31. März 2023
Sinn Féin liegt in den Umfragen deutlich vorn und ist in Irland so beliebt wie noch nie. Über den Erfolg der Partei und ihre Vision für eine irische Wiedervereinigung spricht die Parteivorsitzende Mary Lou McDonald im JACOBIN-Interview.
Sinn-Féin-Vorsitzende Mary Lou McDonald bei einer Wahlveranstaltung, Dublin, 21. Januar 2020.
IMAGO / PA ImagesAls in Europa im vergangenen Jahrzehnt die Austeritätspolitik wütete, entstanden zahlreiche linke Bewegungen in Opposition zu ihren jeweiligen Regierungen: Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien, La France Insoumise in Frankreich und (von 2015 bis 2019) die britische Labour Party unter Jeremy Corbyn. Alle diese Bewegungen kamen von außerhalb der traditionellen linken Mitte und haben in gewissem Maße von den anderen gelernt. Sie boten der internationalen Linke in einer Zeit der tiefen sozialen Krisen Momente der Hoffnung.
Spätestens 2020 war diese Hoffnung erloschen. Die viel gepriesenen »neuen« Parteien und Bewegungen hatten Niederlagen erlitten, und der Status quo war mit aller Macht zurückgekehrt. Doch es gab Ausnahmen: Bei den irischen Parlamentswahlen gelang einer weitaus älteren Bewegung ein Durchbruch. Sinn Féin, die vor dem Finanz-Crash noch bei 6 bis 7 Prozent herumdümpelte, konnte ihre Zustimmungswerte auf einen historischen Höchststand von 24,5 Prozent steigern – und besiegte damit die beiden konservativen Parteien, die die irische Politik seit der Gründung der Republik dominiert hatten.
In Nordirland war Sinn Féin kontinuierlich gewachsen. Im Jahr 2003 verdrängte sie die Social Democratic and Labour Party als führende nationalistische Partei. 2007 wurde Martin McGuinness zum stellvertretenden First Minister [Anm. d. Ü.: stellvertretender Regierungschef] Nordirlands gewählt. Im Süden tat sich die Partei zunächst schwerer. Erst bei den Europawahlen 2014 – und im Zuge der Massenbewegung gegen die irischen Wassergebühren – bedrohte sie zum ersten Mal die Vormachtstellung der Parteien Fianna Fáil und Fine Gael. Damit zementierte die Sinn Féin ihre Position als führende Partei der Linken, die in der Republik Irland gegen die Austerität ankämpft.
Im Jahr 2018 wurde Mary Lou McDonald zur neuen Vorsitzenden der Partei gekürt. Sie löste den altgedienten Republikaner Gerry Adams ab. Während Sinn Féin bei den folgenden Europawahlen kurzzeitig ins Straucheln geriet – was zu zahlreichen Unkenrufen über ihren angeblich bevorstehenden Untergang führte –, wurde mit der darauf folgenden Parlamentswahl 2020 die politische Landschaft Irlands grundlegend verändert. Die Sinn Féin erhielt zwar die meisten Stimmen, konnte jedoch nicht die Regierung übernehmen, da die beiden rechten Parteien Fine Gael und Fianna Fáil eine Koalition bildeten. Seitdem liegt Sinn Féin bei jeder Wahlumfrage vorne und liegt derzeit bei unglaublichen 35 Prozent (verglichen mit 21 Prozent für Fine Gael und 16 Prozent für Fianna Fáil).
Hinzu kommt, dass die Partei bei den Parlamentswahlen im Mai 2022 in Nordirland 27 Sitze errungen hat. Damit ist sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte die größte Partei im Norden – wobei die Blockadehaltung der Unionisten sie allerdings daran gehindert hat, diese Führungsrolle auch in der Praxis zu übernehmen. Im Interview spricht Mary Lou McDonald darüber, was diese jüngsten Entwicklungen für die Partei, das Land und linke Politik bedeuten.
Die meiste Zeit meines Lebens wäre es undenkbar gewesen, dass Sinn Féin in Umfragen in der Republik Irlands führen würde. Die Politik wurde bislang immer von Fianna Fáil und Fine Gael dominiert. Wie ist es zu diesem wichtigen Wandel gekommen?
Es war wirklich eine beeindruckende und außergewöhnliche Entwicklung – nicht nur im Süden, sondern auf der gesamten Insel. Du hast Recht – das konnten sich wirklich nur sehr wenige vorstellen. Ich nehme an, es ist wie bei jeder großen Entwicklung, jedem Erfolg in der Politik: Es erscheint plötzlich, aber in Wahrheit hat Sinn Féin im Laufe der Jahre harte Arbeit geleistet, Kapazitäten und Durchschlagskraft aufgebaut. Wir sind immer wieder bei Wahlen angetreten, haben mal gewonnen, mal verloren, waren hier erfolgreich, scheiterten dort. Aber wir haben immer dazugelernt. Das gilt für unsere Aktivistinnen und Aktivisten ebenso wie für unsere gewählten Parlamentsabgeordneten.
Es ist interessant, wenn ich mir die Gesichter hier im Dáil [Anm. d. Ü.: dem Unterhaus des irischen Parlaments], aber auch die Kolleginnen und Kollegen im Norden in der Versammlung und in der Exekutive ansehe: Viele von uns sind schon ihr ganzes politisches Leben lang gemeinsam aktiv. Wir galten als die jungen Wilden, die zur Wahl antraten, als die Partei noch keine wirklichen Erfolgschancen hatte. Aber wir haben uns politisch und persönlich engagiert. Wir hatten das Glück, viele großartige Talente zu haben, die sich erst jetzt richtig entfalten. Hinzu kommen die Generationen vor uns, mit Leuten wie Gerry Adams und Martin McGuinness, eine goldene Generation von Führungspersönlichkeiten. Nun haben wir eine neue Generation, die inzwischen nachrückt.
Aber es gab auch äußere Umstände, die zu diesem beigetragen haben. Das Platzen der Immobilienblase vor einem Jahrzehnt war ein großes Trauma und hat das politische Denken der Menschen in Irland verändert. Dann gab es den Brexit, Boris Johnson und den aggressiven Toryismus. Das wirkt sich auch immer auf die Politik in Irland aus. Für sich genommen waren diese Entwicklungen keine großen Überraschungen oder Besonderheiten, aber im Zusammenspiel waren sie schon wichtig. Für uns heißt es nun: weitermachen. Ich bin mir sicher, dass man sich seine politischen Leistungen, seinen politischen Fortschritt, das Vertrauen und die Dynamik verdienen muss. Manchmal geschieht das spontan aufgrund von äußeren Faktoren, aber vor allem muss man sich den Fortschritt hartnäckig, mühsam und konsequent erarbeiten. Wir sind schon so weit gekommen und müssen die Erfolge, die wir auf nationaler Ebene erzielt haben, sowohl im Norden als auch im Süden konsolidieren. Nach oben ist immer Luft.
Was uns von den anderen politischen Parteien – Fianna Fáil, Fine Gael, Labour und so weiter – unterscheidet, ist, dass wir ein großes politisches Projekt verfolgen. Es geht nicht einfach darum, dass wir in den Dáil gewählt werden, und es geht schon gar nicht darum, Karrieren einzelner Leute aufzubauen – wobei Ehrgeiz grundsätzlich eine gute Sache ist. Man will ja, dass die eigenen Leute so gut wie möglich sind und das Beste aus ihren Fähigkeiten machen. Bei Sinn Féin geht es aber vor allem darum, einen seit Generationen andauernden Konflikt zu lösen. Es geht darum, Irland von den Überbleibseln seiner verheerenden kolonialen Vergangenheit zu befreien. Wir haben Kolonialisierung, Besatzung, Konflikte, Teilung und nun einen Friedensprozess und eine Einigung erlebt, die sich dieses Jahr zum 25. Mal jährt.
Man sagt, dass es nichts Mächtigeres gibt als eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Ich glaube, dass die Zeit für unsere Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit, Demokratie, öffentlichen Dienstleistungen und öffentlichen Gütern sowie einer Politik der Gleichberechtigung gekommen ist. Es ist eine aufregende Zeit. Meiner Meinung nach gab es noch nie eine wichtigere Zeit, um Aktivistin zu sein – egal wo man lebt. Irland verändert sich und hat sich bereits verändert, aber auch die Welt ändert sich. Sie wird sich auf eine Weise wandeln, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Es ist wichtig, sich zu engagieren. Niemand sollte sich einbilden, dass sich politischer Erfolg einfach so einstellt und dass Fortschritt etwas ist, für das andere zuständig sind. Das hier geht jetzt jede und jeden etwas an.
Als ich zur letzten Wahl in Irland war, sind mir zwei Dinge besonders aufgefallen: Sinn Féins Ansätze gegen die Wohnungskrise und für den Aufbau eines nationalen Gesundheitsdienstes im Süden. Diese beiden Punkte kamen immer wieder zur Sprache, wenn ich Leute fragte, warum sie zum ersten Mal Sinn Féin wählen. Warum konnte Deine Partei bei diesen Themen derart überzeugen?
Du hast Recht, ich würde zu dieser Liste allerdings noch die Frage des Renteneintrittsalters hinzufügen. Alle Arbeiterinnen und Arbeiter haben das Recht, mit 65 Jahren mit einer angemessenen Rente in den Ruhestand zu gehen. Dafür haben wir gekämpft und damit nicht nur bei älteren Menschen, sondern auch bei vielen jungen Arbeiterinnen und Arbeitern, die sich heute in der Gig-Economy herumschlagen müssen, einen Nerv getroffen. Vielen von ihnen droht, ihr ganzes Arbeitsleben prekär beschäftigt zu sein. Für viele Menschen könnte das außerdem bedeuten, dass sie mit 66, 67, 68 Jahren und darüber hinaus weiterarbeiten müssen, bevor sie überhaupt einen Anspruch auf Rentenzahlungen haben. Damit wird der Kern des Sozialvertrags zwischen der Regierung und den Menschen torpediert.
Das Gleiche gilt für den Wohnungsbau. Vor kurzem erschien ein Bericht des ESRI [Economic and Social Research Institute], einem der großen Thinktanks hier. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Im Bericht wird dargelegt, dass wir aktuell eine junge Generation haben, die keine echte Aussicht auf Wohneigentum oder auch nur auf eine bezahlbare Miete hat. Was sollen diese Menschen tun? Wie sieht ihre Zukunft aus? Das ESRI prognostiziert, dass diese Generation im Rentenalter immer noch prekär leben wird. Das ist äußerst deprimierend. Für viele Menschen ist ein sicheres Dach über dem Kopf nicht garantiert. Das war das wohl wichtigste Thema bei der letzten Wahl.
Diejenigen, die dann die Regierung bildeten und uns davon ausschlossen – also Fianna Fáil und Fine Gael – beteuerten, sie hätten die Anliegen der Menschen vernommen. Man sei sich bewusst, dass die Wohnungsfrage geklärt werden müsse. Doch seit zwei Jahren hat sich die Situation nicht gebessert, sondern verschlechtert. Die Zahl der obdachlosen Menschen ist auf einem Rekordstand. Dabei handelt es sich nicht nur um Einzelpersonen, sondern auch um Familien mit Kindern. Entgegen aller Rhetorik der Regierung gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass Wohnraum wirklich bezahlbar wird, geschweige denn, dass der Sozialwohnungsbestand aufgestockt wird. Das Recht auf ein Dach über dem Kopf ist meiner Meinung nach ein demokratisches Grundrecht. Es ist kein Luxus. Das Recht auf eine Wohnung ist die Voraussetzung für die Ausübung aller anderen Rechte, die wir als Bürgerinnen und Bürger haben. Bildung, Arbeit, Beziehungen, Familienstrukturen – all diese Dinge hängen zu einem gewissen Grad von einer sicheren Unterkunft ab.
Wir haben eine Krise, die nicht auf die Armen, die Ausgegrenzten oder die Benachteiligten beschränkt ist, auch wenn diese Gruppen sie am stärksten zu spüren bekommen. Die Krise hat alle Schichten der Gesellschaft erreicht. Gleichzeitig haben wir nach wie vor eine Regierung, die entweder nicht zugeben kann oder nicht zugeben will, dass sie Fehler gemacht hat – und zwar nicht nur jetzt, sondern schon seit über einem Jahrzehnt. Der Staat hat sich in den vergangenen Jahren noch weiter zurückgezogen und die Bereitstellung von Wohnraum der Privatwirtschaft überlassen. Die Folgen davon sehen wir jetzt ganz deutlich. Diese Parteien können es sich aber nicht eingestehen und ganz klar zugeben: »Das war falsch.«
Sinn Féins Agenda beim Thema Wohnen ist ambitioniert: Verdoppelung der Investitionen in den sozialen Wohnungsbau, Mietpreisstopp sowie Abschaffung der Steuererleichterungen für große Investmentfonds, die Immobilien aufkaufen. Allerdings wird der irische Wohnungsmarkt schon seit Jahrzehnten von privaten Interessen dominiert. Die Immobilien-Lobby wird nicht einfach so klein beigeben. Wie wollt Ihr Euer Programm umsetzen? Und ist das auch möglich, wenn Ihr beispielsweise einen Koalitionspartner braucht?
Scheitern ist keine Option. Es gibt einige Dinge im Leben, die getan werden müssen. Wenn Du zum Beispiel eine Familie aufziehst, musst Du die Kinder ernähren, für Licht und Wärme sorgen. Für uns stellt sich nicht die Frage: »Was, wenn wir es nicht schaffen? «. Wir müssen es schaffen. Das setzt uns natürlich unter Druck, denn selbst mit der richtigen Strategie, der richtigen politischen Ausrichtung, den richtigen Prioritäten und den richtigen Leuten zur richtigen Zeit an den richtigen Stellen ist es immer noch eine große Herausforderung. Wir reden hier von einer Krise, die bereits seit einer oder zwei Generationen andauert.
Es gibt keine schnelle Lösung, aber wir müssen etwas tun. Wir müssen auf die Gelegenheit vorbereitet sein, die Regierung zu übernehmen. Unser Parlamentsteam hier in Dublin hat im Wesentlichen zwei Aufgaben. Die eine besteht darin, aus der Opposition heraus die Regierung in die Pflicht zu nehmen und sie beim Thema Lebenshaltungskosten auf Trab zu halten. In den vergangenen Wochen hat sich die Regierung bei Themen wie dem Unterstützungsgeld für den Schulbeginn für Familien bereits etwas bewegt. Wir haben sie nicht ganz auf unsere Linie ziehen können, aber wir haben sie immerhin dazu gebracht, einen ersten Schritt auf uns zuzugehen.
Parallel dazu läuft die Vorbereitung auf eine zukünftige Regierungsarbeit. Eoin Ó Broin ist unser Sprecher für den Bereich Wohnen. Er arbeitet mit den Menschen und Organisationen zusammen, die wir brauchen werden, um im Wohnungssektor etwas zu erreichen. Wenn wir in die Regierung kommen, gibt es gewisse Dinge, die man relativ schnell erledigen kann. Eines unserer Hauptthemen sind zum Beispiel die Mieten. Wir hatten in Irland keine echte Mietpreisbremse. Es wurden sogenannte »Preisdruckzonen«, in denen das Problem besonders eklatant war, eingeführt. Das sind aber keine echten Mietpreisbremsen. Außerdem funktionieren sie nicht. Wir schlagen vor, den Mieterinnen und Mietern durch eine Steuererstattung eine Monatsmiete zurückzugeben und die Mietpreise für einen Zeitraum von drei Jahren einzufrieren.
Die Gegnerinnen und Gegner unserer Pläne argumentieren, dass wir das nicht tun können. Ihrer Ansicht nach sei das verfassungswidrig. Unsere Rechtsberater sehen das jedoch anders. Als Notfallmaßnahme ist das sehr wohl möglich. Bei solchen Notfällen greift man ein, stabilisiert die Lage und unterstützt die Menschen. Das kann relativ schnell umgesetzt werden, aber der Rest wird eine große Herausforderung. Ich glaube aber nicht nur, dass wir Irland verändern können, sondern auch, dass wir es tun werden. Es muss einfach passieren. Wenn ich mir anschaue, was Darragh O’Brien [Anm. d. Ü.: Wohnungsbauminister der Fianna Fáil] und die anderen Mitglieder der Regierung verlautbaren lassen, kann man ihnen nur die Schuld an der derzeitigen Situation geben. Sie alle verteidigen einen unhaltbaren Status quo. Bauen, um dann zu vermieten oder kaufen, um dann zu vermieten – das ist nicht die Lösung. Immer mehr Immobilien an große Investmentfonds zu verkaufen ist ebenso keine Lösung.
Die richtige Lösung, die richtigen Ansätze, sind hingegen Investitionen in öffentliche Wohnungen auf öffentlichen Grundstücken. Wir brauchen eine Mischung aus erschwinglichem Wohnraum zum Kauf für Familien, die das möchten, und darüber hinaus grundsätzlich bezahlbare Mieten und dann Sozialwohnungen. Wir müssen in Irland neu definieren, was sozialer Wohnungsbau bedeutet. Bei uns ist diese seltsame und fast schon diskriminierende Auffassung verbreitet, dass Sozialwohnungen nur für eine winzige Minderheit von besonders benachteiligten oder bedürftigen Menschen gedacht seien. In anderen Ländern haben Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen Zugang zu hochwertigen Sozialwohnungen und können dort leben. Zu Deiner Frage, ob das alles möglich ist, ob wir es schaffen können? Es muss getan werden, es muss geschafft werden. Punkt.
Du hast kürzlich betont, dass Du ein Referendum zur Vereinigung der beiden irischen Staaten innerhalb der kommenden zehn Jahre für möglich hältst. Ich bin gerade in London. Von hier sieht es so aus, als ob der [britische] Minister für Nordirland dabei eine wichtige Rolle spielen würde – und ich sehe keinen Weg, die Tatsache zu überwinden, dass er im Rahmen des Karfreitagsabkommens faktisch die Bedingungen festlegt, die erfüllt werden müssen, bevor wirklich ein Referendum abgehalten werden kann.
Als Erstes ist festzuhalten, dass das Recht auf ein Referendum im internationalen Recht verankert ist. Wir werden niemanden darum bitten, uns diese Möglichkeit aus reiner Herzensgüte zu gewähren. Nach internationalem Recht haben wir ein Recht auf Selbstbestimmung, und im Karfreitagsabkommen, das vor rund 25 Jahren geschlossen wurde, gibt es einen vereinbarten Mechanismus für solche potenziellen Entwicklungen. Aber Du hast Recht – die Frage scheint zu sein, wie und wann nach Ansicht des Ministers ein bestimmter Auslöser für ein Referendum erreicht ist. Ich habe diese Frage in meiner Zeit als Sinn-Féin-Vorsitzende schon mit vielen Premierministerinnen, Premierministern und Staatssekretären erörtert. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr, wie viele es waren. Wir haben dabei nie eine klare Antwort bekommen.
Die Wahrheit ist aber, dass der oder die jeweilige Ministerin für Nordirland diese Entscheidung nicht wirklich treffen wird. Die Entscheidung wird von der Person getroffen, die dann in der Downing Street Nr. 10 sitzt. Der beste Weg, den Prozess und die Forderung nach einem Referendum zu stärken, ist eine Regierung in Dublin, die Druck ausübt und die Sache vorantreibt. Ich werde also nicht darüber spekulieren, was der letztliche offizielle Auslöser für ein Referendum sein könnte. Klar, dass die Regierung von Boris Johnson alles andere als einen positiven Einfluss auf die Beziehungen hatte. Seine Regierung hat das Karfreitagsabkommen faktisch angegriffen. Menschen und Organisationen zogen sich aus Nord-Süd-Institutionen zurück, verließen die Exekutive und nahmen das Protokoll unter Beschuss – alles mit der Unterstützung von Boris Johnson. Die Gesetzgebung, die sein Kabinett durch das Parlament brachte, war nicht mit Artikel zwei der irischen Verfassung vereinbar. Sie verstieß eindeutig gegen internationales Recht. Die Regierung Johnson hat sogar die Grundlagen des Karfreitagsabkommens gefährdet.
Ich bin also keineswegs naiv, was die Aussichten angeht. Wir müssen uns diesen Umständen stellen. Das bedeutet aber auch, dass wir von Dublin aus ein gewisses Maß an Initiative und Energie aufbringen müssen – allerdings nicht auf konfrontative oder spaltende Art und Weise. Das Ziel sollte sein, durch eine Art Volksversammlung einen Raum zu schaffen, in dem die Frage der Wiedervereinigung diskutiert und entwickelt werden kann. Sie muss auch diejenigen mit einer unionistischen Perspektive einbeziehen, die die irische Einheit nicht unbedingt präferieren. Unionistische Bäuerinnen, Spediteure, Unternehmerinnen, Gemeindeaktivisten, Gewerkschafterinnen und viele andere müssen Teil der Gespräche darüber sein, in was für einem Irland wir in zehn, zwanzig Jahren leben wollen.
Das Gespräch sollte nicht aus einer negativen Position heraus geführt werden, sondern aus einer Position, die die Chancen und Möglichkeiten aufzeigt. Seit der letzten Wahl im Norden beobachte ich, dass das bereits geschieht. Meine Parteifreundinnen und -freunde und ich sind wirklich erstaunt, wie viele Menschen auf uns zukommen und sagen: Das [ein vereinigtes Irland] wäre nicht meine erste Wahl; ich habe einen anderen politischen oder kulturellen Standpunkt, aber lasst uns trotzdem darüber reden. Was wäre dann mit meiner Rente? Was ist mit der Währung? Was ist mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten? Das ist ein großer Unterschied im Vergleich zur offenen Ablehnung.
Wie viel Veränderung würde eine Vereinigung denn wirklich bringen? Würde sie dazu führen, dass zwei auf ihre jeweils eigene Weise ziemlich kaputte Staaten mit großen sozialen Problemen einfach zusammengelegt werden? Sowohl im Norden als auch im Süden gibt es schließlich große Teile der Bevölkerung ohne das, was du als Grundrechte bezeichnet hast: das Recht auf einen angemessenen Arbeitsplatz, eine Wohnung und gesundheitliche Versorgung. Wie kannst Du und wie kann Deine Partei die Menschen davon überzeugen, dass wir hier über eine grundlegend andere Gesellschaft sprechen, eine gänzlich neue Republik?
Du sprichst da einen sehr wichtigen und richtigen Punkt an. Das letzte, was ich tun möchte, ist, zwei reaktionäre und dysfunktionale Staaten einfach aneinanderzukoppeln. Wenn wir heute, rund hundert Jahre nach dem Bürgerkrieg, zurückblicken, ist es doch bemerkenswert, wie richtig James Connolly lag. Er sagte damals voraus, dass die Teilung Irlands zu »einem Festival der Reaktion« führen würde, und er hatte Recht. Nördlich der Grenze hatten wir am Ende einen Einparteienstaat, ein protestantisches Parlament für protestantische Menschen und jahrzehntelange Unterdrückung [der katholischen Menschen]. Aber diese Unterdrückung fand nicht nur nördlich der Grenze statt. Für viele – das sollten wir klar und deutlich benennen – war das irische Home Rule gleichbedeutend mit einer starken Rolle der katholischen Kirche. Vor allem Frauen und Arme hatten darunter zu leiden. Wir dürfen diese Fehler auf keinen Fall wiederholen.
Ich denke, wir haben bereits ein Muster für diese großen nationalen Debatten. Ich möchte an zwei Beispiele erinnern: die Gleichstellung aller Ehen und die Frage der reproduktiven Rechte der Frau. Beides war in Irland sehr heikles Terrain. Dennoch haben diese Gespräche über die Rechte unserer LGBT-Community, die Reform des Eherechts und die Stärkung der Rechte der Frauen das Land vorangebracht. Wir können also etwas schaffen, aber wir brauchen die Struktur und eine Regierung, die die Initiative ergreift. Dublin ist in der Pflicht, aktiv zu werden, vorauszuplanen und eine größere Vision zu entwickeln. Die Menschen in Irland sind jedenfalls bereit dafür.
Ich werde mich dagegen wehren, dass die beiden Staaten einfach zusammengelegt werden. Ich werde als Politikerin und Aktivistin alles in meiner Macht Stehende tun, um sicherzustellen, dass ein reaktionäres Irland nicht das Endergebnis ist. Unser Ziel ist ein neues Irland mit allen seinen Vorzügen und eine echte Republik. Das kommende Jahrzehnt wird eine sehr aufregende Zeit im politischen Leben hierzulande sein. Diese besagten Fragen werden gestellt werden. Und jede politische Führungsfigur, die glaubt, etwas erreichen zu können, indem sie diesen Wandel einfach ignoriert, ist letztendlich zum Scheitern verurteilt.