Migrantische Selbstorganisierung kann vor rassistischer Gewalt schützen, doch nur die Klasseneinheit der Ausgebeuteten kann den Kapitalismus überwinden, der zu seinem Selbsterhalt rassistische Gewalt hervorbringt.«
Der migrantische Widerstand formierte sich nach dem Ford-Streik 1973 mittels Arbeiter- und Kulturvereinen in den Gewerkschaften und veränderte dadurch auch deren institutionelle Struktur. Die Gewerkschaften, die nach wie vor an der Sozialpartnerschaft hingen, hatten nach dem Ford-Streik ihrerseits ihre Strukturen vorsichtig gelüftet. Die Vorstände sahen in den »Gastarbeitern« zumindest einen Machtfaktor, während diese zugleich an der Sozialpartnerschaft rüttelten – manchmal innerhalb der Gewerkschaften, manchmal neben ihnen, je nach den Kampferfordernissen.
Dieser widersprüchliche Prozess des Zusammenwachsens wurde jedoch Ende der 1980er Jahre unter der Regierung von Helmut Kohl schwer erschüttert. Der zunehmende Rassismus im Schatten des Wende-Pathos in den 1990er Jahren und die folgenden rechtsterroristischen Anschläge veranlassten einen Teil des migrantischen Widerstands, sich in die absolute Selbstorganisierung zu begeben.
Gerade der Fokus auf diesen Gesichtspunkt verzerrt im Rückblick den klassenpolitischen Kern des Ford-Streiks. Migrantische Selbstorganisierung kann vor rassistischer Gewalt schützen, doch nur die Klasseneinheit der Ausgebeuteten kann den Kapitalismus überwinden, der zu seinem Selbsterhalt rassistische Gewalt hervorbringt. Was in den vielen Beiträgen zum fünfzigsten Jahrestag vergessen wird: Die »Gastarbeiter« bewiesen im August 1973, dass sie Teil der deutschen arbeitenden Klasse waren. Nur wer den Klassenkompromiss herausfordert, hat Aussicht auf Antirassismus durch Klassenkampf. Der Ford-Streik hat es gewagt.
Mesut Bayraktar ist Autor unter anderem des Romans Aydin (2021), des Theaterstücks Gastarbeiter-Monologe (2021) und des Hörspiels Wenn der Damm bricht – 50 Jahre Streik bei Ford in Köln (2023).