01. Mai 2025
Im Krisenjahr 1923 wurde Deutschland von einer revolutionären Stimmung erfasst. Die treibende Kraft dahinter waren Frauen. Doch ihre Belange blieben ungehört – und der deutsche Oktober verpuffte.
Arbeiterinnen mit Gewehren.
1923 gilt vielen als Schlüsselmoment in der Geschichte der deutschen sozialistischen Bewegung. Selten schien die Gelegenheit für den Aufbau einer anderen Gesellschaft so günstig wie im Sommer des Jahres der Hyperinflation. Die Oktoberrevolution in Russland hatte gezeigt, dass ein derartiger Umbruch möglich war, und die spontane Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten hatten bewiesen, dass die Idee des Sozialismus nicht im Schützengraben gestorben war. Das Ende des Ersten Weltkrieges markierte das Wiederaufleben einer linken Massenbewegung.
Besonders Sachsen avanciert im frühen 20. Jahrhundert zur Hochburg der organisierten Arbeiterbewegung. Im südwestlich gelegenen Vogtland, Herz der sächsischen Textilindustrie, erzielte die SPD Wahlergebnisse, von denen man im Rest der Republik nur träumen konnte: Schon 1867 zogen mit August Bebel und Wilhelm Liebknecht gleich zwei prominente Vertreter der Sozialdemokratie aus dieser Region in den Reichstag des Norddeutschen Bundes ein.
Bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1919 erzielten die beiden sozialdemokratischen Parteien MSPD und USPD in Sachsen zwischen 60 und 70 Prozent. Im gesamten Reichsgebiet kamen die Parteien zusammen lediglich auf 45,5 Prozent und schrammten knapp an einer Mehrheit im Parlament vorbei. Die Kommunistinnen und Sozialdemokraten erzielten die meisten Stimmen nicht etwa in Großstädten, sondern in industriellen Landgemeinden und Mittelstädten, die die Textilindustrie in der Region zwischen Plauen, Flöha und Chemnitz hervorgebracht hatte.
»Als die KPD 1923 auf den deutschen Oktober hinarbeitete und eine andere Welt zum Greifen nah schien, waren zwei Drittel aller Beschäftigten in der Textilindustrie Frauen.«
Das Rückgrat der sächsischen Industrie und Arbeiterbewegung war die Textilindustrie. Wollgarn- und Tuchfabriken, Flachs-, Woll- und Spitzenstickereien schossen Ende des 19. Jahrhunderts wie Pilze aus dem Boden und prägten sowohl die Infrastruktur als auch die politische Landschaft. Ratternde mechanische Webstühle wurden zum Sinnbild der Industrialisierung und gaben den Takt des Lebens von 284.000 Arbeiterinnen und Arbeitern in Sachsen vor – 191.000 von ihnen waren Frauen.
Als die KPD 1923 auf den deutschen Oktober hinarbeitete und eine andere Welt zum Greifen nah schien, waren zwei Drittel aller Beschäftigten in der Textilindustrie Frauen. Wer nun glaubt, die Überzahl an weiblichen Beschäftigten in der wichtigsten Industrie des Landes hätte dazu geführt, dass man der Frage nach der Rolle der Frauen im deutschen Oktober eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hätte, irrt leider. Die deutsche Arbeitsgeschichte hat sich lange um die Geschlechterfrage gedrückt. Dieser blinde Fleck führt bis heute zu einem verzerrten Bild und einseitigen Analysen.
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Naima Tiné ist Historikerin und forscht zur politischen Ökonomie von Mutterschaft in der Weimarer Republik.