26. Oktober 2023
Der französische Innenminister Gérald Darmanin wünscht sich, dass Familien von »Straftätern« aus Sozialwohnungen geworfen werden können. Das tritt alle bestehenden Rechtsgrundsätze mit Füßen – passt aber zum repressiven Vorgehen der Regierung in den Banlieues.
Gérald Darmanin bei einem Interview in Paris, 7.9.2023.
Am 28. August brüstete sich das Büro des Präfekten des Départements Val d’Oise auf Social Media mit der Räumung einer Familie aus einer Sozialwohnung. Teil dieser Familie war ein Mann, der zuvor zu zwölf Monaten Gefängnis verurteilt worden war, weil er während der Unruhen in den Pariser Banlieues im Juni ein Optikergeschäft geplündert hatte. Auslöser für die damaligen Krawalle war die Tötung des siebzehnjährigen Nahel Merzouk durch die Polizei gewesen.
Die Mitteilung der Präfektur wurde mit Emojis, demütigenden Fotos und dem Hashtag #DroitsEtDevoirs (Rechte und Pflichten) versehen – eine Anspielung auf das Mantra von Präsident Emmanuel Macron, wonach Sozialhilfe ein Privileg sei, das sich durch Leistung und Pflichterfüllung erwerben lässt. Der Beitrag löste einen Sturm der Entrüstung aus.
Der Post der Präfektur ist jedoch Ausdruck eines Bestrebens in vielen Bereichen des französischen Staatsapparats, mit harter Hand zu regieren. Die Ankündigung der Räumung kann durchaus in dem Sinne gelesen werden, dass potenziellen »Unruhestiftern« nur ordentlich Angst eingejagt werden müsse, und sie zeugt von einem großen Maß an kleinbürgerlichem Sadismus. Im konkreten Fall nahm die Lokalregierung es mit der Wahrheit nicht ganz so genau: Denn bald schon stellte sich heraus, dass die Zwangsräumung der Familie bereits seit Längerem gerichtlich angeordnet worden war, weil die Miete nicht bezahlt wurde. Normalerweise dauern solche Verfahren allerdings deutlich länger und werden oftmals verzögert. Von den vielen Räumungsbescheiden, die in einem Département wie Val d‘Oise anhängig sind – einem weitläufigen Gebiet, das sich sowohl über einige wohlhabende Vororte als auch eine Reihe von Arbeitervororten nordwestlich von Paris erstreckt – wurde offensichtlich die Familie des Randalierers herausgegriffen. Ihre Räumung wurde als Beispiel für die unerschütterliche Entschlossenheit des Staates angeführt, die Kriminalität in den Griff zu bekommen.
»Die Polizei und die Präfektur haben einen recht großen Handlungsspielraum«, erklärt Manuel Domergue, Forschungsdirektor der Stiftung Abbé Pierre, gegenüber Jacobin. »Bei allen Familien, gegen die Räumungsbescheide vorliegen, kann die Polizei diese Räumung durchführen – oder eben nicht. Es gibt ein hohes Maß an Ermessensspielraum und Willkür der Präfektur bei solchen Entscheidungen.«
So mag die Räumungsanordnung technisch gesehen im Einklang mit dem Gesetz stehen, von Präfekt Philippe Court wurde sie in jedem Fall instrumentalisiert. Für Rechtsexperten kommt der Fall Val d‘Oise einer doppelten Verurteilung und einer Kollektivstrafe gleich, die sich sowohl in der Gefängnisstrafe des Verurteilten als auch in der Räumung der gesamten Familie niederschlägt. Dies ist bezeichnend für die Art und Weise, wie Macrons Regierung innerhalb der Grenzen des Gesetzes manövriert, um Unruhen einzudämmen und ohnehin schon marginalisierte Menschen in der französischen Gesellschaft zu überwachen und unter Kontrolle zu halten.
»Der Sohn dieser Familie, ein volljähriger Mann, hat eine Straftat begangen und wurde dafür verurteilt«, fasst Domergue zusammen. »In der Folge wird seine ganze Familie aus ihrer Wohnung vertrieben, einschließlich der jüngeren Kinder. Wir müssen uns auch fragen, wie und wo sie nun unterkommen. Denn es besteht die Gefahr, dass sie [bei staatlichen oder privaten Vermietern] nun auf der schwarzen Liste stehen.«
Wenn es nach Innenminister Gérald Darmanin ginge, könnten außergewöhnliche Maßnahmen wie diese Räumung zur neuen Norm in Frankreich werden. Darmanin, der selten eine Gelegenheit auslässt, sich als entschlossener Hardliner im Kampf gegen das Verbrechen zu zeigen, will nun Sozialwohnungen als Mittel zur Kontrolle einsetzen. Seine Strategie zielt auf solche und andere »außergerichtlichen Mittel« zur Verhinderung und Bestrafung von Kleinkriminalität ebenso wie im Zusammenhang mit größeren sozialen Unruhen wie im Sommer.
In einem Memorandum, das Ende August an die Präfekturen des Landes verschickt wurde, wies Darmanin die Kommunen an, »systematische Härte« im Umgang mit »Straftätern und den Verantwortlichen für die Gewalt« anzuwenden. »Wir bitten Sie, alle vom Gesetz vorgesehenen Mittel zu mobilisieren, um Straftäter aus ihren Sozialwohnungen zu räumen«, schrieb Darmanin dabei ganz explizit. Der Brief wurde von der Staatssekretärin für Stadtpolitik mitunterzeichnet. Deren Behörde ist seit 2022 dem Innenministerium unterstellt.
Das Memorandum ist nur ein weiteres Beispiel für die strikt sicherheitsmotivierte Sichtweise, mit der Macrons Führungsriege die Situation in Frankreichs arbeitender Klasse und insbesondere in den benachteiligten Banlieues betrachtet.
Unter Berufung auf Artikel 1728 des französischen Zivilgesetzbuches, der eine »angemessene« Nutzung von »gemietetem Eigentum« vorschreibt, sowie auf ein Gesetz aus dem Jahr 1989 über die Pflichten von Mieterinnen und Mietern argumentiert Darmanin in seinem Memorandum weiter, das »Begehen einer strafbaren Handlung in der Nähe des Wohnsitzes« stelle einen Verstoß gegen die Verpflichtung der Mieter dar, »ihre Wohnung friedlich zu nutzen«.
»Besonders problematisch ist jedoch der Kollektivcharakter der angedrohten Strafen, die sich gegen ganze Haushalte richten und damit die Grundprinzipien des modernen Rechts brechen.«
Aus Sicht von Wohnraum- und Bürgerrechtsaktivisten ist Darmanins Anordnung allein schon aufgrund dieses Verweises nicht stichhaltig. Ein Auto in der eigenen Nachbarschaft oder im nahegelegenen Stadtzentrum in Brand zu setzen, ist natürlich eine Straftat – aber es wäre doch übertrieben davon auszugehen, dass das brennende Auto ein Verstoß gegen den Mietvertrag oder die Mietordnung in der eigenen Wohnung ist.
Besonders problematisch ist jedoch der Kollektivcharakter der angedrohten Strafen, die sich gegen ganze Haushalte richten und damit die Grundprinzipien des modernen Rechts brechen. Nathalie Tehio, Juristin der Ligue des droits de l‘homme, zitiert dazu aus dem französischen Strafgesetzbuch: »Eine jede Person kann nur für ihre eigenen Handlungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.« Ebenso verweist sie auf die Erklärung der Menschenrechte von 1789, in denen bereits das Prinzip der »individuellen Strafe« verankert wurde.
»Die Familie einer verurteilten Person mit dem Argument, letztere habe eine Straftat begangen, aus ihrer Wohnung zu vertreiben, stellt einen Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit dar und ist ein inakzeptabler Akt sozialer Gewalt, der nur weitere Unruhen provozieren wird«, schrieben auch die Gewerkschaft Solidaires, die Ligue des droits de l‘homme und die Coordination nationale contre les violences policières neben anderen Organisationen in einer gemeinsamen Pressemitteilung vom 20. September. Für sie ist klar: »Dieses Memorandum soll die niedersten und niederträchtigsten Instinkte der extremen Rechten befriedigen.«
Derweil scheut die Regierung weiterhin vor ernsthaften Maßnahmen zur Bekämpfung der Armut, der sozialen Exklusion und des systemischen Rassismus zurück. Diese alltägliche Erfahrung und die daraus resultierende Enttäuschung ist Zündstoff für weitere Unruhen in den Großstädten. Stattdessen will die politische Führung die Verantwortung und Haftung auf die Familien und Personen abwälzen, die im selben Haushalt leben wie strafrechtlich Verurteilte. Tehio fasst zusammen: »Anstatt sich anzusehen, was bisher nicht funktioniert hat und was man tun oder einführen könnte, um zu verhindern, dass solche Unruhen wieder ausbrechen, will man komplette Familien mit Strafen belegen.«
Ein strikt durchgesetztes und vor allem landesweit anwendbares Räumungsverfahren, wie es sich Darmanin vorstellt, wäre rechtlich problematisch. Auf lokaler Ebene experimentieren Polizeidienststellen und Präfekten aber bereits mit verschiedenen Schikanemethoden, um Bewohnerinnen von Sozialwohnungen, Menschen aus der Arbeiterklasse und/oder People of Color unter Kontrolle zu halten.
Nizza, die fünftgrößte Stadt des Landes, ist dabei so etwas wie ein Versuchsfeld geworden. Bürgermeister Christian Estrosi – wie Darmanin ein alter Gefolgsmann des konservativen Ex-Präsidenten Nicolas Sarkozy – hat mit vielen der Maßnahmen experimentiert, die der Innenminister gerne auf nationaler Ebene einführen würde.
»Nizza ist ein regelrechtes Testlabor des Neoliberalismus, in dem unterschiedlichste Arten der Diskriminierung gegenüber benachteiligten Bevölkerungsgruppen und Minderheiten erprobt werden«, so die Aktivistin Zohra Briand von der Wohnrechtsorganisation Droit au Logement. Der kommunale Wohnungsbau wurde dafür unter die Obhut lokal gewählter Beamter gestellt (in den meisten anderen Teilen des Landes sind sie zumindest formal unabhängig von der aktuellen Kommunalregierung), die den Verwaltungsrat des führenden Anbieters von Sozialwohnungen in der Region kontrollieren.
In Nizza gab es bereits vor den Unruhen im Sommer einen Präzedenzfall für die Zwangsräumung sogenannter »Delinquenten« und ihrer Angehöriger: Im April 2021 wurde eine Vereinbarung zwischen dem Wohnungsverwalter Côte d‘Azur Habitat, der örtlichen Staatsanwaltschaft und dem Präfekten unterzeichnet, die es den lokalen Behörden erlaubt, Informationen über Mieterinnen und Mieter in Sozialwohnungen mit den Vermietern zu teilen. Auf Grundlage dieses Textes kann ein Räumungsverfahren eingeleitet werden, wenn ein Mieter verurteilt wurde oder auch nur eines Verbrechens verdächtigt wird. In einem medial viel beachteten Fall wurde 2021 eine Frau aus ihrer Sozialwohnung geworfen, weil ihr erwachsener Sohn wegen Drogenhandels verurteilt worden war.
Lokale Bürgerrechtsorganisationen und Aktivistinnen haben unter Berufung auf den Datenschutz gegen die Vereinbarung mobilisiert und vor einer Verletzung der Privatsphäre durch den unerlaubten Austausch sensibler Informationen gewarnt.
Anthony Borré, Geschäftsführer von Côte d'Azur Habitat und zeitgleich stellvertretender Bürgermeister von Nizza (also Estrosis erster Vertreter), hat ein Motto, mit dem er gerne hausieren geht: »Sozialen Wohnungsbau muss man sich verdienen.« In einer Rede sprach er kürzlich über Kriminalität und führte dabei diese fragwürdige Logik weiter: »Sozialen Wohnungsbau gibt es nicht für die Feinde der Republik.«
Hier wird offensichtlich viel durcheinander geworfen: Von »gewöhnlichen« Kriminellen über »Feinde der Republik« ist es nicht mehr weit zum Thema »Separatismus«. Mit einer ähnlichen Argumentationskette hat Innenminister Darmanins ein berüchtigtes Gesetz durchgebracht, das ursprünglich »Gesetz gegen Separatismus« hieß und dann zum »Gesetz zur Stärkung republikanischer Prinzipien« wurde. Mit ihm wird der Staat ermächtigt, (zivilgesellschaftliche) Organisationen aufzulösen, die angeblich »antirepublikanisches Gedankengut« verbreiten. Eines der vorgeblichen Ziele ist es, den Staat gegen den radikalen Islamismus zu stärken, aber es lässt sich bereits beobachten, wie das Gesetz auch gegen Gruppen angewendet werden kann, die die Arbeiterklasse organisieren. Ein weiteres Beispiel für die überstürzte »Disziplinierung« der französischen Arbeiterschicht nach den Unruhen vom Sommer ist die Anordnung des Bildungsministeriums, dass Mädchen ab diesem Schuljahr keine Abayas mehr tragen dürfen.
»Das Modell, das jetzt eingeführt wird – wir werden sehen, ob es sich durchsetzt – besteht darin, die Justiz, die Polizei und die Verwalter von Sozialwohnungen miteinander zu vernetzen«, warnt Domergue von der Stiftung Abbé Pierre. »Sobald ein Verdacht auf Kriminalität besteht, wird der Verwalter der Sozialwohnung benachrichtigt und kann ein entsprechendes Verfahren einleiten.«
Zohra Briand und andere Aktivistinnen und Aktivisten beobachten bereits eine Zunahme von Zwangsräumungen mit fadenscheinigen Begründungen wie »Kriminalität«, »Nachbarschaftsstreitigkeiten« und Ähnlichem. Vor Kurzem sei sogar eine alleinerziehende Mutter wegen »Lärmbelästigung« durch ihre spielenden Kinder zwangsgeräumt worden. »Für diese Leute«, so Briand über die unheilige Allianz zwischen (privaten) Hausverwaltern und lokalen Behörden, »ist eine Anschuldigung oder vielleicht auch ein verbaler Schlagabtausch gleichbedeutend mit einer Straftat.«
Warum dies ihrer Meinung nach geschieht, erklärt sie ebenfalls: »Die Menschen werden aus ihren Wohnungen gejagt, denn die einzige Möglichkeit für die Behörden, ihren Verpflichtungen nachzukommen und die Wartelisten für Sozialwohnungen zu kürzen, besteht darin, die Mieter zu vertreiben. Wenn diese mit dem Gesetz in Konflikt kommen oder auch nur etwas unbesonnen agieren, kann dies zu Räumungen führen. Ein weiteres Mittel sind natürlich höhere Mietkosten.« Es gebe eine klare Tendenz hin zu weiteren Privatisierungen: »Wir haben es hier mit nichts anderem als der Drangsalierung einer prekär lebenden und vulnerablen Bevölkerungsgruppe zu tun, um so die privatwirtschaftliche Übernahme des Wohnungsbestandes zu erleichtern.«
In Nizza hat sich das vermeintliche Vorgehen gegen Kriminalität als wirksame Tarnung für die Enteignung von Menschen in ihren Gemeinden und Stadtvierteln erwiesen. In Paris war die Linke jahrelang stark genug, dass eine solch harte Gangart wie die von Bürgermeister Estrosi in Nizza verhindert werden konnte. Dennoch warnen Aktivisten seit einigen Jahren ebenfalls, es gebe einen gezielten Einsatz von Bußgeldern für geringfügige Vergehen gegen gewisse Bevölkerungsgruppen.
»Das Ziel ist es, diese Menschen aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben und sogar ihre Familien aus ihren Vierteln zu drängen«, meint auch Tehio. Sie verweist auf die zahlreichen Bußgelder, die in (häufig recht unklaren) Fällen von Kleinkriminalität verhängt werden. Diese hätten dazu geführt, dass die Familien der oft jungen Männer teils mehrere tausend Euro Schulden haben. Dies spiele auch eine Rolle bei der Gentrifizierung von Vierteln wie dem 10., 19. und 20. Pariser Arrondissement. »Wir schaffen damit die Voraussetzungen für eine Auflösung der bisherigen sozialen Beziehungen in diesen Vierteln«, sagt Tehio. »Und hin und wieder kommt es dann zur Explosion.«
Rona Lorimer ist Schriftstellerin und Übersetzerin und lebt in Paris.
Harrison Stetler ist ein freier Journalist und Lehrer aus Paris.