08. Juli 2024
Bei den Wahlen in Frankreich wurde mit einem Sieg des Rassemblement National gerechnet. Mit einem Programm, das sozialen Wandel verspricht, konnte die Neue Volksfront die extreme Rechte besiegen – und ist nun stärkste Kraft im Parlament.
Jean-Luc Mélenchon nimmt an einer Veranstaltung von La France Insoumise in Paris teil, nach der zweiten Runde der französischen Parlamentswahlen, 7. Juli 2024.
Die französischen Wählerinnen und Wähler haben am gestrigen Sonntag eindrucksvoll gezeigt: der Aufstieg der radikalen Rechten ist nicht unaufhaltsam. Die Neue Volksfront (Nouveau Front Populaire, NFP) hat bei den vorgezogenen Parlamentswahlen einen historischen Sieg errungen. Das Linksbündnis ging aus der Stichwahl als größte Fraktion in der kommenden Nationalversammlung hervor.
Die NFP ist ein Parteienbündnis, das vor weniger als einem Monat in höchster Eile gebildet wurde. Trotz der ungünstigen Startbedingung konnte sie den drohenden Sieg von Marine Le Pens Rassemblement National zunichtemachen.
Nachdem er die Nationalversammlung am 9. Juni überraschend aufgelöst hatte, dürfte Präsident Emmanuel Macron nun gezwungen sein, mit einem Oppositionskabinett in der Parlamentskammer zusammenzuarbeiten. Die Führungskräfte der NFP (zu der La France Insoumise, die Parti Socialiste, Les Écologistes und die Parti Communiste Français gehören) fordern ihrerseits das Recht ein, die nächste Regierung zu bilden und ihr gemeinsames Programm für einen »Bruch« mit der Macron-Ära umsetzen zu können.
Das Mitte Juni vorgestellte Programm der NFP beinhaltet unter anderem ein Ende von Macrons weithin unpopulärer Rentenreform aus dem Jahr 2023, eine stärkere Umverteilung des Reichtums, Investitionen in öffentliche Dienstleistungen sowie die Anerkennung einer palästinensischen Staatlichkeit.
»Die Bevölkerung hat das Worst-Case-Szenario eindeutig abgewendet. Heute Abend war der Rassemblement National weit davon entfernt, die absolute Mehrheit zu erlangen, die Experten noch vor einer Woche vorausgesagt haben«, so ein jubelnder Jean-Luc Mélenchon wenige Minuten nach der Veröffentlichung der ersten Hochrechnungen um 20 Uhr. »Die Lehren aus dieser Wahl sind klar: Die Niederlage des Präsidenten und seiner Partei war deutlich«, sagte der Gründer von La France Insoumise, der größten Partei innerhalb der NFP. »Der Präsident muss sich dem beugen und seine Niederlage eingestehen – und nicht versuchen, diese irgendwie zu umgehen.«
Die größte Partei oder Parteienallianz in der Nationalversammlung hat üblicherweise zuerst die Möglichkeit, eine Regierung zu bilden. Allerdings hat die Wahl am Sonntag zu einer Situation geführt, in der die NFP, Macrons zentristischer Block und eine von Le Pen dominierte rechte Gruppe das Feld dominieren, ohne dass eine Kraft eine klare Mehrheit an Sitzen hätte. Diese Ergebnisse deuten bereits darauf hin, dass es im kommenden Parlament deutlich mehr Instabilität geben wird. Das dürfte es vor allem für die Regierungskoalition sehr schwierig machen, sich durchzusetzen und zu behaupten.
Laut den endgültigen Ergebnissen wird die Neue Volksfront 182 Sitze im künftigen Unterhaus haben. An zweiter Stelle liegen die Macronisten mit 168 Sitzen, gefolgt von Le Pens Rassemblement National (unterstützt von einer Abspaltung der konservativen Les Républicains) mit 143 Abgeordneten.
»Obwohl der Rassemblement letztlich ›nur‹ die drittmeisten Sitze erhält, konnten die Rechten in der zweiten Runde die meisten Stimmen insgesamt sammeln.«
Der Erfolg der NFP fußt auf den 142 Abgeordneten der Neuen Ökologischen und Sozialen Volksunion (NUPES), die im Vorfeld der Parlamentswahlen 2022 gebildet worden war. Gleichzeitig konnte auch der Rassemblement National seinen Sitzanteil im Parlament von 88 Plätzen in der letzten Legislaturperiode deutlich erhöhen. So kommt es zu den unklaren Mehrheitsverhältnissen in der neuen Nationalversammlung. Macrons zentristische Koalition Ensemble verlor ihrerseits fast 80 Sitze, konnte aber eine absolute Wahlniederlage vermeiden.
Die konservativen Républicains, die in der vorherigen Nationalversammlung die Minderheitsregierung Macrons in zwei turbulenten Jahren gestützt hatte, kommen ohne die Abtrünnigen um Parteichef Éric Ciotti, der Le Pen unterstützen will, noch auf 45 Sitze (gegenüber 61 Sitzen im Jahr 2022).
Das Linksbündnis war letztlich ausschlaggebend dafür, dass der sich seit Wochen abzeichnende Sieg von Le Pen verhindert werden konnte. Im ganzen Land reagierten progressive Wählerinnen und Wähler auf das Ergebnis mit großer Erleichterung und Jubel. Bis tief in die Nacht konnte man in ganz Paris Autohupen hören, mit denen der Sieg gefeiert wurde. Eine große Menschenmenge versammelte sich auf dem zentralen Place de la République in Paris, um die Nouveau Front Populaire zu bejubeln und antifaschistische Lieder und Slogans zu skandieren. »Französisch ist keine Hautfarbe und wird nie eine sein – alle Hautfarben sind französisch«, betonte Mathilde Panot, Fraktionsvorsitzende von La France Insoumise, vor Tausenden Anhängerinnen und Anhängern.
Im krassen Gegensatz dazu stand die gedämpfte Stimmung unter Fans und Parteikadern des Rassemblement National, die nur wenige Kilometer entfernt in einem Pavillon im lauschigen Park Bois de Vincennes östlich des Pariser Stadtzentrums ihre Wahlparty veranstalteten. Gegenüber der Presse erklärte Marine Le Pen, das Ergebnis bedeute ein Jahr parlamentarisches Chaos, das die radikale Rechte aber nur weiter stärken würde. »Ich habe zu viel Erfahrung, um enttäuscht zu sein«, so Le Pen. Letztlich verliere Frankreich ein Jahr, sagte sie. Es werde »ein weiteres Jahr der unkontrollierten Einwanderung; ein weiteres Jahr des Kaufkraftverlustes; ein weiteres Jahr der explodierenden Verunsicherung«.
Tatsächlich darf die neugebildete Nationalversammlung frühestens im Juni 2025 erneut aufgelöst und Wahlen anberaumt werden.
Praktisch den gesamten vergangenen Monat galt die radikale Rechte als klare Favoritin, die Macht im Land zu übernehmen. Nahezu alle Meinungsumfragen und Prognosen deuteten darauf hin, dass der Rassemblement National und seine Verbündeten eine deutliche – wenn nicht sogar die absolute – Mehrheit im Parlament erringen würden. Macron hatte die Nationalversammlung am 9. Juni aufgelöst, nachdem die Rechten bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in Frankreich den ersten Platz belegt hatten. Ihre Stärke schien sich in der ersten Runde der Neuwahlen am 30. Juni zu bestätigen, als Le Pens Partei über 33 Prozent der Stimmen erhielt und damit 5 beziehungsweise 13 Punkte vor der NFP und der Macron-Fraktion lag.
In einer Rede am Sonntagabend machte der Vorsitzende des Rassemblement National und designierte Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten, Jordan Bardella, die Besonderheiten des französischen Wahlsystems mit seinen zwei Wahlgängen für die eigene Niederlage verantwortlich. Bardella kritisierte die Stichwahl, mit der angeblich »unnatürliche politische Allianzen geschmiedet werden, die die Franzosen mit allen Mitteln daran hindern sollen, eine politische Alternative frei zu wählen«. Dies sei Wahlverzerrung.
Ein entscheidender Faktor für das Abwenden eines rechtsradikalen Sieges war die Wiederbelebung der sogenannten »republikanischen Front«: Die NFP und die Zentristen um Macron hatten vor der zweiten, entscheidenden Runde mehr als 200 jeweils konkurrierende Kandidaten zurückgezogen.
Obwohl der Rassemblement letztlich »nur« die drittmeisten Sitze erhält, konnten die Rechten in der zweiten Runde die meisten Stimmen insgesamt sammeln: Mehr als zehn Millionen Menschen in ganz Frankreich unterstützten sie – was allerdings zu erwarten war, da Le Pens Partei die meisten Kandidatinnen und Kandidaten in die Stichwahl schickte. Die NFP erhielt in der zweiten Runde über sieben Millionen Stimmen, gefolgt vom Macron-Block mit etwa 6,3 Millionen. Die Wahlbeteiligung stieg deutlich und erreichte den höchsten Stand seit den Parlamentswahlen 1997.
Das Kräfteverhältnis im neuen Parlament könnte für die Nouveau Front Populaire zum Problem werden. Für eine absolute Mehrheit wären 289 Sitze erforderlich. Ein Großteil der Abgeordneten in der Kammer steht somit weiterhin klar rechts von der NFP. Zwar betont die NFP-Führungsriege, einige Punkte auf ihrer Agenda – wie die Erhöhung des Mindestlohns sowie das Einfrieren der Preise für Grundnahrungsmittel und ähnliche Güter – könnten per Regierungsdekret durchgesetzt werden, doch für andere Maßnahmen bräuchte sie eine Mehrheit im Parlament. Der Senat wird derweil weiterhin von den konservativen Les Républicains dominiert.
Sofern Macron nicht noch ein weiteres Überraschungsmanöver plant, muss die NFP einen Ministerpräsidenten vorschlagen, der das Programm des Bündnisses durchsetzen und gleichzeitig das Risiko eines Misstrauensvotums durch die vereinten Oppositionskräfte rechts der NFP umschiffen kann. Der Vorsitzende der Parti Socialiste, Olivier Faure, bekräftigte in seiner Siegesrede am Sonntag, dass »unser einziger Kompass das Programm der Nouveau Front Populaire sein wird«. Die »macronistische Mitte« müsse »ihre Niederlage anerkennen und im kommenden Jahr davon absehen, gemeinsam mit der extremen Rechten die Nouveau Front Populaire an der Regierungsarbeit zu hindern«.
Interessant wird auch sein, wie sich die Kräfteverhältnisse innerhalb der NFP entwickeln. La France Insoumise bleibt vorerst die führende Macht im Linksbündnis und kann auf den Wahlerfolg ihres Programms mit einem klaren »Bruch« mit der bisherigen Regierungspolitik verweisen. Im Vergleich zur scheidenden Nationalversammlung wurde durch die Neuwahlen aber das Gleichgewicht zwischen La France Insoumise und der sozialdemokratischen Parti Socialiste leicht zu Gunsten der letzteren verschoben. Die beiden führenden Parteien im NFP-Bündnis gewannen 77 beziehungsweise 59 Sitze.
»Macron scheint seinerseits aktuell abwarten zu wollen und sucht vermutlich bereits nach Möglichkeiten, das Linksbündnis zu spalten.«
Hinzu kommt: Mehrere bisherige Abgeordnete von La France Insoumise – die auf ein »neues« Linksbündnis mit weniger Einfluss für Mélenchon abzielen – wurden am Sonntag als »Dissidenten« gegen die offiziellen Kandidaten der Partei wiedergewählt.
François Ruffin, der in der Region Somme knapp gewählt wurde, hatte La France Insoumise beispielsweise Ende vergangener Woche verlassen und damit seinen endgültigen Bruch mit der Mélenchon-Partei vollzogen. Ruffin präsentierte drei Bedingungen für eine »Regierung der nationalen Einheit«, an der alle linken Parteien beteiligt werden sollen: die Aufhebung von Macrons Rentenreform, die Wiedereinführung der Vermögenssteuer und eine Verfassungsreform, die das Durchführen von Volksabstimmungen erleichtert.
Macron scheint seinerseits aktuell abwarten zu wollen und sucht vermutlich bereits nach Möglichkeiten, das Linksbündnis zu spalten. Am Montagmorgen lehnte er das Rücktrittsersuchen des noch amtierenden Ministerpräsidenten Gabriel Attal »vorerst« ab. Aus Kreisen der Parteienallianz des Präsidenten heißt es, die Verhandlungen um die Bildung einer neuen Regierung könnten sich mehrere Wochen lang hinziehen.
Nachdem er das Land vor einem Monat bereits mit der unerwarteten Auflösung der Nationalversammlung schockiert hat, prüft der Präsident sicherlich schon, welche Tricks er jetzt noch ausspielen kann.
Harrison Stetler ist ein freier Journalist und Lehrer aus Paris.