17. Juni 2024
Die von Emmanuel Macron ausgerufenen Neuwahlen in Frankreich gelten als große Chance für Marine Le Pen, doch die neugebildete linke Nouveau Front Populaire könnte sie noch stoppen. Mit einem radikalen Programm will sie Frankreichs Demokratie wiederbeleben.
Angehörige der Nouveau Front Populaire demonstrieren in Paris gegen die extreme Rechte, 15. Juni 2024.
Die Nouveau Front Populaire (Neue Volksfront) ist da: Am vergangenen Donnerstagabend haben die vier führenden linken Parteien Frankreichs ein umfassendes Bündnis geschlossen. Ihr Ziel ist es, Marine Le Pens Rassemblement National bei den anstehenden Neuwahlen zu besiegen – und den Grundstein für eine andere Politik zu legen.
La France Insoumise, die Parti Socialiste, die Parti Communiste und Les Écologistes werden bei der ersten Wahlrunde am 30. Juni in allen 577 französischen Wahlkreisen mit einem gemeinsamen Block antreten. Aufgrund der Spaltung des linken Flügels erschien eine solche Einigung im Vorfeld des 9. Juni noch unerreichbar; bei den Europawahlen hatte die Liste des Rassemblement National mit Jordan Bardella als Spitzenkandidat mit einem zweistelligen Vorsprung vor allen anderen Parteien gewonnen. Der historische Sieg der radikalen Rechten veranlasste Präsident Emmanuel Macron noch am Wahlabend, überraschend die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen anzusetzen.
Vergangene Woche trafen sich die Führungen der linken und grünen Parteien in einem Konferenzzentrum in der Nähe der Nationalversammlung, um den 150 Punkte umfassenden »Legislativvertrag«, der die politischen Grundlagen des Bündnisses bildet, genauer auszuarbeiten und vorzustellen. »Wir werden mit dem Ziel regieren, das Leben der Menschen zu verändern«, betonte die Vorsitzende der Écologistes, Marine Tondelier. Sie und die anderen Spitzenpolitiker des linken Flügels legten in Paris die wichtigsten Eckpunkte des potenziellen Regierungsprogramms fest. Dazu gehören eine Erhöhung des Mindestlohns, Investitionen in den öffentlichen Dienst, die Aufhebung von Macrons Rentenreform, eine Wiedereinführung diverser Steuern auf die größten Vermögen sowie der Übergang zu einem System der »ökologischen Planung«.
Angesichts der drohenden Gefahr einer rechtsradikalen Regierung mag die Nouveau Front Populaire auf den ersten Blick wie ein »Überlebenspakt« zwischen den Parteien erscheinen. Doch sie ist mehr als das: Die Parteiführungen versprechen, eng mit sozialen Bewegungen und Verbänden zusammenzuarbeiten, um eine dauerhafte Koalition gegen rechts zu bilden. Nach den Erklärungen der Parteispitzen trat ein Gewerkschafter der Confédération Générale du Travail von der kürzlich geschlossenen Stellantis-Autofabrik in einem Pariser Vorort auf das Podium und erklärte die »volle Unterstützung« für das Bündnis. Ihm folgte der Vorsitzende von Greenpeace Frankreich, der das Programm der Volksfront lobte. Dieses sei »der Herausforderung gewachsen, die Gesellschaft umzugestalten« und müsse sich in Zukunft daran messen lassen.
Frankreichs oft zerstrittene Linksparteien mussten sich zusammenreißen, um die Einigung zu erreichen. Die Nouveau Front Populaire ist im Wesentlichen eine Wiederbelebung des Bündnisses Nouveau Union Populaire Écologique et Sociale (NUPES), das im Vorfeld der Parlamentswahlen im Juni 2022 gegründet worden war. Damals trug NUPES dazu bei, dass Macron keine absolute Mehrheit in der Nationalversammlung erreichen konnte.
Doch nach den Anschlägen der Hamas am 7. Oktober und dem israelischen Angriff auf den Gazastreifen zerbrach dieses ohnehin recht instabile Bündnis. Dass sich die Parteien nun in weniger als einer Woche wieder zusammenfinden konnten, nachdem sie bei den Europawahlen noch gegeneinander angetreten waren, hat viele überrascht – vermutlich auch Macron selbst, dessen rasche Ankündigung der Neuwahlen sicherlich auch darauf abzielte, die Spaltung in der französischen Linken für sich und seine Partei zu nutzen.
Tatsächlich schienen die EU-Wahlen die Konfrontation zwischen der sozialdemokratischen Parti Socialiste und La France Insoumise, der dominierenden Partei im NUPES-Bündnis sowie der stärksten linken Kraft im scheidenden Parlament, weiter zu verschärfen. Eine wiedererstarkte Parti Socialiste feierte ihren relativen Erfolg bei der Wahl am vorvergangenen Sonntag (mit einem Stimmenzuwachs von sechs auf 14 Prozent) und sah diesen als Rechtfertigung für die weitere Marginalisierung von La France Insoumise (die zehn Prozent erreichte – ein Rückgang gegenüber den Nationalratswahlen 2022, allerdings ein Zuwachs gegenüber der letzten Europawahl 2019). Es gebe in der Linken nun ein neues »Kräfteverhältnis«, sagte Raphaël Glucksmann, Spitzenkandidat der Parti Socialiste, in einem hektischen Fernsehinterview am Montagabend nach der Wahl.
»Ohne Einigkeit haben Frankreichs linke Parteien bei den anstehenden Neuwahlen keine Chance. Zeitgleich würde die Gefahr eines haushohen Sieges des Rassemblement National noch größer werden.«
Die linken Bündnisverhandlungen waren am vergangenen Donnerstagmorgen kurzzeitig unterbrochen worden, vor allem wegen Streits über der Aufteilung der Parlamentswahlkreise, aber auch wegen Differenzen über die Inhalte des Bündnisprogramms. Doch man konnte sich einigen: In der ersten Wahlrunde am 30. Juni kämpfen die Kandidatinnen und Kandidaten von La France Insoumise um 229 Sitze; hinzu kommen 175 Kandidaturen der Parti Socialiste in anderen Wahlkreisen, 92 der Écologistes und 50 der Parti Communiste. Diese Verteilung zeigt eine leichte Verschiebung zuungunsten von La France Insoumise und vor allem zugunsten der Parti Socialiste.
Weitere frühere Konfliktpunkte waren die Bezeichnung der Hamas als »terroristische Organisation« sowie der Krieg in der Ukraine. Die Reaktion von La France Insoumise auf den 7. Oktober 2023 – wobei die Partei sich weigerte, den Hamas-Angriff als Terroranschlag zu bezeichnen – war der unmittelbare Auslöser dafür gewesen, dass die Parti Socialiste im vergangenen Herbst das Bündnis mit der NUPES aufkündigte.
Die Meinungsverschiedenheiten sind aufgrund einer offensichtlichen Tatsache nun aber in den Hintergrund getreten: Ohne Einigkeit haben Frankreichs linke Parteien bei den anstehenden Neuwahlen keine Chance. Zeitgleich würde die Gefahr eines haushohen Sieges des Rassemblement National noch größer werden. In Paris und anderen Städten haben in der vergangenen Woche tausende Menschen an mehreren Abenden Kundgebungen abgehalten, um eine Einheit der Linken zu fordern. Am Samstag gingen Hunderttausende auf die Straße, um einen ersten »Nationalen Aktionstag« gegen den Rassemblement National einzuläuten. Nun gibt es tatsächlich eine Kraft und ein politisches Programm, hinter dem sich diese Menschen sammeln können.
Der von der Nouveau Front Populaire vorgeschlagene »Legislativvertrag« enthält zwar einige Änderungen gegenüber dem NUPES-Programm von 2022, beinhaltet aber dennoch ein breit gefächertes Reformprogramm. Der Plan der Linken ist dabei in drei Phasen unterteilt. In den ersten fünfzehn Tagen einer linken Regierung soll es eine Reihe von »Sofortmaßnahmen« geben, darunter eine umgehende Erhöhung des Mindestlohns auf monatlich 1600 Euro nach Steuern, Preiserhöhungsstopps für lebensnotwendige Produkte sowie Energie, Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und eine Ablehnung der EU-Defizitregeln – allerdings ohne die frühere Forderung von La France Insoumise, die EU-Verträge bewusst zu »missachten«.
In den ersten hundert Tagen sollen darüber hinaus die Grundlagen für eine vorgeschlagene allgemeinere »Kurskorrektur« geschaffen werden. Diese soll durch fünf Gesetzespakete erreicht werden, die die Bereiche Kaufkraft, Bildung, Gesundheitssystem, »ökologische Planung« und die »Abschaffung der Privilegien für Milliardäre« betreffen. In den darauffolgenden Monaten, die als »Transformation« bezeichnet werden, sollen die öffentlichen Versorgungsdienste nachhaltig gestärkt, das »Recht auf Wohnen«, eine grüne Reindustrialisierung, Reformen der Polizei und der Strafjustiz sowie Verfassungsänderungen durchgesetzt werden, die letztlich zur Gründung einer »Sechsten Republik« führen und das derzeitige System mit seinem Monarchie-ähnlichen Präsidentenposten ablösen.
Der »Legislativvertrag« der Linken würde einen klaren Bruch mit dem bisherigen Leitmotiv der Macron-Jahre darstellen: Letztere waren geprägt von Angriffen auf den Sozialstaat und einer Aushöhlung der öffentlichen Daseinsvorsorge sowie einer Umverteilung in Richtung der reichsten Menschen in Frankreich. Die potenzielle neue linke Regierung will Macrons Reformen in der Arbeitslosenversicherung rückgängig machen (die neueste Version soll in diesem Sommer in Kraft treten).
Der Plan sieht außerdem Lohnerhöhungen für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und ein kostenloses Mittagessen in den Schulkantinen ab dem kommenden September vor. In den ersten fünfzehn Tagen soll darüber hinaus die Macron’sche Anhebung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre zurückgenommen werden. Nicht ins Programm aufgenommen wurde hingegen das frühere Wahlversprechen von La France Insoumise, das Renteneintrittsalter auf 60 Jahre herabzusetzen.
»Die Linksallianz ist mehr als nur eine Reaktion auf Le Pen: Sie tritt mit einem detaillierten und umfassenden Plan für eine andere Politik und eine andere Regierungsführung in Frankreich an.«
Im Gegensatz zu Macrons Wohltaten für die Reichen und das Großkapital sieht der Plan der Linken vor, diverse vormalige Steuerregelungen wieder einzuführen. Das Bündnis fordert unter anderem die Wiederaufnahme einer Vermögenssteuer auf besonders große Vermögen, die zu Beginn von Macrons Präsidentschaft durch eine kleinere und weniger progressive Steuer auf Immobilienvermögen ersetzt worden war. Ebenso fordert das Linksbündnis die Rückkehr zu einer gestrichenen »Wegzugssteuer« auf Vermögen, die aus dem Land abgezogen werden, sowie eine neue, verschärfte Pauschalsteuer auf Kapitalerträge. Da einige Konzerne wie der Ölmulti Total seit der Energiekrise riesige Profite eingefahren haben, fordert das Bündnis außerdem eine Steuer auf »Übergewinne«.
Außenpolitisch würde die Volksfront, wenn sie denn gewählt wird, mit Blick auf den israelisch-palästinensischen Konflikt den wohl größten Politikwechsel einer westlichen Macht seit dem 7. Oktober 2023 vollziehen. In ihrem Abkommen fordern die linken Parteien einen sofortigen Waffenstillstand im Gaza-Krieg sowie die Freilassung aller israelischen Geiseln und der palästinensischen politischen Gefangenen, die in israelischen Gefängnissen sitzen.
Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, wollen sie ein Waffenembargo durch- und das Assoziierungsabkommen der EU mit dem israelischen Staat aussetzen. Die Linksallianz bezeichnet die Anschläge der Hamas vom 7. Oktober als »terroristisch«, fordert aber gleichzeitig Sanktionen gegen die Regierung von Benjamin Netanjahu und setzt sich dafür ein, dass der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen israelische Regierungsbeamte, einschließlich des derzeitigen Regierungschefs, vollstrecken kann. Im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt soll es eine »sofortige Anerkennung« der palästinensischen Staatlichkeit geben.
Das Bündnis bekräftigt außerdem »bedingungslos die Souveränität und Freiheit des ukrainischen Volkes sowie die Unversehrtheit seiner Grenzen«. In der Vereinbarung heißt es, man wolle sich für weitere Waffenlieferungen an die Ukraine, den Erlass der ukrainischen Auslandsschulden und die Beschlagnahmung der Vermögen von russischen Oligarchen in Frankreich einsetzen.
In den kommenden Wochen werden die Nouveau Front Populaire und ihr »Legislativvertrag« sicherlich das Ziel zahlreicher Anfeindungen und Schmähungen sein. Macrons Verbündete sowie Publizisten werden Horrorgeschichten über einen faktischen Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union oder eine drohende Finanzkrise verbreiten. In Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt dürften einige behaupten, mit den Linken am Steuer drohe der Antisemitismus zur französischen Staatsdoktrin zu werden. Zentristen werden vor einem Linksbündnis warnen, das immer noch von La France Insoumise geprägt ist, und entsprechende Argumente vorbringen, warum eine Stimme für diese Partei genauso gefährlich sei wie eine Stimme für Le Pen.
Faktisch ist aber durchaus denkbar, dass die neue Volksfront zur Hauptkonkurrentin des Rassemblement National wird. Das belegen aktuelle Umfragen. Die vermutlich beste Nachricht ist, dass die Linksallianz mehr ist als nur eine Reaktion auf Le Pen: Sie tritt mit einem detaillierten und umfassenden Plan für eine andere Politik und eine andere Regierungsführung in Frankreich an.
Harrison Stetler ist ein freier Journalist und Lehrer aus Paris.