05. Juli 2023
Die Erschießung eines 17-Jährigen durch einen Polizisten hat in ganz Frankreich Proteste gegen Polizeigewalt ausgelöst. Die mächtigen Polizeigewerkschaften stehen derweil geschlossen hinter dem Todesschützen und setzen die Regierung unter Druck.
Frankreichs Polizeigewerkschaften machen die Krisensituation zu einem Loyalitätstest für Macron und seine Regierung.
IMAGO / StarfaceAm Dienstag vergangener Woche wurde Nahel, ein Siebzehnjähriger französisch-algerischer Herkunft, bei einer Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre von einem Polizeibeamten erschossen. Der Tod des jungen Mannes – und die Videoaufnahmen der Szene, die für viele wie eine Hinrichtung anmuteten – haben ein Pulverfass entzündet. In den letzten Tagen kam es in vielen französischen Städten zu Protesten, Randalen und Plünderungen.
Die Ereignisse sind vielfach mit einem Aufstand im Jahr 2005 verglichen worden. Damals waren nach einer Verfolgungsjagd mit der Polizei zwei Männer im Norden von Paris zu Tode gekommen.
Am Donnerstag nahmen Tausende Menschen zusammen mit Nahels Familie und Gruppen, die sich gegen Polizeigewalt einsetzen, an einer Demonstration in Nanterre teil. Bisher wurden mehr als dreitausend Menschen festgenommen und Hunderte von Polizeikräften bei den Zusammenstößen verletzt.
Die Empörung über Nahels Tod hat sich zu einer Revolte gegen die Polizei und ihre Rolle bei der allgemeinen Ausgrenzung von Minderheiten in Frankreich ausgewachsen. Sie speist sich aus den vielen Erfahrungen der Menschen mit verschiedenen Formen der Schikane und alltäglicher Gewalt seitens der Polizei, von Beschimpfungen (von denen fast jede Person, mit der ich auf der Demonstration am Donnerstag sprach, berichten konnte) bis hin zum systematischen Einsatz von Bußgeldern für geringfügige Vergehen gegen migrantische Communities.
Dass das französische Gesetz statistische Erhebungen streng reguliert, macht es schwer, konkrete Informationen über die Auswirkungen von Rassismus zu sammeln. Ein Bericht der öffentlichen Behörde Défenseur des droits aus dem Jahr 2017 legt jedoch nahe, dass junge Männer, die als schwarz oder arabisch wahrgenommen werden, zwanzigmal häufiger zu einer Ausweiskontrolle angehalten werden als Personen, die als weiß wahrgenommen werden.
Man kann sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass Frankreich schlecht gerüstet ist, um dem Tod dieses jungen Mannes angemessen zu begegnen. In der Folge nimmt die Revolte unvermeidlich politische Bedeutung an.
Emmanuel Macron und seine Regierung haben das in dem Video festgehaltene Vorgehen der Polizisten schnell verurteilt, in der Hoffnung, die Lage zu beruhigen. Genauso schell sind sie aber den Forderungen der Rechten nachgekommen, hart gegen die Proteste durchzugreifen. In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli kamen in ganz Frankreich bis zu 45.000 Polizeikräfte zum Einsatz, und das Innenministerium setzt nun auf Einheiten, die für Anti-Terror-Einsätze ausgebildet sind.
Marine Le Pen hat die Regierung aufgefordert, für das ganze Land den Ausnahmezustand auszurufen. Dies würde Proteste und Versammlungen faktisch verbieten und Maßnahmen wie Ausgangssperren und Hausarreste zulassen. In einigen Vorstädten wurden bereits Ausgangssperren verhängt und Teile des Verkehrsnetzes im Großraum Paris abends früher als üblich geschlossen.
Dass Krawalle nicht toleriert werden, ist wenig überraschend. Aufschlussreich ist jedoch, wie schnell diese soziale Revolte wieder unter der Rhetorik rechter Kulturkämpfe begraben wurde. Auch verwies Macron schrägerweise auf die schädlichen Auswirkungen, die gewalttätige Videospiele hätten.
»Heute ist die Polizei im Kampfeinsatz, denn wir befinden uns im Krieg. Morgen werden wir im Widerstand sein und die Regierung sollte sich dessen bewusst sein.«
Neben der Politik ist noch eine zweite Kraft im Spiel: Frankreichs mächtige Polizeigewerkschaften, die diese Krise zu einem Loyalitätstest für Macron und seine Regierung gemacht haben. Erst behauptete man, der Beamte, der den tödlichen Schuss abgab, habe in Notwehr gehandelt. Dann, als die Aufnahmen des Geschehens dieser Darstellung widersprachen und Macron und andere Regierungsmitglieder sich kritisch äußerten, liefen die Polizeigewerkschaften Sturm.
»Unser Kollege wurde an den Pranger gestellt, um Frieden zu erkaufen und die Randalierer, die die Republik angreifen, zu beschwichtigen«, sagte David-Olivier Reverdy von der Gewerkschaft Alliance Police Nationale gegenüber Le Monde. Er kritisierte auch, dass der verantwortliche Beamte inhaftiert wurde und die Staatsanwaltschaft ankündigte, wegen Mordes gegen ihn zu ermitteln.
Am 30. Juni, am Vorabend der vierten Nacht der Aufstände veröffentlichten die Alliance und die Polizei-Sektion der Union Nationale des Syndicats Autonomes (UNSA) eine reißerische Presseerklärung, in der sie den protestierenden »wilden Horden« und »Schädlingen« drohten und eine unverhohlene Warnung an die Regierung aussprachen.
»Um die Rechtsstaatlichkeit so schnell wie möglich wiederherzustellen, müssen sämtliche Mittel ergriffen werden«, erklären die beiden Gewerkschaften. Und weiter: »Die Alliance Police Nationale und die UNSA Police nehmen ihre Verantwortung wahr und warnen die Regierung bereits jetzt, dass wir, sobald dies hinter uns liegt, in Aktion treten werden. Ohne konkrete Maßnahmen des Rechtsschutzes für die Polizeibeamten, ohne eine Anpassung der strafrechtlichen Reaktion und ohne die Bereitstellung der nötigen Mittel werden die Polizisten selbst beurteilen, wie hoch die Wertschätzung ist, die ihnen entgegengebracht wird.«
Teile des Textes sind kryptisch – andere deutlicher. So schließt die Erklärung: »Heute ist die Polizei im Kampfeinsatz, denn wir befinden uns im Krieg. Morgen werden wir im Widerstand sein und die Regierung sollte sich dessen bewusst sein.«
Fordern die Polizeigewerkschaften etwa, dass die Regierung jegliches Strafverfahren gegen den Beamten, der Nahel erschossen hat, begraben soll? Beanspruchen sie etwa das Recht, neben Tränengas, Gummigeschossen und anderen Formen der offiziell nicht-tödlichen Abschreckung, die üblicherweise eingesetzt werden, auch Formen tödlicher Gewalt anzuwenden?
Die beiden Organisationen sind mit ihren Aussagen zurückgerudert und haben behauptet, die Sache sei unverhältnismäßig aufgebauscht worden. Kritische Stimmen auf der Linken sahen in dieser bombastischen Botschaft einen Angriff auf das Justizsystem und die Regierung. Macron und Innenminister Gérald Darmanin haben sich jedoch bemüht, das Ganze herunterzuspielen, da sie auf die Polizei angewiesen sind, um diese Tage und Wochen zu überstehen. »Ich bin nicht hier, um zu streiten«, sagte Darmanin beim Fernsehsender TF1 auf eine Frage nach dem offenen Brief.
»Macron stützt sich auf Kräfte, die offen dazu aufrufen, die Gewaltenteilung aufzuheben und über die Köpfe der gewählten Regierung hinweg zu handeln – alles im Namen der ›republikanischen Ordnung‹.«
Aber es handelt sich dabei nicht um isolierte Äußerungen einer Randgruppe innerhalb der Polizei. Aus den Gewerkschaftswahlen Ende 2022 ging der Block aus Alliance und UNSA Police als führende Vertretung dieses Berufsstandes hervor, der einen massiven gewerkschaftlichen Organisationsgrad von 90 Prozent aufweist.
Und dies ist auch nicht das erste Beispiel dafür, dass es in der Polizei rumort. Im Mai 2021 organisierten die französischen Polizeigewerkschaften eine große Kundgebung vor der Nationalversammlung und forderten mehr Ressourcen und ein Ende der ihrer Meinung nach laxen Justiz. »Das Problem der Polizei ist das Justizsystem«, erklärte Fabien Vanhemelryck, ein Sekretär der Alliance, vor Tausenden von Polizistinnen und Unterstützern auf der Kundgebung. Während des Wahlkampfs von 2022 unternahmen die Gewerkschaften einen Vorstoß, bei Polizeikräften, die von Gewalt Gebrauch machen, solle von »legitimer Selbstverteidigung« ausgegangen werden. Und als Macron Ende 2020 das Problem des Rassismus und der Gewalt in der französischen Polizei ansprach, riefen sie ihre Mitglieder zu einem Boykott von Ausweiskontrollen und Durchsuchungen auf.
Einer der Gründe für die Aufstände dieser Tage ist die übergroße Rolle, die die Polizei im französischen Alltag spielt. Die Abhängigkeit des Staates von der Polizei begann schon lange vor Marcons Präsidentschaft, doch er hat sich vielleicht stärker auf sie verlassen als jeder seiner Vorgänger. Die furchterregende Ironie ist, dass er sich auf Kräfte stützt, die offen dazu aufrufen, die Gewaltenteilung aufzuheben und über die Köpfe der gewählten Regierung hinweg zu handeln – alles im Namen der »republikanischen Ordnung«.
Harrison Stetler ist ein freier Journalist und Lehrer aus Paris.