21. Juni 2022
Macron ist der Verlierer der französischen Parlamentswahlen. Mélenchons Koalition NUPES ist nun die stärkste Opposition – und hat die Chance, die neoliberale Agenda Macrons zu stoppen.
Jean-Luc Mélenchon am Wahlabend in Paris, 19. Juni 2022.
Es war nicht der Sieg, den sich Jean-Luc Mélenchon erhofft hatte – aber als am Sonntagabend um 20 Uhr die ersten Hochrechnungen vorlagen, hatten seine Anhängerinnen und Anhänger allen Grund zum Jubeln. Emmanuel Macron, der im April wiedergewählt worden war, verlor die Mehrheit und damit die Kontrolle über das Parlament. Mit 246 Sitzen fehlten ihm dazu über vierzig Sitze in der Nationalversammlung mit 577 Abgeordneten. Auf einer kämpferischen Kundgebung in der Wahlnacht bezeichnete Mélenchon das Ergebnis als »vernichtende Niederlage« für die Partei des Präsidenten – und bereitete in der Rede auch den Weg für weitere Angriffe auf Macrons Autorität während seiner zweiten Amtszeit.
Mélenchon war zu diesen Wahlen als Vorsitzender der Nouvelle Union Populaire Écologique et Sociale (NUPES) angetreten. Diese Koalition vereint seine Partei La France Insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich) mit Sozialisten, Grünen, Kommunisten und anderen. Dieses Bündnis wurde mit 141 Sitzen nun zur wichtigsten oppositionellen Kraft. La France Insoumise errang 72 Sitze – ein Zuwachs von 55 Sitzen. Damit hat die Partei jetzt so viele Sitze wie alle Mitte-links-Parteien bei der letzten Wahl vor fünf Jahren zusammen gewinnen konnten. Zu den herausragenden Gewinnerinnen gehört Rachel Kéké, eine Putzkraft in einem Hotel, die einen 22-monatigen Streik der unterbezahlten Reinigungskräfte anführte und nun als Abgeordnete im Parlament sitzt.
Die Begeisterung über die Gewinne von NUPES und die Rückschläge Macrons haben allerdings auch einen bitteren Beigeschmack: Der rechtsextreme Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen kam bei dieser Wahl auf 89 Sitze – so viele wie noch nie und weit mehr als in den Prognosen vorhergesagt wurde. Bedrückend war ebenso auch die geringe Wahlbeteiligung von nur 46 Prozent. Damit lag sie etwas höher als noch im Jahr 2017, doch NUPES’ Ambitionen, die notorischen Nichtwählerinnen und Nichtwähler zu mobilisieren, waren nicht von Erfolg gekrönt.
Dieses Ergebnis ist dennoch weitaus besser als das, was noch vor einigen Monaten zu erwarten gewesen wäre. In den letzten Jahren hat sich im öffentlichen Leben Frankreichs ein scharfer Rechtsruck vollzogen. Harte identitäre Argumente sind immer salonfähiger geworden, »liberale« Minister, sind zunehmend bereit, den »Islamo-Linksruck« zu verteufeln, und die Polizei geht immer autoritärer gegen Proteste vor, die sich gegen unpopuläre Reformen richten. In diesem politischen Klima hat es La France Insoumise geschafft, einen großen und politisch radikalen Oppositionsblock aufzubauen. Das ist unter anderem auch deswegen gelungen, weil sie das breite Linksbündnis der NUPES selbst anführt und in dieser Koalition auch ihr transformatives ökosozialistisches Programm durchgesetzt hat.
Da Macron nun seine Mehrheit verloren hat, bekommt die Linke die einzigartige Chance, seine Pläne zum Abbau des Wohlfahrtsstaates zu durchkreuzen – und seine zweite Amtszeit zu nutzen, um eigene Alternativen auf die Tagesordnung zu setzen.
Seit einer Kalenderänderung im Jahr 2002 finden die Parlamentswahlen fünf bis sieben Wochen nach den Präsidentschaftswahlen statt, sodass der Gewinner für gewöhnlich eine Mehrheit erhält, um sein Mandat umzusetzen. Im April wurde Macron als erster Amtsinhaber seit zwei Jahrzehnten zum Präsidenten wiedergewählt, und es war zu erwarten, dass er auch die Parlamentswahlen gewinnen würde. Doch schon der Sieg vor zwei Monaten zeigte Anzeichen seiner Schwäche: In der ersten Runde hatte er weniger als 28 Prozent der Stimmen erhalten, und sein Sieg in der Stichwahl war eher auf die Ablehnung von Le Pen zurückzuführen als auf eine wirkliche Zustimmung der Bevölkerung zu seiner Politik. Die Ergebnisse von gestern Abend haben dies nur bestätigt.
Bei seiner ersten Wahl im Jahr 2017 behauptete Macron noch, »links und rechts« zu vereinen. Mehrere ehemalige Führungspersönlichkeiten der neoliberalisierten Sozialisten schlossen sich ihm damals an. Doch nach der ersten Amtszeit, in der sich Macron stark nach rechts orientiert hat, sind Pro-Macron-Kräfte der gemäßigten Linken bei den Wahlen kein Faktor mehr. Noch weniger, so betonte Mélenchon gestern Abend, könne Macron darauf hoffen, von NUPES unterstützt zu werden: »Die Spaltung zwischen uns kann nicht überwunden werden: Wir kommen nicht aus derselben Welt, wir haben nicht dieselben Ziele, wir haben nicht dieselben Werte, wir glauben nicht an dieselbe Zukunft«.
Der Präsident könnte nun versuchen, sich auf Les Républicains (LR) zu stützen, die konservative Partei, aus deren Reihen er mehrere wichtige Gefolgsleute wie den Innenminister Gérald Darmanin und den Premierminister von 2017–2020, Édouard Philippe, gewonnen hat. Dennoch kündigte der Vorsitzende der LR, Christian Jacob, schon am Wahlabend an, dass seine 64 Abgeordneten in der Opposition bleiben werden. Die historische Mitte-rechts-Partei hat durch Le Pen eine starke Konkurrenz bekommen und es scheint unwahrscheinlich, dass sie ihr Schicksal zu eng an einen kränkelnden Präsidenten knüpfen wird, der 2027 nicht mehr kandidieren kann.
Geplante Reformen wie die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre werden für Macron nun weitaus schwieriger umzusetzen sein, selbst wenn man davon ausgeht, dass seine eigene Gruppe von Abgeordneten relativ homogen und gefügig ist und die Konservativen eine ähnliche wirtschaftspolitische Agenda verfolgen. Diese Anfälligkeit verbindet sich nun mit dem allgemeinen Druck durch die Inflation und den Folgen des Krieges, sodass die Gewerkschaften versuchen werden, den Präsidenten aufzuhalten und die sozialen Bewegungen der Jahre vor der Pandemie wiederbeleben könnten.
In beiden Wahlgängen verloren eine Reihe von Macronisten ihre Sitze, die von Linken aus verschiedenen Gründen geschmäht wurden. Dazu gehören der Bildungsminister Jean-Michel Blanquer, ein scharfer Kritiker der schleichenden Übernahme durch »Islamo-Linke«, und der ehemalige Innenminister Christophe Castaner, den Mélenchon als »Éborgneur« bezeichnete – einen Blender. Damit spielte er darauf an, dass einige der Demonstrierenden der Gelbwesten durch Angriffe der Polizei ihr Augenlicht verloren haben. Mélenchon-Anhänger freuten sich auch über die Niederlage von Umweltministerin Amélie de Montchalin, die in den letzten Wochen im Fernsehen häufiger zu einer »republikanischen Front« gegen die »extreme Linke« aufgerufen hatte.
Der Begriff der »republikanischen Front« benannte in der Vergangenheit eigentlich die Einheit des Mainstreams gegen die extreme Rechte, aber dieser Cordon sanitaire scheint nun zerbrochen zu sein, da liberale und gaullistische Kräfte der Linken nun ebenso feindlich gegenüberstehen. Ipsos schätzte, dass sich bei den Stichwahlen, bei denen NUPES gegen Le Pens Rassemblement National antrat, 72 Prozent der Macron-Wähler enthielten, 16 Prozent die Linke unterstützten und 12 Prozent die extreme Rechte; bei den gleichen Wahlen spalteten sich die Anhänger der konservativen Les Républicains mit 30:12 zugunsten des Rassemblement National auf, wobei 58 Prozent keine Stimme abgaben.
Das bürgerliche Frankreich hat die Partei von Le Pen und ihrem Vater jahrzehntelang weitgehend abgelehnt. Da jedoch die »sozialen« und EU-feindlichen Elemente ihres Programms in den letzten Jahren erheblich abgeschwächt wurden, ist die extreme Rechte für ein breiteres Spektrum rechtsgerichteter Wählerinnen und Wähler, die nach einer Alternative zu den schwindenden Républicains suchen, attraktiver geworden. Der RN schaffte es in 206 aller Stichwahlen in Frankreich, aus denen die Partei in knapp der Hälfte der Fälle als Siegerin hervorging; in der wohlhabenden, stark katholischen Region Provence-Alpes-Cote-d’Azur im Südosten des Landes gewann sie sogar die Hälfte aller Sitze.
Bei den Präsidentschaftswahlen im April hatte Mélenchon von seinen Anhängerinnen und Anhängern gefordert, dass es im zweiten Wahlgang »keine einzige Stimme für Le Pen« geben dürfe. Diese Linie wurde wiederum von Macron-Anhängern scharf verurteilt, die eine eindeutige Unterstützung für den Präsidenten forderten. Bei den jetzigen Parlamentswahlen wurde diese Forderung von den meisten Kandidierenden von La France Insoumise aufgegriffen, aber auch von vielen Macron-Anhängern. Dennoch weigerten sich mit nur sechs Ausnahmen alle in der ersten Runde unterlegenen Macron-Kandidaten, NUPES in der Stichwahl gegen die Rechten des RN zu unterstützen.
Nach der Kundgebung von NUPES ging Mélenchon noch in der Wahlnacht auf die Straße, um zu den Hunderten meist jungen Menschen zu sprechen, die sich draußen versammelt hatten. In einer emotionalen Rede kündigte er an, dass er sich von seiner zentralen Rolle zurückziehen werde; er werde nicht, wie erhofft, Premierminister werden, und er kandidiere auch nicht erneut für das Amt des Abgeordneten. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im April hatte er bereits angedeutet, dass dies sein letzter Wahlkampf dieser Art sein würde. Doch nach dem Ergebnis spekulierten mehrere wichtige Verbündete, dass er eine weitere Kandidatur im Jahr 2027 immer noch in Erwägung ziehe.
Wie geht es nun weiter? NUPES wurde auf der Grundlage von Mélenchons 22-Prozent-Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen gegründet. Schon bei dieser Wahl übernahmen die Kandidatinnen und Kandidaten der Grünen, der Sozialisten und der Kommunisten den Großteil seines Programms, mit dem ausdrücklichen Ziel, ihn zum Premierminister zu machen. Doch sowohl die Grünen als auch die Sozialisten haben jeweils genügend Abgeordnete gewonnen, um ihre eigenen Fraktionen zu bilden, und die Kommunisten könnten in der Lage sein, eine eigene Fraktion mit kleineren Kräften zusammenzuschustern; es handelt sich eben nach wie vor um Parteien, die ihre eigenen Konflikte mitbringen, vor allem auf kommunaler Ebene, wo La France Insoumise keinen vergleichbaren Anspruch auf eine Führungsrolle erheben kann.
Nichtsdestoweniger gibt es gute Gründe für diese Allianz. Das Erststimmenergebnis von NUPES war zwar etwas niedriger als das, was die Mitte-links-Parteien 2017 erreicht hatten, als sie noch getrennt antraten, aber durch diesen Pakt zogen sie in deutlich mehr Stichwahlen ein und konnten mehr Abgeordnete wählen. Politikerinnen und Politiker von La France Insoumise wie Manon Aubry betonen seit langem, dass die entscheidende Frage das politische Programm ist und nicht der Zusammenschluss von Parteien an sich. Im neuen Parlament wird es darum gehen, die NUPES-Parteien in einer Art Front als stärkste Opposition gegen Macron zusammenzuhalten.
La France Insoumise hat aber auch noch andere Probleme zu lösen: Zwar hat sie ihr Programm erheblich weiterentwickelt und ein »Parlament der Volksunion« (Parlement de l'Union populaire) aus Aktivisten und Expertinnen aufgebaut, das eine beeindruckende politische Agenda ausarbeitet. Doch auch sie bleibt eine kopflastige Struktur ohne starke Verankerung im Land – sie ahmt Strukturen des politischen Systems nach, das sie ersetzen will. Der französische Wahlkalender konzentriert sich auf die Präsidentschaft, und die Stimmen für NUPES bei diesen Wahlen (5,8 Millionen im ersten Wahlgang, 6,5 Millionen im zweiten) waren deutlich niedriger als die 7 Millionen, die Mélenchon im April bei den Präsidentschaftswahlen erhielt. Da die große Mehrheit der jungen und ärmeren Wählerinnen und Wähler nicht zur Wahl gingen, muss eine Linke, die eine Agenda des sozialen Wandels vertritt, eindeutig andere Wege finden, um diese Menschen zu mobilisieren.
Eine tiefere Unbeständigkeit des politischen Systems und eine weitere Polarisierung stehen vermutlich dennoch bevor. Am Wahlabend wurde berichtet, dass Macrons Verbündete erwägen, das Parlament in einem Jahr aufzulösen, um sich durch eine Neuwahl eine Mehrheit zu sichern. Doch die Kräfte, die bei den gestrigen Ergebnissen eine so starke Linke und eine so starke extreme Rechte hervorgebracht haben, lassen sich nicht so leicht wieder einhegen. Auch bei dieser Wahl zeichnete sich ab, wie groß die Frustration über die amtierende Regierung und den politischen Prozess ist. Die Linke steht nun vor der Aufgabe, diese Unzufriedenheit in dauerhafte Organisierung zu verwandeln.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).