14. Dezember 2020
Von der ostdeutschen Fußballgeschichte nach der Wende bleibt das Bild des gewitzten Wessis. Dabei wurde der Fußball wie alle anderen Bereiche schlicht einverleibt.
Manager-Legende Reiner Calmund vor dem Logo von Bayer Leverkusen.
Die späten Neunziger waren eine Zeit, in der das Geld merklich Einzug hielt in das Fußballgeschäft. Die Bundesliga wurde zunehmend zum Event, bei der Sportsendung ran auf dem Privatsender Sat.1 sprang der Moderator Reinhold Beckmann in roter Jeansjacke herum. Reiner Calmund passte da hervorragend rein – schwer und vergnügt gab er Interviews, klopfte Sprüche als rheinische Frohnatur, wurde inszeniert als Macher, auf dessen Homepage noch heute zu lesen ist, er habe Leverkusen, »die einst ›Graue Maus‹ zu einem internationalen Top-Klub« geformt.
Das Image des cleveren Managers hat meine Kindheit und Jugend geprägt. Nicht, dass es ein wirklich bewusster Vorgang gewesen wäre, er weiß davon nichts. Aber Reiner Calmund – oder Calli, wie der langjährige Manager des Fußball-Bundesligisten Bayer 04 Leverkusen auch genannt wird – ist eine dieser Figuren des deutschen Profifußballs, die irgendwie immer und überall präsent waren.
Das hat auch mit seiner Rolle in den Wendejahren zu tun. Denn Calmund wird gern als derjenige dargestellt, der als Manager von Bayer 04 Leverkusen – dem Club mit dem großen Pharmakonzern im Rücken – als erster die Chance erkannte, die der Mauerfall für westdeutsche Profiklubs darstellte. Am 14. November 1989, wenige Tage nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze, schickte er Leverkusens Jugendbetreuer Wolfgang Karnath zu einem Länderspiel zwischen der DDR und Österreich. Für die DDR ging es damals um die Qualifikation für die WM 1990, für die Talentscouts westdeutscher Klubs um die Top-Spieler aus dem Osten.
Die DDR-Nationalmannschaft verlor das Spiel und qualifizierte sich nicht für die WM, doch für Calmund war das Feld bereitet – getreu dem Motto, das er oft bemühte, wenn er auf diese Zeit angesprochen wurde: »Nicht die Großen fressen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen.«
Schon bald darauf wechselte Andreas Thom, 1989 Fußballer des Jahres in der DDR, für über drei Millionen Mark vom Berliner Verein BFC Dynamo zu Bayer 04 Leverkusen. Etwas später folgte ihm Ulf Kirsten. Und eigentlich hätte auch Matthias Sammer – der, wie auch Kirsten, zuvor bei Dynamo Dresden unter Vertrag war – zu Leverkusen wechseln sollen. Dass er stattdessen zum VfB Stuttgart ging, hatte mit einer Intervention von Helmut Kohl zu tun. Dresdner Funktionäre hatten sich über den Ausverkauf ihrer Spieler beklagt: Dass ein einziger Klub – noch dazu finanziert von einem westdeutschen Großkonzern – die besten Spieler der DDR an sich riss, war nicht das beste Signal. »Vielleicht waren wir ein bisschen forsch«, gab Calli später in einem Interview zu. Zugleich betonte er aber, immer fair verhandelt zu haben – eine Selbsteinschätzung, der auch ehemalige DDR-Funktionäre nicht wirklich widersprechen.
In den folgenden Jahren wurde Ulf Kirsten das Gesicht von Bayer Leverkusen und Torjäger des Jahrzehnts. Matthias Sammer wurde mit Stuttgart Meister, später eine prägende Gestalt bei Borussia Dortmund. Beide wurden deutsche Nationalspieler, Sammer 1996 sogar Europameister. So wurden die Profispieler des Ostens, während längst noch nicht alle Wunden verheilt waren, ohne viel Federlesen der Westerzählung einverleibt.
Das mag auch damit zu tun haben, dass es der Ostfußball nach der Wiedervereinigung schwer hatte. Die Top-Spieler waren gegangen, die Kombinate und Ministerien, die die Vereine getragen hatten, wurden abgewickelt, und sich in einem neuen System zurechtfinden zu müssen, war ein Wettbewerbsnachteil. Ralf Minge, eine Legende bei Dynamo Dresden, sagte einmal in einem Interview über die Wendejahre: »Wir hatten vom Kapitalismus keine Ahnung.« Dresden spielte noch ein paar Jahre in der Bundesliga und stieg 1995 ab. Hansa Rostock hielt sich – mit Unterbrechungen – insgesamt über zehn Jahre in der Bundesliga. In den Nullerjahren spielte Energie Cottbus einige Saisons in der ersten Liga. Große Erfolge blieben allerdings aus.
Die Spieler, die ihre Karrieren in der DDR begonnen hatten oder in Ostvereinen ausgebildet worden waren, wie etwa Michael Ballack, Bernd Schneider oder Jens Jeremies, spielten im Profifußball der BRD weiterhin eine große Rolle. Sie stehen für das »Sommermärchen« oder für Erfolge ihrer Vereine. Ihre Geschichte und die des DDR-Fußballs war in der öffentlichen Wahrnehmung dagegen von untergeordneter Bedeutung. Im Vordergrund steht noch heute die Erzählung des gewieften westdeutschen Managers Reiner Calmund, der sich das Tafelsilber des Ostens sicherte. Es ist eben immer die Frage, wessen Geschichte erzählt wird – und wie.
Benjamin Knödler ist Online-Redakteur beim »Freitag«.