10. September 2025
Der Grimme-Förderverein hat Judith Scheytt den Preis für ihre Medienkritik an der Berichterstattung zu Gaza entzogen – doch statt klein beizugeben, bleibt sie konsequent. Ihr nächster Schritt: Sie wird mit der »Global Sumud Flotilla« nach Gaza segeln.
Menschenrechtsaktivistin und Medienkritikerin Judith Scheytt.
Die nahezu ununterbrochene Flächenbombardierung des Gazastreifens in den letzten 23 Monaten hat Millionen Menschen politisiert. Dies gilt vielleicht insbesondere für den deutschsprachigen Raum, wo sowohl Regierungen als auch etablierte Medien bis vor wenigen Monaten Israels Vorgehen vehement verteidigten. Die Erfahrung, live auf dem Smartphone mitanzusehen, wie Häuser zerstört werden und Kinder verhungern, während die Machthaber wiederholt betonen, es handele sich um »legitime Selbstverteidigung«, hat viele Menschen zu der Erkenntnis gebracht, dass etwas in unserer Öffentlichkeit grundlegend nicht stimmt.
Eine dieser Personen ist die junge Aktivistin und Jacobin-Kolumnistin Judith Scheytt. Ihre Instagram-Reels, in denen sie die herrschenden Narrative rund um den Gaza-Krieg dekonstruiert und entlarvt, gehen regelmäßig viral. Ihre Arbeit ist nicht unbemerkt geblieben: Im Januar dieses Jahres wurde sie mit dem Donnepp Media Award für, wie es auf der Website des Preises heißt, »höchste journalistische Qualität und gesellschaftliches Engagement« ausgezeichnet. Letzte Woche entschied der Vorstand jedoch, dass Scheytts Engagement zu weit gegangen sei und entzog ihr kurzerhand den Preis, während er sie gleichzeitig wegen angeblichen Antisemitismus diffamierte.
Scheytt zeigt sich davon jedoch unbeeindruckt. Anstatt dem Druck der letzten Wochen nachzugeben, hat sie sich entschlossen, ihren Aktivismus auf die nächste logische Stufe zu heben: Sie hat angekündigt, dass sie sich Hunderten anderer Aktivistinnen und Aktivisten auf über fünfzig Booten anschließen wird, die als Teil der Global Sumud Flotilla nach Gaza segeln, um die illegale israelische Blockade zu durchbrechen. Bevor sie in See stach, sprach sie mit Jacobin über die Kontroversen um ihren Aktivismus und darüber, warum sie sich nicht unterkriegen lässt.
Du warst in den letzten Tagen viel in den Medien, nachdem der Donnepp Media Award, mit dem Du im Januar ausgezeichnet wurdest, wieder aberkannt wurde. Bist Du wütend darüber?
Nein, ich bin nicht wütend darüber. Ich bin auch nicht überrascht. Als meine Mutter den Anruf bekommen hat, konnte ich das direkt einordnen, weil das Ganze ja kein Einzelfall ist, sondern ein weiterer Fall in einer sehr langen, gut dokumentierten Liste an Fällen, wo israelische Lobbygruppen Druck auf Institutionen machen und gegen unliebsame Stimmen vorgehen, die sich gegen den israelischen Völkermord aussprechen.
Wer hat in Deinem Fall konkret Druck gemacht?
Jörg Schieb, der Vorsitzende des Vereins der Freunde des Grimme-Preises, hat das jetzt veröffentlicht – es war die Kölnische Gesellschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit. Fabian Goldmann hat sie direkt recherchiert. Sie lädt im Oktober unter anderem den israelischen Armee-Sprecher zu einer Veranstaltung ein. Also man kann eigentlich sehr schnell herausfinden, in welchem Kontext sich diese Gesellschaft bewegt und was für eine Agenda sie hat.
Und was genau haben sie Dir vorgeworfen?
Diese Gesellschaft hatte sich bei dem Verein der Freunde des Grimme-Preises, beziehungsweise bei dem Grimme-Institut gemeldet, und mir Antisemitismus vorgeworfen. Daraufhin wurde ich nicht vom Verein der Freunde des Grimme-Preises um Stellungnahme gebeten. Sie haben mich nicht informiert oder gefragt, ob ich mich dazu äußern möchte. Stattdessen haben sie die Entscheidung getroffen – der Vorstand, nicht die Jury – dass dieser Preis wieder aberkannt werden muss.
Das Telefonat mit mir war sehr verworren, weil die Begründung sich die ganze Zeit geändert hat. Als ich etwas entgegengesetzt oder auf Ungereimtheiten hingewiesen habe, wurde die Begründung immer wieder geändert. In dem Telefonat wurde sehr transparent gemacht, dass dieser Verein, der enge Verbindungen zum Zentralrat habe, eben Druck macht und darauf besteht, dass der Preis entzogen wird. Sonst werden sie eine Medienkampagne starten. Das wurde mir genauso gesagt.
Dann, um diese Aberkennung zu begründen, wurde eben der Antisemitismusvorwurf genutzt, indem mir diese 39-seitige offizielle Analyse geschickt wurde, die sehr offensichtlich zumindest teilweise mit KI erstellt wurde. Wenn man sie durch KI-Programme laufen lässt, sagt selbst die KI, dass da eindeutige KI-Fingerabdrücke drin sind.
Du hast den Preis ursprünglich für Deine Medienkritik bekommen, die Du vor allem auf Deinem Instagram-Kanal betreibst. Wie hast Du Medienkritik, aber vor allem auch Dein Interesse für die Situation im Gazastreifen für Dich entdeckt?
Ich selber hatte nie den Plan, Medienkritikerin zu werden. Aber grundsätzlich habe ich schon immer gemerkt, wie unterschiedlich Menschen, die im selben Ort wohnen und zum Beispiel aus einer ähnlichen gesellschaftlichen Schicht kommen, denken, je nachdem, welche Medien sie konsumieren. Mir war schon immer bewusst, dass das eine große Rolle spielt darin, wie unsere Politik ist und wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist.
»Wenn ich sehe, dass hier Akteure existieren, die Konsens kreieren für diesen Völkermord, dann ist es meine Aufgabe, das anzuprangern.«
Schon im Oktober 2023 gab es die ersten Warnungen, dass in Gaza ein Völkermord stattfinden könnte. Mir fiel schon lange davor auf, wie einseitig deutsche Redaktionen der israelischen Armee und Regierung praktisch zu Hilfe gesprungen sind und stellvertretend für sie Narrative aufgesetzt oder Erklärungen übernommen werden. Für mich ist damit eindeutig eine Form von Komplizenschaft erreicht, und ich finde, niemand hat das Recht, zu einem Völkermord zu schweigen. Jeder hat eben diese Pflicht, sich dagegen zu positionieren und aufzustehen.
Diese Pflicht spüre ich für mich jedenfalls sehr stark, und deswegen habe ich angefangen, dieses kollektive Medienversagen zu benennen und diese Komplizenschaft anzuprangern. Dann habe ich eben meine ersten Videos darüber gemacht und gemerkt, dass sehr viele Menschen wütend sind gegenüber deutschen Redaktionen, die mehrheitlich bis heute nicht auf diese Kritik antworten.
Hast Du den Eindruck, dass in den letzten Monaten eine Verschiebung stattfindet in der deutschen Berichterstattung? Wir sehen immer wieder Meinungsumfragen, die suggerieren, dass 80 Prozent der Deutschen für eine Aussetzung der Waffenlieferungen sind, zum Beispiel. Schlägt sich das auch im medialen Diskurs nieder?
Oberflächlich, aber ich glaube, in den groben Strukturen hat sich nichts verändert. Ich glaube, dass deutsche Medienhäuser einfach nicht mehr damit durchkommen, alles als »Hamas« zu bezeichnen und nur israelische Propaganda zu übernehmen. Als Überlebenstaktik machen sie es ein bisschen schlauer, indem sie scheinbar über Gaza berichten, allerdings ohne die Machtverhältnisse tatsächlich kritisch zu benennen. Es gibt also nun Berichte über hungernde Kinder, aber wer für den Hunger verantwortlich ist – nämlich Israel – wird oft nicht klar benannt oder als verhandelbar dargestellt. Menschen sterben durch Bomben, die vom Himmel fallen und zufällig Krankenhäuser treffen, aber wer die Bomben schickt und an ihnen verdient, bleibt offen. Die Sprache ist also sehr passiv. Als wäre all das eine Naturkatastrophe und kein Völkermord mit politischen Verantwortlichen und Rüstungsfirmen, die daran mitverdienen.
Aber der Vertrauensverlust in die Berichterstattung ist ja jetzt schon enorm und messbar. Dieser Verfall journalistischer Standards und dessen Konsequenzen, die wir noch gar nicht wirklich abschätzen können, sollte uns alle Sorge bereiten.
Der Vorstand begründete seine Aberkennung unter anderem mit Deinen »aktivistischen Inhalten«, obwohl Du ursprünglich auch für Deinen Aktivismus den Preis bekommen hast. Gibt es für Dich eine organische Verbindung zwischen Deinen Videos und Deinem Aktivismus?
Wie gesagt, ich glaube, dass Medienhäuser enorm prägen, wie unsere Politik verläuft, und welche Proteste, Äußerungen, oder Identitäten legitim sind und welche nicht. Dadurch glaube ich, dass Journalisten und Redaktionen enorme Macht haben oder zumindest haben können. Deswegen sind sie auch zwangsläufig Akteure in dem ganzen Geschehen und können verschiedene Rollen einnehmen – die Rolle des Komplizen, die Rolle eines vermeintlich neutralen Beobachters oder auch die Rolle von Menschen, die Diskurse anstoßen, Räume öffnen, und machtkritische Diskussionen starten.
»Grundsätzlich habe ich mehr Angst vor einer Welt, in der Genozid legitimiert und geschützt werden. Niemand von uns ist in einer solchen Welt langfristig sicher.«
Meine Aufgabe als Menschenrechtsaktivistin ist es, unter anderem Machtmissbrauch zu kritisieren, dagegen anzugehen und unabhängig von den Konsequenzen laut zu sein gegen Völkermord und Besatzung. Und wenn ich sehe, dass hier Akteure existieren, wie die Tagesschau-Redaktion zum Beispiel, die Konsens kreieren für diesen Völkermord, dann ist es meine Aufgabe, das genauso anzuprangern.
Vermutlich in dem gleichen Sinne bist Du nun bei der Global Sumud Flotilla dabei, die in den nächsten Tagen nach Gaza segeln wird, um die israelische Blockade des Streifens hoffentlich zu durchbrechen. Kannst Du ein bisschen mehr über die Aktion erzählen?
Die Idee gibt es ja bereits seit die Blockade errichtet wurde, also schon seit 2007. Jetzt sind es zum ersten Mal mehr als fünfzig Boote, unter anderem aus Barcelona, Tunis, und hier in Sizilien, die die illegale Blockade friedlich durchbrechen und einen humanitären Korridor errichten wollen. Diese Mission ist absolut von internationalem Recht gedeckt. Es gibt trotzdem sehr viele Szenarien, die eintreten könnten, weil Israel dieses Recht nicht akzeptiert. Die Mission kann erfolgreich sein und die Blockade brechen. Es kann sein, dass wir von Israel oder auch von anderen Armeen völkerrechtswidrig abgefangen werden. Es kann natürlich auch sein, dass wir angegriffen werden, aber das ist alles von dem Druck der vielen unterstützenden Menschen weltweit und von anderen Regierungen abhängig.
Warum hast Du Dich dazu entschieden, auf der Flottilla mitzufahren?
Weil es niemand anderen gibt, der es für mich tun wird. Ich bin eine der sichersten Personen bei dieser Mission, weil ich einen deutschen Pass habe, weil ich weiß bin, und weil ich eine große Plattform habe. Und unsere Regierung ist ja nicht nur passiv, sondern aktiv mit an diesem Völkermord beteiligt, weil sie aktiv Israel unterstützt. Sie hält ihre Verpflichtungen nicht ein. Es gibt also keine Vertreterinnen, keine andere Institution, die das für mich übernehmen wird. Und weil ich mich psychisch und physisch dazu bereit fühle, empfinde ich, dass ich dann die Pflicht auch habe, mitzufahren. Wir alle haben die Pflicht, gegen solche Verbrechen aufzustehen.
Die Flottillen gibt es, wie Du sagtest, bereits seit 2007, aber seit 2008 ist es keiner mehr gelungen, die Küste von Gaza wirklich zu erreichen. Deshalb werfen Kritiker – oft aus deutschen Medienhäusern – den Aktionen vor, dass es sich um bedeutungslose Spektakel handelt, die keine nennenswerten Hilfslieferungen mitbringen. Wie würdest Du auf diese Kritik antworten?
Tatsache ist, dass sich in den nächsten Tagen Boote auf den Weg nach Gaza machen werden mit humanitärer Hilfe. Tatsache ist auch, dass diese Besatzung und Blockade rechtswidrig ist. Wenn Israel sich völkerrechtskonform verhalten würde, dürften sie uns gar nicht aufhalten. Das heißt, unabhängig von der Menge an humanitärer Hilfe haben wir das Recht, hier diesen humanitären Korridor zu errichten, damit größere Lieferungen dauerhaft eintreffen können.
Wenn also jemand findet, dass das hier ein Medienspektakel ist oder dass das alles unnötig ist, dass das alles symbolisch ist, weil wir ja vielleicht sowieso aufgehalten werden, dann ist das eigentliche Problem ja schon benannt, nämlich Israel, das Land, das möglicherweise eine Flotte humanitärer Hilfe abfangen und die Menschenrechtsaktivisten dort verhaften wird. Das wäre unter internationalem Recht illegal. Und das ist dann das eigentliche Problem. Jeder ist eingeladen, Druck auf die Verantwortlichen auszuüben und unserer Mission zum Erfolg zu verhelfen.
Du hast der Bundesregierung nun mehrmals vorgeworfen, aktiv an dem Völkermord in Gaza beteiligt zu sein. Welche Botschaft willst Du mit Deiner Aktion sowohl an die Bundesregierung als auch an die Bevölkerung zu Hause senden?
Die Verpflichtungen der Bundesregierung sind völkerrechtlich sehr klar ausformuliert: Sie müsste nicht nur die Zusammenarbeit mit Israel sofort beenden, sondern hat auch die Verpflichtung, aktiv Druck auf Israel auszuüben.
Mit unserer Mission ist es uns wichtig, darauf aufmerksam zu machen, was in Gaza geschieht, was in Palästina generell geschieht und die Komplizenschaft unserer Staaten anzuprangern, deren Aufgabe es eigentlich wäre, solche Flotten zu schicken. Das heißt, es geht hier nicht um uns oder um das Narrativ von mutigen Aktivistinnen. Natürlich würden wir sehr gerne eigentlich zu Hause bleiben. Ich hätte sehr viele andere Sachen zu tun, die ich gerne in meinem Leben machen würde. Aber weil Deutschland seine völkerrechtlichen Verpflichtungen nicht einhält und auch sein eigenes heuchlerisches Versprechen von »Nie wieder« nicht einhält, müssen wir als Bevölkerung aufstehen und die Komplizenschaft unseres Staates beenden.
Da wirst Du von mir keinen Widerspruch bekommen, aber hast Du nicht auch ein bisschen Angst?
Noch nicht, nur ein bisschen nervös. Aber das kommt vielleicht noch. Grundsätzlich habe ich mehr Angst vor einer Welt, in der Apartheid und Genozid ermöglicht, legitimiert und geschützt werden. Niemand von uns ist in einer solchen Welt langfristig sicher.
Judith Scheytt ist Medienkritikerin und Aktivistin. Sie veröffentlicht auf Instagram regelmäßig Einordnungen und Analysen.