14. Juni 2024
Die Europameisterschaft ist für die Mächtigen des deutschen Fußballs eine nette Geschichte. Aber sie kann nicht über die strukturelle Krise des Profifußballs hinwegtäuschen. Die Fans proben immer häufiger den Aufstand.
Fans von Werder Bremen mit einem Protestbanner gegen den DFB.
Man könnte meinen, einen so tollen Sommer habe es für den deutschen Fußball schon lange nicht mehr gegeben. Alles ist angerichtet für ein neues EM-Sommermärchen. Borussia Dortmund schaffte es ins Finale der Champions League. Endlich gibt es einen deutschen Meister, der nicht FC Bayern München heißt. Aber war da nicht was? Tennisbälle? Ferngesteuerte Autos und Flugzeuge? Kamellen auf dem Spielfeld?
»Der deutsche Profifußball steht inmitten einer Zerreißprobe«, hatte Aki Watzke, Sprecher des Ligaverbands DFL und gleichzeitig höchstes Tier bei Borussia Dortmund, noch vor wenigen Monaten festgestellt, als er verkündete, dass ein milliardenschwerer Einstieg von Private-Equity-Investoren in die Bundesligen ersatzlos gestrichen werde. Damit war den wochenlang rebellierenden Fans ein kleiner Fußballaufstand gelungen.
Die Proteste, geprägt von kalkulierten Spielunterbrechungen mit diversen aufs Feld geschleuderten Gegenständen, waren ein höchst effektiver Akt des zivilen Ungehorsams einer immer selbstbewussteren und von DFL-Funktionären unterschätzten Fankultur. Eine Studie der Julius-Maximilians-Universität Würzburg belegt, dass 75 Prozent der Stadionbesucherinnen und sogar 60 Prozent der Fernsehzuschauer gegen einen Investoreneinstieg waren.
»Kommerzialisierung« nennen Fußballfans die Entwicklung, die den geliebten Sport der kapitalistischen Logik genauso unterwirft wie den Arbeitsplatz, die eigene Wohnung oder das Gesundheitswesen. Extreme finanzielle Ungleichheit zwischen den Vereinen, jedes Jahr die gleichen Sieger, Spiele am Montag, Sportswashing für Autokratien und nun auch für die Rüstungsindustrie – seitenlang können Fans die Symptome der Kommerzialisierung auflisten, die ihnen die Begeisterung für das Spiel verderben und bei vielen längst zur Entfremdung geführt haben.
Jonas Junack schrieb vor drei Jahren in einem JACOBIN-Artikel über den kapitalistischen Fußball, dass »dieser Sport unter einem Haufen Scheiße begraben liegt, der solche Dimensionen angenommen hat, dass ich nicht mehr weiß, was er eigentlich noch unter sich verbirgt. Und was soll man Scheiße vorwerfen – dass sie stinkt?« Junack schließt seinen Text mit der bitteren Erkenntnis, dass zwar »fast jeder Fan mir zustimmen wird, wenn ich sage, dass der Kapitalismus den Sport zerstört, den wir lieben. Aber kaum einer wird sich mir anschließen, wenn ich dazu aufrufe, die Geschäftsführungen unserer Vereine zu enteignen. Denn ein Satz hallt unter Fußballfans noch immer durch die Reihen: ›Politik gehört nicht ins Stadion.‹«
»Je mehr ihre Fankultur aber als integraler Teil des Produkts Bundesliga verstanden wird, umso schwerer sind sie zu verdrängen oder mundtot zu kriegen.«
Heute ist das anders. Die Fanproteste sind politischer geworden. Und das ist kein Zufall. Denn der Profifußball steckt in einer strukturellen Krise. Bisher galt: Fußball ist ein Wachstumsmarkt. Zahlte RTL 1988 noch 40 Millionen D-Mark für die Bildrechte der Bundesliga, waren es im Jahr 2000 schon 355 Millionen D-Mark und bereits im Jahr 2017 über eine Milliarde Euro. Die TV-Gelder sind für die Clubs die zentrale und wichtigste Einnahmequelle, weit vor dem Verkauf von Eintrittskarten oder Spielerverkäufen.
Nun bleibt dieses Wachstum aber europaweit aus. Der Markt ist gesättigt. »Mit diesem Angebot wird der italienische Fußball sterben«, wetterte etwa der Präsident des italienischen Serie-A-Giganten SSC Napoli, nachdem bei der Versteigerung der italienischen TV-Rechte mit »nur« 900 Millionen Euro pro Saison ein knappes Minus im Vergleich zu den Vorjahren auf dem Papier stand. Auch in Deutschland ist nicht mehr mit steigenden TV-Einnahmen zu rechnen.
Dieses Akkumulationsproblem, verbunden mit extrem hohem Konkurrenzdruck, treibt Verbandsfunktionäre und Clubchefs vor sich her. Händeringend versuchen sie neues Kapital zu akquirieren, Märkte im Ausland zu erschließen oder ganz neue Wettbewerbe ins Leben zu rufen. Dabei stellen sie gelegentlich die komplette Struktur des europäischen Fußballs infrage, wie etwa bei der Ankündigung der »Super League«, einem Konkurrenzprodukt für die Champions League.
Nach massiven Protesten, gestürmten Stadien und abgesagten Spielen sah man sich in England gezwungen, den Vorschlag sofort zurückzuziehen. Mit der zuletzt umgesetzten Champions-League-Reform erreichten die beteiligten Spitzenclubs doch noch eine zusätzliche Absicherung ihrer finanziellen Übervorteilung. Trotzdem zeigte der Super-League-Protest, dass es rote, von den Fans laut und effektiv verteidigte Linien gibt.
Eine solche rote Linie war auch der im Dezember 2023 beschlossene Investoreneinstieg in die DFL, der mit der erwähnten historischen Protestwelle verhindert werden konnte. Wer genau hinhörte, bemerkte dabei, dass die Fanszenen ihre Kritik deutlich treffsicherer formulierten als noch wenige Jahre zuvor. »Gegen den modernen Fußball« hatte die Parole der Kommerzialisierungskritik im Stadion stets geheißen. Als positive Antithese wurde meist die eigene »Vereinstradition« beschworen. Die Losung »Moderne versus Tradition« ist aber für die Analyse und Kritik der Auswirkungen kapitalistischer Logik kaum hilfreich und verschleiert Ursache und Wirkung.
Im Winter versuchten die Fanszenen in Statements, auf Bannern oder mit Infovideos herauszuarbeiten, wie externe Investorinnen und Investoren mit hohen Renditeerwartungen den Profi-Fußball verändern. Das war noch keine konsequente Kapitalismuskritik, aber immerhin für viele junge Fans eine erste kritische Auseinandersetzung mit den ökonomischen Bedingungen, die im Fußball dominieren.
Wichtig für die zunehmende Emanzipation der Fankurven waren ausgerechnet die »Geisterspiele« während der Corona-Pandemie. Damals wurde deutlich, dass die Verbände für die effektive Vermarktung des Sports auf die Leidenschaft der Fans angewiesen sind. Die Ultras, die radikalsten und treuesten Anhängerinnen ihrer jeweiligen Vereine, haben dabei eine Doppelrolle. Sie waren und sind stets die aktivsten und lautesten Gegner der Kommerzialisierung. Gleichzeitig aber sind ihre beeindruckenden Choreografien, riesigen Fahnen und kreativen Gesänge das entscheidende Alleinstellungsmerkmal für die Vermarktung der Bundesliga.
Das führt zu der absurden Situation, dass sich die Werbe-Industrie ausgerechnet die Stilmittel der Ultras zu eigen macht, etwa wenn bei der TV-Werbung des Wettgiganten »Tipico« Pyrotechnik über den Bildschirm flimmert. Genau dafür werden Ultraszenen regelmäßig mit Stadionverboten, massiver Polizeigewalt oder sogar Haftstrafen überzogen. Dass der Kapitalismus sich widerständige Subkulturen aneignet, ist ein altes Trauerspiel.
Für die Fanszenen ergibt sich daraus aber auch eine Machtposition. Der Repressionsdruck gegen sie ist extrem hoch: 24 überzogene Polizeieinsätze mit jeweils zahlreichen Verletzten zählte der Dachverband der Fanhilfen alleine in dieser Saison. Manche Innenministerin oder Polizeipräsident würde die Ultras am liebsten komplett aus den Stadien verbannen. Je mehr ihre Fankultur aber als integraler Teil des Produkts Bundesliga verstanden wird, umso schwerer sind sie zu verdrängen oder mundtot zu kriegen.
»Dass ausgerechnet beim Fußball die Kapitalismuskritik wiederentdeckt wird, mag für viele Linke überraschend und vielleicht etwas skurril wirken.«
Im Ringen um sportpolitische Hegemonie ist es den organisierten Fanszenen gelungen, die stark umstrittene 50+1-Regel zum heiligen Gral der deutschen Fußballkultur zu erklären – quasi zur letzten Bastion vor der vollständigen Kommerzialisierung. In Deutschland sind fast alle Fußballvereine eingetragene Mitgliedervereine. Zwar können die Vereine ihre Profiabteilungen in Aktiengesellschaften verwandeln, um mit Anteilsverkäufen an Investorinnen und Investoren frisches Kapital zu erlangen.
Dann aber greift die 50+1-Regel. Sie besagt, dass die Mehrheit in den Entscheidungsgremien immer mit mindestens 51 Prozent beim Stammverein und damit unter der Kontrolle der demokratisch gewählten Vereinsgremien verbleiben muss – eine bemerkenswerte Einschränkung des Privateigentums gegenüber dem Mitbestimmungsrecht der Vereinsmitglieder. Altgediente Fußballmachthaber wie Uli Hoeneß müssen sich jährlich vor Mitgliederversammlungen rechtfertigen, dort gewählt und entlastet werden, genau wie beim Kreisligisten.
Trotzdem müssen Fans weiterhin um ihre Vereine kämpfen. So etwa in Stuttgart, wo die Fanszene des VfB mit einer wochenlangen Kampagne, mit Großdemos und schwarzen Rauchbomben versuchte, den Einfluss von Mercedes und Porsche im Aufsichtsrat der Profiabteilung zurückzudrängen, und dabei zumindest einen Teilerfolg feiern konnte.
Auch der Kampf um die 50+1-Regel flammt immer wieder auf. Fernando Carro, Geschäftsführer des frisch gebackenen Meisters Bayer Leverkusen, meinte kürzlich, »linke Journalisten« seien der Grund für ihr hartnäckiges Überleben. Ein mieser Gag – denn die für sogenannten »Plastikclubs« Red Bull Leipzig, VFL Wolfsburg und eben auch Bayer Leverkusen hatte die DFL Anfang der 2000er Jahre umfassende Ausnahmeregelungen zugelassen, die es den Konzernen Red Bull, VW und Bayer erlauben, ihren Teams klare finanzielle Vorteile zu verschaffen.
Das Bundeskartellamt, das die 50+1-Regel aktuell prüft, kritisierte diese Ausnahmen zuletzt deutlich. Kommt die Prüfung zu dem Schluss, dass das aktuelle Regelwerk nicht für einen fairen Wettbewerb sorgt, könnte das auch das Ende für 50+1 bedeuten. Dann stände der deutsche Profi-Fußball vor einem gigantischen Scherbenhaufen.
Nach der Europameisterschaft werden die Abwehrkämpfe der Fußballfans weitergehen. Was ihnen bislang fehlt, ist eine positive Utopie, die Idee eines anderen Fußballs, jenseits von Kommerzialisierung und Kapitalismus. Dabei könnte in der aktuellen chaotischen Situation eine Chance liegen. Nicht nur haben breite Fanmassen das Gefühl, der Fußball rolle in die falsche Richtung, auch die Spieler beschweren sich zunehmend über die immer größere Belastung durch die alljährlich steigende Anzahl zu bestreitender Spiele. In einer utopischen Fußballvision könnte – man mag es im männerdominierten Kosmos des runden Leders kaum glauben – endlich auch der Frauenfußball aus seiner benachteiligten Position geholt und gleichberechtigt werden.
Raphael Molter, Politikwissenschaftler und Autor der materialistischen Fußballkritik Friede den Kurven, Krieg den Verbänden, fordert einen linken Populismus gemäß Chantal Mouffe und hofft auf eine Bewegung ähnlich dem Berliner Volksbegehren »Deutsche Wohnen & Co. enteignen«. Dafür bräuchte es aber ein gemeinsames, kritisches Narrativ, das die verschiedenen Probleme der Fußballwelt zusammenführt, als Ursache klar die kapitalistische Organisation des Sports benennt und ihr einen demokratischeren und transparenteren Fußball entgegensetzt.
Dass ausgerechnet beim Fußball die Kapitalismuskritik wiederentdeckt wird, mag für viele Linke überraschend und vielleicht etwas skurril wirken. Doch ist die EM vorbei und die nächste unpopuläre Kommerzialisierung steht an, lohnt es sich, das Stadion im Auge zu behalten. Die kämpfenden Fanszenen könnten von einer aufmerksamen Linken viel lernen. Praktische Solidarität wäre der erste Schritt.
Simon Imhof studiert Publizistik und Politikwissenschaften und schreibt seine Bachelorarbeit über hegemoniale Diskurse im Kontext organisierter Fußballfans.