03. Januar 2024
Eine demokratische Gesellschaft kann den Wirtschaftsliberalismus nicht ernsthaft als freiheitlich gelten lassen. Denn er bedeutet Freiheit nur für die Wirtschaftseliten, für die arbeitende Mehrheit aber Knechtschaft.
Schränkt Christian Lindner die Möglichkeiten des demokratischen Staates ein, auf die Wirtschaft einzuwirken, dann schränkt er ein Stück demokratischer Freiheit ein.
»Die FDP ist die einzige Partei der Freiheit« – so steht es im aktuellen Grundsatzprogramm der Liberalen, den Karlsruher Freiheitsthesen von 2012. Alle anderen würden nämlich »in erster Linie auf den Staat« setzen, der das gerade Gegenteil von Freiheit sei. Das Verhältnis von Staat und Freiheit ist in Wirklichkeit natürlich etwas komplexer – dazu gleich mehr. Zuallererst muss man aber feststellen, wie unfreiwillig bezeichnend es ist, dass die FDP den Wert der Freiheit ganz für sich allein haben will. Denn der Freiheits-Cocktail, den sie im Sinn hat, ist in der Tat ein sehr exklusiver Geschmack.
Das Programm nennt den »politischen Liberalismus« in einem Atemzug mit dem »Wirtschaftsliberalismus«, als seien beide vom gleichen Schlag. Das trifft aber nur bedingt zu – oder, besser gesagt, nur eine kleine Gruppe von Menschen erfährt sie in ihrem Alltag tatsächlich als artverwandt und zusammengehörig: Es sind jene, die Unternehmen besitzen und ihr Geld damit verdienen, dass sie andere für sich arbeiten lassen – nicht zufällig die Klientel der FDP.
Für eine Unternehmerin bedeutet politischer Liberalismus dasselbe wie für alle anderen auch: Sie muss sich keiner staatlichen Autorität fügen, über die sie nicht in demokratischen Verfahren mitbestimmt hat, und selbst dieser Autorität sind rechtliche Grenzen auferlegt, die ihre persönliche Freiheit schützen. Aus ihrer Sicht setzt sich diese Logik im Wirtschaftsliberalismus bruchlos fort: Ebenso, wie sie frei von staatlicher Zensur ihre Meinung bilden und äußern und sich frei von staatlicher Kontrolle in Interessengemeinschaften organisieren will, soll sie auch frei von staatlicher Regulierung ihre Geschäfte führen können.
»Die große Mehrheit, die arbeiten geht, erfährt den Wirtschaftsliberalismus als eine Doktrin nicht der Freiheit, sondern der Herrschaft.«
Doch für die Menschen, die für sie arbeiten, stellt sich die Sache etwas anders dar. Denn viele der staatlichen Regelungen, die die Unternehmerin als Eingriffe in ihre Freiheit erfährt – Mindestlohn, Maximalarbeitszeit, Kündigungsschutz und so weiter – sind für ihre Beschäftigten im Gegenteil gerade solche rechtlichen Grenzen, die ihre persönliche Freiheit vor dem vollen Zugriff einer Autorität schützen, die sie, nebenbei bemerkt, nicht einmal demokratisch gewählt haben: der Autorität der Unternehmerin selbst.
Während also der politische Liberalismus die Freiheit der im Staat zusammengeschlossenen Menschen gegenüber den politisch Mächtigen bezweckt, zielt die gängige Interpretation von wirtschaftlichem Liberalismus umgekehrt auf die Freiheit der wirtschaftlich Mächtigen gegenüber den in ihren Unternehmen zusammengeschlossenen Menschen. Die große Mehrheit, die arbeiten geht, erfährt den Wirtschaftsliberalismus als eine Doktrin nicht der Freiheit, sondern der Herrschaft. Denkt man einmal genauer darüber nach, kommt man zu dem Schluss: Es kann nicht sein, dass eine demokratische Gesellschaft das, was sogenannte Wirtschaftsliberale fordern, überhaupt als freiheitlich bezeichnet. Wir müssen Freiheit in der Wirtschaft neu denken.
»Freie Wirtschaft« ist nicht die einzige Verbindung, in der das Wort »Freiheit« für die Mehrheit der Menschen nichts Gutes verheißt. Ein ähnlicher Fall liegt in einem etwas älteren Grundsatzprogramm einer anderen deutschen Partei vor. Laut ihrem Gothaer Programm von 1875 nämlich »erstrebt die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat«. Die deutsche Sozialdemokratie, die heute mit der FDP koaliert, ließ sich damals noch von Karl Marx und Friedrich Engels persönlich beraten – und die beiden Vordenker der Bewegung widersprachen dieser Formulierung vehement.
Engels sandte einen Brief an den damaligen Parteivorsitzenden August Bebel und gab ihm zu bedenken: »Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, wo der Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mit despotischer Regierung.« Natürlich forderte die Sozialdemokratie in Wahrheit das gerade Gegenteil: Die gesamte Gesellschaft müsse demokratisiert werden. Besser wäre es daher, meinte Engels, anstelle von »Staat« etwas wie »Gemeinwesen« zu schreiben.
»Die Wirtschaftsformen sind freier in dem Maß, worin sie die ›Freiheit der Wirtschaft‹ beschränken.«
Dass es der Arbeiterbewegung um nichts anderes gehen könne als um eine freie Gesellschaft, unterstrich auch Marx in seiner ausführlicheren Kritik des Gothaer Programms. Dabei umriss er zugleich, wie man den Zusammenhang von Freiheit und Staat stattdessen denken müsse: »Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die ›Freiheit des Staats‹ beschränken.«
Den Staat in seiner Freiheit beschränken, also zusehen, dass die Regierenden nicht einfach tun und lassen können, was sie wollen – dem müssten heutige Wirtschaftsliberale energisch beipflichten. Natürlich verstehen sie darunter etwas völlig anderes: Während Marx darauf hinauswill, dass der Obrigkeitsstaat des damaligen Deutschen Kaiserreichs demokratischer Kontrolle unterworfen werden müsse, denkt die FDP vielmehr daran, den in der Zwischenzeit nicht unwesentlich demokratisierten Staat durch Fesseln wie die Schuldenbremse lahmzulegen.
An dieser Stelle ist jedoch interessanter, noch etwas anderes festzustellen. Nämlich würden Wirtschaftsliberale sich dagegen verwehren, diese Logik ebenso auf ökonomische wie auf politische Macht anzuwenden, nach dem Motto: Die Wirtschaftsformen sind freier in dem Maß, worin sie die »Freiheit der Wirtschaft« beschränken. Der wirtschaftsliberale Diskurs möchte uns weismachen, dass staatliche Macht in der Tat schlecht ist und beschränkt werden muss, unternehmerische Macht hingegen gut ist und entfesselt gehört. Die Geschichte aber erzählt uns etwas anderes.
Ein solcher Fall, der den wirtschaftsliberalen Doppelstandard ad absurdum führt, ist die Geschichte des wohl freiesten Unternehmens aller Zeiten: der englischen East India Company. Denn die im Jahr 1600 gegründete Handelsgesellschaft war dermaßen frei, dass sie selbst die Form eines despotischen Kolonialstaats annahm. Wie der Historiker William Dalrymple in seinem Buch The Anarchy schreibt, war es entgegen dem verbreiteten Glauben nämlich »nicht die britische Regierung, die Mitte des 18. Jahrhunderts begann, große Teile Indiens zu erobern, sondern ein gefährlich unreguliertes Privatunternehmen mit Sitz in einem kleinen, fünf Fenster breiten Büro in London«.
Die East India Company war frei, Geld zu prägen, Steuern zu erheben, Gesetze zu erlassen, Gerichte einzusetzen und Streitkräfte zu rekrutieren. Sie konnte selbstständig diplomatische Beziehungen unterhalten, Kriege führen und Frieden schließen. Sobald sie erstmals Territorium unter ihre Kontrolle gebracht hatte, wies sie alle Merkmale eines Staates auf – und blieb dabei doch eine Aktiengesellschaft. Das einzige Parlament, vor dem sich diese De-facto-Regierung verantworten musste, war die Versammlung ihrer Aktionäre, denen sie atemberaubende Dividenden bescherte.
»Die Geschichte der East India Company zeigt, dass unternehmerische Macht, wenn sie von staatlicher Regulierung gänzlich frei ist, selbst quasi-staatliche Formen annehmen kann.«
Der britische Staat begann erst 1773, die East India Company einzuherrschen, nachdem sie die vierjährige Bengalische Hungersnot mit rund 10 Millionen Todesopfern verantwortet hatte. Trotz anhaltenden Geldregens für die Anteilseigner drohte das misswirtschaftende Unternehmen, bankrott zu gehen und die gesamte britische Nationalökonomie mit sich in den Abgrund zu reißen. Es war, wie wir heute sagen würden, »too big to fail«, und wurde von der Regierung gerettet, im Gegenzug aber auch staatlicher Regulierung unterworfen.
Bis Indien eine Kolonie des britischen Staates wurde, brauchte es aber noch einige Jahrzehnte und Unannehmlichkeiten: 1857 rebellierten Teile der Privatarmee der East India Company gegen ihren Arbeitgeber. Der sogenannte Sepoyaufstand wurde blutig niedergeschlagen, doch der britische Staat hatte jedes Vertrauen verloren, dass ein Privatunternehmen diese so ungemein profitable Kolonie zuverlässig im Griff behalten konnte, und verstaatlichte es im folgenden Jahr.
Die Geschichte der East India Company zeigt, dass unternehmerische Macht, wenn sie von staatlicher Regulierung gänzlich frei ist, selbst quasi-staatliche Formen annehmen kann. Das zweierlei Maß der Wirtschaftsliberalen läuft somit auf einen Widerspruch hinaus: Den Staat wollen sie einhegen, die Unternehmen hingegen von Regulierung befreien – doch je mehr man die unternehmerische Macht entfesselt, desto mehr ähnelt sie sich der staatlichen Macht an, die sie doch gerade beschränken wollen. Ein anderer Fall macht aber noch augenfälliger, dass »Freiheit« im wirtschaftsliberalen Sinne ein Etikettenschwindel ist.
Auch Belgiens König Leopold II. kolonisierte ab 1879 riesige Gebiete in Zentralafrika mittels eines Privatunternehmens: der Association Internationale du Congo. Wie der Journalist Adam Hochschild in seinem Buch Schatten über dem Kongo ausführt, war der Monarch ein Verfechter »des Rechts privater Gesellschaften […], bei Verträgen mit Eingeborenenhäuptlingen wie souveräne Staaten aufzutreten«. In diesen Verträgen, die den Häuptlingen in fremder Sprache vorgelegt wurden, stimmten sie beispielsweise zu, »aus freien Stücken, für sich und ihre Erben und Nachfolger für alle Zeiten der genannten Association die Souveränität und alle souveränen und Herrscherrechte zu übertragen«.
Warum kolonisierte König Leopold den Kongo nicht mittels des Staates, dessen Oberhaupt er immerhin war? Die Antwort ist ganz einfach: Die Form des Privatunternehmens gewährte ihm größere Freiheit als sein eigener Staat, in dem eine Verfassung, ein Parlament und eine gewählte Regierung seine Macht begrenzten. Sein persönliches Kolonialreich in Afrika hatte selbstredend nichts dergleichen. Er taufte es auf den Namen Kongo-Freistaat – sehr passend, zumal es Engels’ Definition eines freien Staates genau entspricht: ein Staat mit despotischer Regierung.
»Der Fall des Kongo-Freistaats führt deutlich vor Augen, dass Despotie immer Despotie bleibt, ob sie nun als staatliche Willkür oder als unternehmerische Freiheit codiert wird.«
»Wir haben Freiheit, wir haben Unabhängigkeit, und das Leben hat unendliche Horizonte. Hier ist man frei und nicht bloß ein Sklave der Gesellschaft«, so schwärmte ein beim Unternehmen des Königs angestellter Manager in einem Brief nach Hause. Dieses »Wir« schloss jedoch nicht die versklavten Menschen ein, die abgehungert, in Ketten gelegt und vielfach verstümmelt den Reichtum des Unternehmer-Monarchen erarbeiteten. Auch sie rebellierten, unter anderem in einer langandauernden Meuterei ab 1897, in der sie aus ihren Reihen einen eigenen König wählten und versuchten, den Herrschaftsapparat Leopolds aus dem Land zu vertreiben – vergeblich.
Als man den internationalen öffentlichen Aufschrei über die Geschäftspraktiken des Kongo-Freistaats nicht mehr überhören konnte, ließ sich Leopold – der gewiefte Geschäftsmann, der er war – sein Privatimperium 1908 vom belgischen Staat abkaufen. Gegenüber dem deutschen Kaiser Wilhelm II. soll er einmal gesagt haben: »Unsereinem bleibt wirklich nichts als das Geld!« Am Ende hatte er als Privateigentümer der profitabelsten Kolonie Afrikas dem Kongo Hunderte Millionen von Francs abgepresst und dabei die Bevölkerung des Landes halbiert.
Warum sollten wir unternehmerische Macht und staatliche Macht grundsätzlich unterscheiden, wenn Könige – also genau diejenigen, deren Freiheit und Macht der politische Liberalismus zu beschränken antrat – ihre despotische Herrschaft ohne große Umgewöhnung in der Form des Privatunternehmens weiterführen konnten? Der Fall des Kongo-Freistaats führt deutlich vor Augen, dass Despotie immer Despotie bleibt, ob sie nun als staatliche Willkür oder als unternehmerische Freiheit codiert wird.
Oder hatten etwa die Aufständischen in Indien 1857 und im Kongo 1897 weniger Recht, für ihre Selbstbestimmung zu streiten, nur weil es sich bei ihren Herrschern streng genommen nicht um staatliche Kolonialmächte, sondern um multinationale Unternehmen handelte? Wir müssen diese Frage gar nicht hypothetisch durchdenken, denn auch diesbezüglich zeigt die Geschichte, dass demokratische Freiheiten der Form des Privatunternehmens keineswegs fremd, sondern geradezu angestammt sind.
Denn, wie es der Verfassungsrechtler Adam Winkler in seinem Buch We the Corporations auf den Punkt bringt: »Am Anfang waren die USA ein Unternehmen.« Wie Indien, so wurde auch Nordamerika nicht in erster Linie von England kolonisiert, sondern von einer englischen Aktiengesellschaft – der 1606 gegründeten Virginia Company of London. Und wie heute, so wählten auch damals schon die Anteilseigner den CEO des Unternehmens, der zugleich als Gouverneur der Kolonie agierte.
»Im US-amerikanischen Fall war da zuerst eine (auf weiße Männer beschränkte) Wirtschaftsdemokratie, und erst dann eine (auf weiße Männer beschränkte) Staatsdemokratie.«
Im Jahr 1619 entschieden sie, ihren bisherigen CEO-Gouverneur auszutauschen. Der vorige hatte das Unternehmen mit so harter Hand geführt, dass es große Schwierigkeiten hatte, überhaupt Kolonisten zu rekrutieren. Der neue Geschäftsführer griff nun zu einer außerordentlichen Maßnahme, um den Laden zu retten: Er erhöhte den Anreiz, bei der Virginia Company anzuheuern, indem er den Kolonisten Landbesitz und Mitbestimmung über ihre Arbeits- und Lebensverhältnisse durch eine lokale Versammlung einräumte. Im US-amerikanischen Fall war da also zuerst eine (auf weiße Männer beschränkte) Wirtschaftsdemokratie, und erst dann eine (auf weiße Männer beschränkte) Staatsdemokratie.
Als die Gründerväter der USA 1787 die Verfassung ihres neuen Staates schrieben, konnten sie zudem auf eine Tradition von Unternehmensverfassungen zurückgreifen. Insbesondere scheinen sie sich bei der Massachusetts Bay Company bedient zu haben, die schon 1629 in ihrer Charta die Befugnisse und Grenzen der Exekutivgewalt festhielt und ihre Kolonisten als freie Rechtssubjekte definierte. Der CEO-Gouverneur dieses Unternehmens wurde von den Kolonisten gewählt, war zugleich militärischer Oberbefehlshaber, konnte Straftäter begnadigen, aber auch seinerseits durch ein Impeachment-Verfahren abgesetzt werden, und wurde, falls er ausfiel, durch seinen Vize ersetzt – alles Bestimmungen, die bis heute das US-Präsidentenamt kennzeichnen.
Die USA – ihrem Selbstverständnis nach das prototypische Land der Freiheit – haben den Liberalismus also zuerst auf ökonomischer Ebene kennengelernt. Und zwar praktizierten sie wohlgemerkt wirtschaftlichen Liberalismus nach dem Muster, das heute selbstverständlich mit dem politischen Liberalismus verbunden ist, aber ganz im Gegensatz dazu steht, was gemeinhin als Wirtschaftsliberalismus bezeichnet wird.
Die europäischen Eroberer in Nordamerika konnten nur deshalb von einer Firmenkultur des militärischen Gehorsams zu militärischem Gehorsam plus Mitbestimmung übergehen, weil die Virginia Company auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen war, Kolonisten anzuziehen und zu halten. Die Aktionäre, die finanziell am Erfolg der Unternehmung hingen, konnten entweder Rechte gewähren oder einpacken. Bosse haben nunmal lieber eingeschränkte Macht über jemanden als unbeschränkte Macht über niemanden – und diese Regel bestimmt die menschliche Freiheitsgeschichte bis weit über den Kolonialismus hinaus.
In Anfänge: Eine neue Geschichte der Menschheit destillieren der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow aus dem reichhaltigen Material ihrer Disziplinen drei »Grundfreiheiten« heraus, die das Leben unserer entfernten Vorfahren bestimmten. Und zwar handelt es sich dabei um »die Freiheit, sich an einen anderen Ort zu begeben, die Freiheit, die Befehle anderer zu ignorieren, und die Freiheit, soziale Realitäten zu verändern oder neu zu erschaffen«, die in dieser Reihenfolge aufeinander aufbauen.
»Wissen Arbeiterinnen und Arbeiter, dass sie notfalls leicht anderswo Anstellung finden werden, dann können sie sich besser überzogenen Forderungen ihrer Vorgesetzten widersetzen.«
Eines ihrer Beispiele sind die sumerischen Tempel im antiken Mesopotamien. Diese gewährten einst Menschen Unterschlupf, die elenden und missbräuchlichen Verhältnissen entfliehen mussten, ließen sie arbeiten und teilten ihnen im Gegenzug Lebensmittelrationen zu. Ihre Existenz disziplinierte die Mächtigen in umliegenden Gemeinschaften: Fürsten konnten aufmüpfige Untertanen, Patriarchen eigensinnige Frauen oder Gläubiger säumigen Schuldner nicht einfach nach Belieben drangsalieren, sondern mussten sich in Nachsicht üben und ein gewisses Maß an Widerstand zulassen, weil den jeweils Unterlegenen eine Exit-Option offenstand.
Doch mit der Zeit verwandelten sich die Tempel aus wohltätigen Institutionen in grausame Arbeitshäuser. Menschen, die unterdrückt und ausgebeutet wurden, hatten nun keinen Ort mehr, zu dem sie sich davonstehlen konnten, an dem sie nicht ebenfalls Unterdrückung und Ausbeutung erwartete. Dies gab den Herrschenden effektiv freie Hand und verunmöglichte es ihren Untertanen, sich zu widersetzen und darüber mitzubestimmen, wie ihre Gemeinschaften organisiert sein sollten.
Das mag zwar ziemlich lange her sein, jedoch erweist sich diese Frühgeschichte der Freiheit und ihres Verlusts als überraschend aktuell. Denn die Kräfte, die vor Tausenden von Jahren in den sumerischen »Tempel-Fabriken« wirkten – die übrigens als Ursprung sowohl der staatlichen Bürokratie als auch des unternehmerischen Managements gelten – funktionieren nicht viel anders auch in unserer heutigen Arbeitswelt.
Wissen Arbeiterinnen und Arbeiter, dass sie notfalls leicht anderswo Anstellung finden werden (die Freiheit, sich an einen anderen Ort zu begeben), dann können sie sich besser überzogenen Forderungen ihrer Vorgesetzten widersetzen (die Freiheit, die Befehle anderer zu ignorieren). Und nur wenn sie sich widersetzen – das heißt in diesem Zusammenhang nicht zuletzt: streiken – können, haben sie eine Chance, alles von betrieblicher Mitbestimmung bis hin zu voller Wirtschaftsdemokratie (die Freiheit, soziale Realitäten zu verändern) zu erkämpfen. Wie steht es um diese Freiheiten in der kapitalistischen Ordnung?
Im Kapital hat Marx den Begriff des »doppelt freien Lohnarbeiters« geprägt – und die erste dieser beiden Freiheiten fällt tatsächlich zusammen mit der ersten Grundfreiheit nach Graeber und Wengrow: Eine Arbeiterin im Kapitalismus ist nicht an ihren Boss gebunden, sondern grundsätzlich frei, zu kündigen. Doch die zweite Freiheit, die Marx meint, ist leider nur ironisch gesprochen eine Freiheit für die Arbeiterin und in Wirklichkeit eine Beschränkung: Sie ist »frei« von jeglichem Eigentum an Produktionsmitteln und muss daher für Kapitalisten arbeiten. Sie kann ihrem Boss zwar den Rücken kehren, jedoch mit ihrer Arbeitskraft nirgendwo hingehen, wo sie nicht ebenfalls Ausbeutung erwartet.
»Vollbeschäftigung ist für wirklich freiheitliche Wirtschaftspolitik, was für den sogenannten Wirtschaftsliberalismus die Kapitalfreizügigkeit ist.«
Dazu kommt noch ein zweiter Umstand, der die erste Grundfreiheit untergräbt – und auch ihm hat Marx einen Namen gegeben: »die industrielle Reservearmee«. Gemeint ist das Heer von Arbeitslosen, das, um Armut und Isolation zu entfliehen, jederzeit bereitsteht, um vom Kapitalisten mobilisiert zu werden. Besteht große Arbeitslosigkeit, haben Unternehmensleitungen mehr Freiheit, ihre Beschäftigten auf die Straße zu setzen, wenn sie sich aufmüpfig verhalten, oder zeitweisen Ersatz anzustellen, wenn sie in den Streik treten.
Der Sinn und Zweck der Arbeiterbewegung – die man am besten als die Befreiungsbewegung der Arbeitenden im Kapitalismus versteht – liegt darin, ausgehend von der ersten Freiheit, dass sie prinzipiell nicht an ihre Arbeitgeber gekettet sind, bis hin zur dritten Freiheit zu gelangen, dass sie demokratisch ihre eigenen Arbeitsbedingungen gestalten können. Eine wirtschaftsliberale Politik, die ihren Namen auch wirklich verdient, müsste sie dabei nach Kräften unterstützen. Und das erste Ziel einer solchen Wirtschaftspolitik wäre es, Vollbeschäftigung herzustellen.
Vollbeschäftigung ist für wirklich freiheitliche Wirtschaftspolitik, was für den sogenannten Wirtschaftsliberalismus die Kapitalfreizügigkeit ist: Können Unternehmen ihr Kapital ungehindert auf dem Weltmarkt hin- und herbewegen, dann verwickelt das die Staaten in einen Wettkampf untereinander, wer die besten Rahmenbedingungen für privaten Profit bieten kann. Analog dazu bildet Vollbeschäftigung, wenn Werktätige sich frei in der Arbeitswelt bewegen können und Unternehmen in Ermangelung einer Reservearmee auf den guten Willen ihrer Beschäftigten angewiesen sind, die optimale Ausgangslage für Arbeitskämpfe.
Eine Politik der Vollbeschäftigung gibt sich allerdings nicht damit zufrieden, wenn die Arbeitslosigkeit konjunkturell bedingt Tiefstände erreicht, bevor sie durch den nächsten Wirtschaftseinbruch wieder zunimmt, oder mit grassierender prekärer Beschäftigung. Sie meint vielmehr eine dauerhafte Garantie für alle arbeitenden Menschen, dass sie jederzeit sinnvolle und vernünftig bezahlte Anstellung finden können. Zu diesem Zweck muss der Staat jedoch ausgiebig in die Wirtschaft eingreifen: regulieren, investieren und mitunter sozialisieren – also eine Politik betreiben, bei der es den »Wirtschaftsliberalen« kalt den Rücken herunterläuft.
Dergleichen als freiheitlich zu verstehen, mag aus heutiger Sicht ungewohnt sein, da die Wirtschaftseliten ihre Sicht der Dinge mit so durchschlagendem Erfolg vermarktet haben. Doch der Gedanke ist nicht einfach aus der Luft gegriffen. In Deutschland vertrat ihn zum Beispiel Viktor Agartz, der Cheftheoretiker des DGB in der Nachkriegszeit und einer der letzten bedeutenden Marxisten in der SPD.
»Schließlich bezeichnen wir autoritäre Staaten auch nicht als liberal, nur weil deren Machthaber frei sind, nach Lust und Laune mit Land und Menschen umzuspringen.«
Als Unternehmerverbände ihm vorwarfen, die von ihm vorgeschlagene Politik der Vollbeschäftigung würde die wirtschaftliche Freiheit bedrohen, entgegnete er: »Den Vertretern der ›freien‹ Wirtschaft unterläuft hier eine merkwürdige Verwechslung. Sie identifizieren ihre ›Freiheit‹ mit der Freiheit aller schaffenden Menschen.« Dabei sei es doch in Wirklichkeit so, dass man mitunter die »Freiheit der Produktionsmittelbesitzer« beschränken müsse, um andererseits »allen arbeitenden Menschen mehr Freiheit zu geben«.
Freiheit bedeutet in einer Demokratie, dass die Menschen Staat und Wirtschaft nicht als fremden Mächten ausgesetzt sein dürfen, sondern sie demokratisch kontrollieren müssen. Verhindern Bosse, dass in ihren Unternehmen Betriebsräte gegründet werden, dann verhindern sie, dass die Beschäftigten ihre Freiheiten schützen. Beargwöhnen Unternehmerverbände Arbeitskämpfe, dann beargwöhnen sie den Freiheitskampf der Arbeitenden. Und schränkt die FDP im Namen der Freiheit die Möglichkeiten des demokratischen Staates ein, auf die Wirtschaft einzuwirken, dann schränkt sie ein Stück demokratischer Freiheit ein.
Dies ist das einzige einer demokratischen Gesellschaft angemessene Verständnis von Freiheit in der Wirtschaft. Schließlich bezeichnen wir autoritäre Staaten auch nicht als liberal, nur weil deren Machthaber frei sind, nach Lust und Laune mit Land und Menschen umzuspringen. Genau das ist es aber, was die vermeintlich Liberalen in Verbänden, Parteien, auf Lehrstühlen und anderswo in Bezug auf die Wirtschaft von uns verlangen. Sie sind viel zu lange mit dieser falschen Vorspiegelung davongekommen. Nennen wir sie bei ihrem echten Namen: »Wirtschaftsliberale« sind in Wahrheit Wirtschaftsautoritäre.
Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.