20. Oktober 2022
An den EU-Außengrenzen werden Asylsuchende illegal zurück aufs Mittelmeer gedrängt und dem Tod überlassen. Ein Bericht der EU-Antibetrugsbehörde OLAF hat jetzt offengelegt, dass Frontex-Beamte diese Pushbacks systematisch vertuscht haben.
Mitarbeiter der nichtstaatlichen Rettungsorganisation Open Arms vor einem Boot mit Geflüchteten im Mittelmeer, 18. Mai 2022.
IMAGO / ZUMA WireIn einer Sommernacht im Jahr 2020 ging ein noch nicht ganz 18-jähriger Junge in der Ägäis, irgendwo zwischen der Türkei und Griechenland, unter Wasser. Im Meer zu ertrinken kann mitunter weniger als eine Minute dauern, wenn man um Atem ringt, während Salzwasser die Lungen füllt und die Sauerstoffzufuhr abbricht.
Aber der Jugendliche machte keinen stillen Abgang. Er hatte nicht die Absicht, zu sterben. Er hätte es nicht so weit geschafft, über Länder und Kontinente hinweg, wenn er nicht die wilde Hoffnung aufs Überleben in sich getragen hätte. Er versuchte, sich so lange wie möglich über Wasser zu halten.
Wir wissen, was passiert ist, weil es einen Zeugen gab. Jeancy – zu diesem Zeitpunkt ebenfalls noch ein Teenager – war nur wenige Meter entfernt, klammerte sich an die Seite eines Schlauchboots, das von den hohen Wellen hin und her geschleudert wurde, und sah machtlos dabei zu, wie sein Freund unterging.
Die hohe See ist grausam und unbarmherzig. Aber dies war kein unglücklicher Schiffbruch. Jeancy zufolge wurden die Wellen absichtlich erzeugt, und zwar durch das Fahrwasser eines Schiffs der griechischen Küstenwache. »Sie beabsichtigten, uns zu töten«, sagt Jeancy. Selbst in der großzügigsten Interpretation agierte die Küstenwache gleichgültig gegenüber der tödlichen Gefahr, die ihr Handeln für die Männer, Frauen, Kinder und das Baby an Bord des Schlauchboots darstellte. Jeancy erinnert sich, dass die Wachleute amüsiert dabei zusahen, wie sein Freund ertrank. Ihr Lachen könnte das Letzte gewesen sein, was er hörte, bevor er starb. Sie unternahmen keinen Versuch, die Leiche zu bergen.
Viel zu spät wurden Jeancy und die anderen schließlich an Bord des griechischen Schiffs geholt. Doch das war keine Rettung. Er erinnert sich, dass einige von ihnen geschlagen und beraubt wurden. Sie wurden auf viel zu kleine Flöße gezwungen, die sich nicht steuern ließen – weitaus gefährlicher als das Schlauchboot, das sie zurückgelassen hatten –, und auf offenem Meer wieder ausgesetzt. Nachdem sie stundenlang in Richtung Anatolien zurückgetrieben waren, wurden sie schließlich von der türkischen Küstenwache gerettet und festgenommen.
Jeancy hat mehrmals versucht, die Ägäis zu überqueren. Es war seine zweite Überfahrt, als er den Tod seines Freundes mitansehen musste. Bei der ersten hatte er es bis in die Nähe der griechischen Küste geschafft und erlebte den ersten Zwischenfall nach einem bald vertrauten Muster. »Uns wurde gesagt, wir seien sicher und könnten den Motor abstellen«, erinnerte er sich später vor Parlamentsabgeordneten. Dann begannen die Wachen, die Kapuzen trugen, um nicht erkannt zu werden, »uns zu durchsuchen und nahmen alles mit, was wir hatten – Telefone, Taschen, die Kleidung, die uns warm hielt«.
Bei seinem dritten Versuch erreichte Jeancy Griechenland. Er gehörte zu einer Gruppe von achtzehn Personen – darunter drei schwangere Frauen und drei Kinder –, die an einem Novemberabend im Süden der Insel Lesbos an Land gingen. Sie wurden von der Polizei abgefangen, einer Leibesvisitation unterzogen, geschlagen, stundenlang ohne Essen und Trinken in einem Bus festgehalten und schließlich zurück aufs Meer gebracht und auf gefährliche Flöße gesetzt.
»Unabhängig von der Staatsangehörigkeit ist es eine Menschenrechtsverletzung, jemanden auf das Meer zu schleppen und dort seinem Schicksal zu überlassen.«
Jeancy ist kein Seemann – er konnte nicht einmal schwimmen. Was treibt einen jungen Mann dazu, immer wieder dem Tod ins Auge zu blicken? In Jeancys Fall war es das Gefühl, keine andere Wahl zu haben. Als er fünfzehn Jahre alt war, starb sein Vater; daraufhin wurde seine Familie verfolgt und gefoltert. Schließlich floh er aus seiner Heimat, dem Kongo, und erreichte im Winter 2019 die Türkei. Dort gab es für ihn keine Sicherheit, keine Chance, sich ein neues Leben aufzubauen, und es bestand die Gefahr, dass er abgeschoben werden würde.
In Europa hätte er, zumindest theoretisch, Zugang zu einem fairen Asylverfahren und die Möglichkeit, sein Studium der Philosophie und Literatur, das er in Kinshasa begonnen hatte, wieder aufzunehmen. »Ich wünsche mir einen Ort, an dem ich meine Ruhe habe, an dem ich schlafen kann«, sagt er. In der Praxis bekam er nicht einmal die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen.
Jeancy überstand diese Tortur – zumindest körperlich. Und er beschloss, Gerechtigkeit einzufordern. Er traf sich mit Front-LEX, einer Organisation, die von Anwältinnen und Aktivisten gegründet wurde, um die fehlende juristische Rechenschaftspflicht der EU-Migrationspolitik und insbesondere der Grenzschutzagentur Frontex, auf die der Name der Organisation anspielt, anzugehen. Jeancys Fall wird nun vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt. Ein Mann, der von der europäischen Grenzwache dem Tod überlassen wurde, ist nun gekommen, um vor Gericht gegen sie zu kämpfen.
Angriffe auf See, wie sie gegen Jeancy verübt wurden, gehören zum Alltag der Grenzpolizei. Trotz ihrer tödlichen Folgen werden sie oft verharmlosend als »Pushbacks« bezeichnet. Allein auf dem Gebiet der Ägäis hat es schätzungsweise 43.000 solcher Übergriffe gegeben. Jeancys Gerichtsverfahren soll aufzeigen, dass die Angriffe, denen er ausgesetzt war, keine Unfälle waren, sondern eine vorsätzliche, illegale Praxis, die sowohl von den griechischen Grenzschutztruppen als auch von Frontex angewandt wird; und dass diese Einsätze sowohl nach EU-Recht, als auch nach der Satzung von Frontex selbst eingestellt gehören. Und es gibt noch eine weitere Begründung: In Jeancys Prozess wird argumentiert, dass er ein Recht auf ein faires Asylverfahren hat, aber aufgrund der Operationen der Küstenwache im Mittelmeer daran gehindert wird, dieses Recht wahrzunehmen.
Frontex überwacht die Ägäis zusammen mit der griechischen Küstenwache. Die Agentur hat an Macht und Ansehen gewonnen und in den letzten Jahren Mittel in Milliardenhöhe zugewiesen bekommen. Sie erweitert ihren Aufgabenbereich mit neuen Systemen von Spionageballons bis hin zu KI-gestützter Profiling-Technologie. Dabei bleibt Frontex in mancherlei Hinsicht eine Art Franchising-Unternehmen: Es beaufsichtigt und koordiniert die Arbeit von Dutzenden von nationalen Grenzwachen und sorgt – möglicherweise absichtlich – für eine komplexe Struktur, die das Abwehren von Anschuldigungen erleichtert. Das macht es natürlich schwieriger, effektiv Rechenschaftspflicht einzufordern.
Verbrechen gegen Migrantinnen und Migranten haben einen schwierigen rechtlichen Status, da diese Menschen weder die besser definierten Rechte von Staatsbürgerinnen gegen Polizeigewalt noch die eines Soldaten gegen Missbrauch durch feindliche Truppen besitzen. Dennoch ist es ganz unabhängig von der Staatsangehörigkeit eine Menschenrechtsverletzung, jemanden auf das Meer zu schleppen und dort seinem Schicksal zu überlassen. Die Frontex-Satzung selbst enthält in Artikel 46 eine Bestimmung, die im Falle systematischer Menschenrechtsverletzungen die Einstellung von Operationen vorschreibt. Frontex hat diesen Artikel erwartungsgemäß nie geltend gemacht hat. Und auch die schwedische Sozialdemokratin und EU-Kommissarin für Inneres Ylva Johansson hat es noch nicht für notwendig erachtet, einen Abzug von Frontex zu fordern.
Jeancys aktueller Prozess ist sein zweites von Front-LEX unterstütztes Verfahren vor dem EuGH. Sein erster Fall wurde aus verfahrenstechnischen Gründen nicht verhandelt, wobei das Gericht aber davon absah, ihm die Gerichtskosten von Frontex aufzuerlegen. Seit diese erste Klage abgewiesen wurde, hat sich viel verändert. In den letzten Jahren hat eine bunt gemischte Gruppe von Journalistinnen und NGOs unermüdlich die Grenzschutz-Operationen Europas und Griechenlands in der Ägäis untersucht. In diesem Sommer veröffentlichte die Plattform Lighthouse Reports in Zusammenarbeit mit Le Monde und dem Spiegel eine Reihe von Beweisen, die die Beteiligung von Frontex an und ihre Aufsicht über Angriffe der griechischen Küstenwache auf Geflüchtete im Mittelmeer belegen.
Die Klage von Front-LEX stützt sich unter anderem auf einen streng geheimen Bericht des Europäischen Amtes für Betrugsbekämpfung (OLAF). Darin wird das interne Arbeitsklima bei Frontex als dysfunktional beschrieben: Der Arbeitsalltag sei geprägt von Mobbing, Inkompetenz, Fehlverhalten und einer absichtlichen Ausgrenzung derjenigen, die für die Einhaltung von Standards und Menschenrechten verantwortlich sind. Infolgedessen wurde Fabrice Leggeri, der Direktor von Frontex, zum Rücktritt gezwungen.
»Valeske und ihr Team argumentieren, dass in der Ägäis die Rechtsstaatlichkeit als solche zusammengebrochen ist.«
Die neue Interimsdirektorin Aija Kalnaja (die in Lettland als Polizeibeamtin tätig war, bevor sie 2013 zu den europäischen Strafverfolgungsbehörden wechselte) sollte Frontex ein freundlicheres Gesicht verleihen. Clare Daly, eine EU-Parlamentsabgeordnete aus Irland, die im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres sitzt, hat jedoch Zweifel an Kalnajas Darstellung angemeldet. »Sie war sehr defensiv – ihre Hauptsorge war, dass die Moral der Frontex-Angestellten unter der schlechten Publicity leidet, und nicht etwa die Ernsthaftigkeit der Dinge, die geschehen sind. Frontex scheint keine Lehren daraus gezogen zu haben und zeigt keine konkreten Anzeichen dafür, das Problem in den Griff zu bekommen und seine Arbeitsweise zu ändern.«
Während der OLAF-Bericht nach wie vor als geheim eingestuft ist (und die Aktivistinnen und Anwälte fordern, dass er vollständig veröffentlicht wird), bringt der Fall Jeancy neue Details ans Licht. Das OLAF stellt nicht nur fest, dass Frontex von solchen Fälle gewusst hat, sondern findet auch eindeutige Beweise für Vertuschung und Versäumnisse bei der Aufzeichnung und Berichterstattung bis hin zum Verlegen der Luftüberwachung, um zu verhindern, dass Menschenrechtsverletzungen aufgezeichnet werden. Kalnaja behauptet bizarrerweise, den Bericht nicht gelesen zu haben.
Das Verhalten von Frontex im Fall Jeancy hat sich als Lackmustest dafür erwiesen, ob Kalnajas Führung mehr als nur eine oberflächliche Veränderung darstellt. Die Front-LEX-Sprecherin Josephine Valeske zweifelt an dem Engagement der neuen Chefin. »Erst haben sie versucht, ihre illegalen Machenschaften zu verbergen. Jetzt sagen sie, dass sie den Artikel 46 umdrehen und nicht weniger, sondern mehr Beamte dorthin schicken werden, wo Menschenrechtsverletzungen stattfinden. Es fühlt sich so an, als würden sie austesten, wie weit sie gehen können, bevor sie jemand aufhält. Nur ein Rechtsspruch wird ihnen ihre Grenzen aufzeigen können.«
Valeske und ihr Team argumentieren, dass in der Ägäis die Rechtsstaatlichkeit als solche zusammengebrochen ist. »Diese Angriffe sind illegal. Aber ein großer Teil des Problems ist die Konzentration der EU-Exekutivgewalt. Wenn ein Mitgliedstaat gegen die Menschenrechte verstößt, kann man ihn nach Straßburg vorladen. Das ist bei den EU-Exekutivagenturen nicht der Fall. Die richterliche Gewalt ist also geschwächt worden, und wir versuchen, sie wiederherzustellen.« Dies ist die Logik, die der Arbeit von Front-LEX zugrunde liegt – der ersten NGO, die sich darauf spezialisiert hat, Frontex vor den EuGH zu bringen. Mit ihrer sorgfältig konzipierten juristischen Strategie erprobt die Organisation unterschiedliche Ansätze, um neue Kanäle der Rechenschaftspflicht zu schaffen und Frontex und ähnliche Agenturen in die Schranken zu weisen.
Die Stärkung der Rechtssprechung ist ein Maßstab für den Erfolg, ein anderer ist das Einfordern individueller Verantwortung. Vor dem Rücktritt von Fabrice Leggeri hatte Front-LEX bereits ein Vorverfahren gegen ihn eingeleitet, das den Druck auf ihn erhöhte. Valeske gibt Mitarbeiterinnen und Auftragnehmern von Frontex, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind, zu bedenken, dass »es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Druck wächst, und nichts kann ewig im Verborgenen bleiben«. Und sie richtet einen Aufruf an potenzielle Informantinnen und Informanten: »Wenn man von etwas weiß, ist jetzt der Zeitpunkt, sich zu melden und auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen.« Kürzlich wurde ein von Frontex beauftragtes dänisches Schiff dafür gelobt, dass es sich weigerte, eine Pushback-Maßnahme durchzuführen. Die Hoffnung ist, dass solche Geschichten keine Ausnahme bleiben.
Doch es mangelt an Ressourcen. Rechtsstreits im Zusammenhang mit Migration auf dem Mittelmeer werden oft von finanziell besser ausgestatteten rechten Organisationen initiiert – zum Beispiel Prozesse gegen Rettungshelferinnen, gegen Politiker, die Geflüchteten helfen, oder gegen Geflüchtete selbst. Auf der anderen Seite kämpft die Bewegung für Geflüchtetenrechte ums wirtschaftliche Überleben. Die Organisation Josoor, die in der Türkei Überlebende von Vorfällen wie dem von Jeancy unterstützte, wurde von den Behörden schikaniert und musste letztendlich ihre Tätigkeit einstellen, weil ihr das Geld fehlte. Seenotrettungsorganisationen beklagen, dass man sie wegen unbedeutender Formalitäten mit Hafengebühren in den Bankrott zu treiben versucht.
Auch Jeancys Rechtsteam geht es nicht anders – sie arbeiten mit einem schmalen Budget und kommen an keine Mittel der EU oder ihrer Mitgliedsstaaten, da der Ukrainekrieg einen Großteil der Hilfen absorbiert. »Es ist schwer abzusehen, wie viel diese Fälle, die sich über Jahre hinziehen können, kosten werden«, sagt Valeske. »Gegenwärtig bemühen wir uns, das Nötigste über Crowdfunding zusammenzubekommen, 50.000 Euro, um bis zum Jahresende durchzuhalten.«
Der Ressourcenmangel beeinträchtigt aber nicht ihren Ehrgeiz. Mit Fällen wie dem von Jeancy hoffen die Anwältinnen und Aktivisten, das gewaltsame Grenzregime der EU in seinen Grundfesten zu erschüttern. »Wir wollen, dass der EuGH entscheidet, dass Frontex seine Operationen zunächst in der Ägäis und dann auch an allen anderen Orten, wo die Agentur Grundrechte verletzt, aussetzen oder einstellen muss«, sagt Valeske. »Auf diese Weise ebnen wir den Menschen den Weg, ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen zu können.«
Jeancy fasst zusammen: »Die Gerechtigkeit ist meist auf der Seite der Mächtigen. Selbst wenn es Videobeweise für unsere Festnahme und Entführung gibt, bleiben diese Verbrechen ungesühnt. Wie viele Todesfälle haben diese Eingriffe vor unser aller Augen verursacht? Und trotzdem handelt das System nicht.« Und er reflektiert: »Ich habe mir dieses Leben nicht ausgesucht – es wurde mir aufgezwungen. Deshalb bitte ich um eine Chance, mein Leben und meine Jugend wieder in meine eigenen Hände zu nehmen.«
Bei all den komplexen politischen Zusammenhängen, die dem Grenzregime zugrunde liegen, ist der Kern der Geschichte ganz einfach: Ein Mann, der die Ermordung seines Freundes mitansehen musste, kämpft dafür, dass so etwas nie wieder geschieht.
Nathan Akehurst ist Autor, Campaigner und arbeitet im Bereich politische Kommunikation und Advocacy.