11. August 2021
Hunderttausende protestieren gegen die Einführung eines »Gesundheitspasses« in Frankreich. Was sich auf den Straßen zeigt, ist vor allem Ausdruck einer tiefen politischen Entfremdung.
Im Protest artikuliert sich eine Ablehnung von Macrons repressivem Führungsstil, hier in Toulouse am 7. August 2021.
Von der deutschen Presse zuerst kaum wahrgenommen, gehen in Frankreich seit Mitte Juli zunehmend mehr Menschen gegen die Corona-Politik des französischen Präsidenten Emmanuel Macron auf die Straße. Am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli, waren es noch einige Tausende, doch nun demonstrierten bereits das zweite Wochenende in Folge mehrere Hunderttausende. Ausgangspunkt der Proteste war die Ankündigung einer erneuten Verschärfung der Regeln zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie in Frankreich. Neben der Einführung einer Impfpflicht für Beschäftigte, die unmittelbaren Kontakt zu Risikogruppen haben, sollen die neuen Auflagen auch die Impfbereitschaft erhöhen. Dabei erzeugt vor allem die Strategie, mit der die Macron-Adminstration eine vollständige Durchimpfung der Bevölkerung zu erreichen gedenkt, für massiven Gegenwind in der Bevölkerung. Es wird deutlich, dass die Corona-Politik Macrons dem gleichen Kurs folgt, den er seit seinem Amtsantritt 2017 eingeschlagen hat.
Macron dürfte der durch die Wahlurne am wenigsten legitimierte Präsident der Fünften Republik sein. Er erhielt im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 2017 kaum 24 Prozent der Stimmen und siegte in der Stichwahl letztlich nur aufgrund der Präsenz der Rechtspopulistin Marine Le Pen. Seit Amtsantritt setzte er eine Welle von neoliberalen Reformprojekten um. Dagegen gingen sämtliche gesellschaftliche Gruppen auf die Straße.
Sichtbarster Ausdruck dessen war die Bewegung der Gelbwesten. In ihr kulminierte die Ablehnung von Macrons antidemokratischem Regierungsstil mit der Wut auf die etablierte Politik. Die parteipolitisch kaum fassbare, aber populäre Bewegung versetzte Macron und seinen engsten Unterstützerkreis derart in Angst, dass sie extrem repressiv gegen die Gelbwesten vorgingen, um sie regelrecht von den französischen Straßen zu spülen. Die Bilder der exzessiven Polizeigewalt und die Härte der Strafen, die Hunderten Demonstrierenden auferlegt wurden, sind der französischen Öffentlichkeit noch immer in Erinnerung.
Jenseits des kleinen Kreises von Unterstützerinnen und Unterstützern schlägt dem amtierenden Staatschef offene Ablehnung entgegen. Sowohl die Kommunalwahlen im Jahr 2020 als auch die Regionalwahlen in diesem Jahr entwickelten sich für Macrons Partei La République en Marche (LREM) zum Desaster. In keiner relevanten Gemeinde und auch keiner Region konnten die »Marschierer« von Macron Machtpositionen erringen. Jenseits des Präsidentenpalasts bleibt Macrons Bewegung ohne jeden Unterbau.
Auch der Umgang der Regierung mit der Corona-Pandemie gleicht einem Desaster. Dies versuchte Macron durch eine Verschärfung des Diskurses über die innere Sicherheit seit dem Herbst 2020 politisch zu überspielen. Es war von Anfang an absehbar, dass das französische Gesundheitssystem mit der ersten Covid-19-Welle im Frühjahr 2020 schnell an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit gebracht werden würde.
Für eine Bevölkerung von 67 Millionen Menschen verfügte der französische Staat über kaum 10.000 Intensivbetten. Zudem wurden allein zwischen 2013 und 2017 fast 70.000 Klinikbetten und seit dem Amtsantritt Macrons mindestens 7.000 weitere Betten abgebaut. Aktuell sind mehrere Großprojekte im Entstehen, bei denen durch Fusionen kleiner Kliniken weitere Kapazitäten und Personal weggekürzt werden sollen. Denn auch in Frankreich ächzen die Kliniken unter dem Druck, durch die Logik der Fallpauschalen Einnahmen erzielen zu müssen. Der Mangel an Ressourcen und Personal führte im März 2020 schnell dazu, dass Kliniken überfüllt waren und infizierte Pflegekräfte (denen es auch an Schutzausrüstung fehlte) zur Weiterarbeit gezwungen wurden.
Die Macron-Administration reagierte auf diese Krise allerdings in erster Linie mit einer Art institutionellem Putsch, indem sie das verfassungsrechtlich ohnehin schon schwache Parlament zwang, sich selbst zu entmachten. Alle Entscheidungen zur Corona-Politik wurden in die Hand Macrons und eines »Nationalen Verteidungsrates« gelegt, dem formal nicht einmal der Gesundheitsminister angehört. Anstatt die Situation in den Kliniken zu verbessern, beschließt die französische Politik seither Ausgangssperren und Überwachungsmaßnahmen.
Nach den ersten Corona-Wellen im Frühjahr und Sommer 2020 hatte die Ermordung des Lehrers Samuel Paty zur Folge, dass die Politik vordergründig nur noch über die innere Sicherheit diskutierte. Anstatt die sozialen Folgen der ersten Monate der Pandemie im Land aufzuarbeiten, wurde daraufhin unter der Federführung von Innenminister Gérald Darmanin ein neues Sicherheitsgesetz vorangetrieben, dass ein vollständiges Fotografieverbot von Polizeikräften im Dienst ermöglichen sowie allen Gemeindepolizistinnen und -polizisten und Angestellten von privaten Sicherheitsdiensten hoheitliche Rechte zuerkennen sollte. Zudem wurde ein Gesetz verabschiedet, welches dem Innenministerium erlaubt, vermeintliche »antirepublikanische« Vereine und Zusammenschlüsse zu verbieten. Eine klare Definition der Gruppierungen, die von diesem Gesetz belangt werden könnten, wurde nicht formuliert. Allem Anschein nach ging es darum, muslimische Vereinsstrukturen zu stigmatisieren und pauschal unter Terrorverdacht zu stellen. Zahlreiche Massendemonstrationen ereigneten sich in dieser Zeit, da sich in der französischen Zivilgesellschaft Unmut darüber regte, dass der Staatspräsident und die Regierung versuchten, die Handlungsbefugnisse der Exekutive auf Kosten demokratischer Kontrolle einzuschränken – und all dies unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung.
Währenddessen blieben etwa die Schulen die meiste Zeit des Winters geöffnet, doch versäumte es die französische Regierung aufgrund von Personalmangel für kleinere Klassengrößen zu sorgen. In manchen Schulen führte das dazu, dass aufgrund der Quarantäne-Anordnungen für Lehrende phasenweise Klassengrößen von über vierzig Kindern und Jugendlichen erreicht wurden. Verschärfend kommt hinzu, dass die letzte Reform der gymnasialen Oberstufe zu einem Abbau von Lehrkräften geführt hatte.
Gleichzeitig weigerte sich Macron, die finanzielle Situation von Studierenden zu verbessern. Viele von ihnen hatten ihre Nebenjobs verloren und waren auf Lebensmittelspenden angewiesen – 74 Prozent der Studierenden geben an, aktuell finanzielle Schwierigkeiten zu haben und jeder fünfte von ihnen lebt unterhalb der Armutsgrenze. Vonseiten der politischen Linken und der Studierendengewerkschaften wurde daher gefordert, auch jungen Menschen unter 25 Jahren Anspruch auf Sozialleistungen zu gewähren, was von Macron als Appell zur Faulheit ausgeschlagen wurde. Währenddessen stiegen die Vermögen der reichsten Französinnen und Franzosen in der Krise um weitere 30 Prozent an. Die Folgen von Macrons neoliberaler Agenda, die seit 2017 auf die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsrechts sowie eine Umverteilung zugunsten großer Vermögen mittels Steuerentlastungen ausgerichtet ist, trat nur noch deutlicher zu Tage.
Während Macron in erster Linie durch Einschränkungen bürgerlicher Grundfreiheiten den Eindruck erweckte, das Management der Covid-Krise läge in der Verantwortung jedes einzelnen Bürgers, zeigte sich schon im Frühjahr, das Teile der Gesellschaft diese Einschätzung nicht teilten. Gerade jüngere und einkommensschwächere Personen betrachteten das Krisenmanagement als zunehmende Freiheitsberaubung und als sozial ungerecht, wie eine Studie des CRÉDOC-Institutes im Januar dieses Jahres herausfand. Junge Menschen versuchten bereits zu diesem Zeitpunkt, strikte Veranstaltungsverbote im öffentlichen Raum zu umgehen. Die Polizeieinsatzkräfte gingen wiederum mit unverhältnismäßiger Härte dagegen vor.
Es zeigt sich, dass in Frankreich bereits seit Monaten das Bedürfnis nach einer Rückkehr selbstbestimmter Formen der Risikoabschätzung im Umgang mit Covid-19 besteht. Die eklatanten Mängel im Gesundheitssystem werden wahrgenommen und eine Individualisierung von Verantwortung zurückgewiesen. Macrons Versuch, die ebenfalls chaotisch ablaufende Impfkampagne – Termine sind schwer zu bekommen, ärmere Stadtviertel werden vernachlässigt – zu retten, indem er mit Druck vermeintlich kollektives und patriotisches Verhalten erzwingt, musste daher scheitern.
Es wundert also nicht, dass die Demonstrationen, die jetzt stattfinden, wiederum gänzlich andere Menschen zusammenführen als die Protestbewegungen der vergangenen Jahre. In erster Linie zeigt sich auf den Straßen die Empörung der Bevölkerung darüber, dass Macron erneut keine Perspektive für ein Ende der Krise bietet und dass klare Aussagen der Exekutive übergangen werden. So wurde eine massive Ausweitung der »Grünen Pässen« (in Frankreich »pass sanitäire« genannt), die Auskunft über die vollständige Impfung, die Genesung oder ein negatives Testergebnis geben, vor Wochen noch explizit ausgeschlossen. Mittlerweile wurde die Notwendigkeit der »Grünen Pässe« im Eilverfahren auf alle Lebensbereiche beschlossen, ohne dass Chancen und Risiken einer solchen Maßnahme eingehend diskutiert wurden. Insbesondere die Tatsache, dass viele Menschen in Frankreich die Aktivitäten der Pharmaindustrie kritischer betrachten als in der Bundesrepublik und ihre ökonomischen Interessen sowie ihre politische Nähe zum wirtschaftsnahen Staatspräsidenten Macron von den »kleinen Leuten« hinterfragt werden, trägt nicht dazu dabei, einen reibungslosen Anstieg der Impfquoten zu erreichen. Die Sorge, aus wirtschaftlichem Kalkül zur Impfung aufgefordert zu werden, hat das Misstrauen befeuert.
Da die »Grünen Pässe« mittelfristig auch für Kinder und Jugendliche gelten sollen, sind auch viele Familien unter den Demonstrierenden zu finden. Da die gegenwärtigen Proteste nicht von politischen Aktivistinnen und Aktivisten dominiert werden, versuchten Kräfte von rechts außen schon sehr früh, sich die Empörung und Verunsicherung der Beteiligten zu eigen zu machen. Aus den Reihen der radikalen Linken wurde deshalb dazu aufgerufen, sich aktiv an den Protesten zu beteiligen. Später folgten auch die Gewerkschaften.
Linke Kräfte wenden sich aber nicht gegen das Ziel, eine hohe Impfquote zu erreichen, sondern vielmehr gegen den »pass sanitaire«. Kritisiert wird die Implementierung einer allumfassenden digitalen Überwachungskultur sowie die Suspendierungen oder sogar Entlassungen, die drohen, sollten Beschäftigte, die der Nachweispflicht dieses »Grünen Passes« unterliegen, dieser nicht nachkommen. Zudem wird eine Impfpflicht abgelehnt, da sie dem Recht auf eine aufgeklärte, eigenständige Entscheidung für oder gegen eine Impfung widerspricht. Anstelle dessen fordern linke Akteure die Ausweitung niederschwelliger Impfangebote – bislang werden Termine nur über eine private Onlineplattform vergeben. Zudem soll die öffentlich finanzierte Forschung ausgebaut, staatliche Produktionskapazitäten für Impfstoffe und Medikamente geschaffen sowie verfügbare Patente für Covid-19-Imfpstoffe freigegeben werden.
Vonseiten der Linken wird zudem auf den Zusammenhang zwischen den Protesten gegen den »pass sanitaire« und den Sozialabbau der letzten Jahre hingedeutet. Schließlich gehen Sanktionen, wie etwa der Verlust des Arbeitsplatzes, auch wieder auf Kosten der Arbeitenden. Inwieweit neue Formen der Totalüberwachung der Zivilgesellschaft letztendlich sozialen und politischen Protest einschränken könnten, wird ebenso mit Sorge betrachtet.
Auch wenn die aktuellen Proteste auf den ersten Blick wie eine unpolitische, momentane Erhebung gegen eine simple Sachfrage erscheinen, zeigt sich bei näherem Blick, dass die Krise tiefer reicht. Denn letztendlich wird auch in Frankreich die Bekämpfung von Covid-19 auf dem Rücken der Menschen ausgetragen. Statt die Grenzen zwischen individuellen Rechten und kollektiven Erwartungen demokratisch zu verhandeln, zeigt sich in Frankreich eine postdemokratische Konstellation, die die parlamentarischen Rechte aushöhlt und gesellschaftlichen Protest kriminalisiert. Es erscheint daher wie ein Treppenwitz, dass ausgerechnet die französische Polizei von jeder Form der Impfverpflichtung ausgenommen wird.
Sebastian Chwala ist Politikwissenschaftler und lebt in Marburg. Er veröffentlicht regelmäßig zu Themen der französischen Politik.
Sebastian Chwala ist Politikwissenschaftler und lebt in Marburg. Er veröffentlicht regelmäßig zu Themen der französischen Politik.