01. Mai 2025
Eine Linke ohne Fortschritt ist eine Linke ohne Zukunft.
»Nach Walter Benjamin wagen Revolutionäre einen ›Tigersprung ins Vergangene‹, indem sie Praktiken und Ideen wiederbeleben, die möglicherweise Hunderte von Jahren zurückreichen.«
Ich bin in den frühen 1950er Jahren in Marianao, einer Gemeinde nahe der kubanischen Hauptstadt Havanna, aufgewachsen. Ich erinnere mich noch, wie aufgeregt die Menschen in unserer Nachbarschaft waren, als die Nebenstraßen der Kommune gepflastert und die Straße, die Marianao mit Havanna verbindet, verbreitert wurde.
Selbst meine jüdischen Einwanderereltern, die nur wenige Jahre zuvor erfahren mussten, dass ihre gesamte Familie im Holocaust ausgelöscht worden war, teilten dieses hoffnungsfrohe Gefühl des Fortschritts. Dabei sahen weder sie noch unsere Nachbarn – oder die Kubanerinnen und Kubaner insgesamt – diesen Fortschritt als selbstverständlich oder unumgänglich an.
Diese und ähnliche Erfahrungen erklären, wie der materielle Fortschritt Teil dessen wurde, was der Soziologe Alvin Gouldner als meine »Hintergrundannahmen« bezeichnet hätte – grundlegende Ansichten und Vorstellungen über Politik und die Welt, die ein Individuum unmittelbar prägen.
Meine Überzeugungen wurden bestärkt, als ich in den frühen 1960er Jahren die Universität von Chicago besuchte. Von den Hochbahnen der Stadt aus konnte ich die maroden und verarmten Ghettos der South Side sehen, die mich an die Armut erinnerten, die ich von zu Hause kannte. Mir war zwar bewusst, dass die politische Linke in den USA meine Auffassung in Bezug auf materiellen Fortschritt nicht in der ganzen Breite teilte, aber ich war doch beeindruckt von der wachsenden Zahl linker Akademikerinnen und Intellektueller, die begannen infrage zu stellen, was Fortschritt bedeutet und ob er überhaupt wünschenswert sei.
Zu diesen Strömungen gehörte prominent die Frankfurter Schule, ein Teil des intellektuell-politischen Phänomens, das der Historiker Perry Anderson als »westlichen Marxismus« bezeichnet hat. Dabei handelte es sich um eine höchst diverse Gruppierung von Intellektuellen, zu der etwa Walter Benjamin, Lucio Colletti, Lucien Goldmann und Karl Korsch zählten. Trotz ihrer unterschiedlichen Perspektiven hatten alle diese Denker eines gemeinsam: ihre Reaktion auf die Niederlage des klassischen Marxismus gegen Faschismus, Stalinismus und Sozialdemokratie und ihre Tendenz, sich von Politik und Wirtschaft fernzuhalten und sich mit philosophischen Fragen zu befassen – in der Regel mit einer idealistischen, von der tatsächlichen Praxis losgelösten Tendenz.
Diese Revolte gegen den klassischen Marxismus hilft, eine Kluft zu erklären, die sich in der Linken aufgetan hat: die Kluft zwischen linken Aktivistinnen und Organizern, die einem praktischen Fortschrittsglauben folgen, der ihr Engagement in sozialen Kämpfen begründet, und vielen linken Intellektuellen, die vor allem Kritik am Fortschrittsbegriff üben.
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Samuel Farber ist Politikwissenschaftler und Soziologe mit Arbeitsschwerpunkt auf seinem Geburtsland Kuba sowie Autor zahlreicher Bücher, darunter The Cuban Revolution Reconsidered (University of North Carolina Press).