04. Juni 2024
Neu entdeckte Massengräber in Dschabalija sind ein weiterer trauriger Beleg für den Horror des Gaza-Kriegs. Ungeachtet der von Joe Biden ausgerufenen »roten Linien« bezüglich Rafah setzen die israelischen Streitkräfte ihre brutale Kampagne fort.
Palästinensische Familien in Dschabalija kehren in ihre Häuser zurück nach dem Rückzug der israelischen Armee, 31. Mai 2024.
Am vergangenen Donnerstag haben sich die israelischen Streitkräfte nach zwanzig Tagen unerbittlichen Bombardements und Bodenangriffen teilweise aus dem Flüchtlingslager Dschabalija im Norden des Gazastreifens zurückgezogen. Sie hinterließen ein Trümmerfeld.
Auf die Palästinenserinnen und Palästinenser brach im Zuge dessen eine neue Welle des Schreckens herein: Nach dem Rückzug der Israel Defense Forces (IDF) aus dem Camp wurden Massengräber entdeckt. Sie sind ein weiteres Beispiel für die Grausamkeiten vor Ort – und fügen sich in die Reihe der Massengräber ein, die im gesamten Gazastreifen gefunden wurden.
Bislang wurden über 120 Leichen gefunden, die meisten davon zerstückelt, darunter die skelettierten Überreste einer Frau und ihrer Kinder. Unter den Opfern ist offenbar auch ein enthauptetes Baby. Aufgrund des Ausmaßes der Verwesung hatten die Familien Mühe, ihre Angehörigen anhand der Kleidung und Schuhe, der Körperformen und sogar der Zähne zu identifizieren.
Die Szenerie gleicht einem Schlachthaus. Leichen sind in den Trümmern verstreut und Dutzende weitere vermutlich noch unter dem Schutt begraben. Körperteile, Schädel und Knochen liegen überall in der Gegend verteilt. Mit einfachen Werkzeugen und unter unerbittlichem Bombardement arbeiten die Palästinenser in Dschabalija weiter an der Bergung ihrer Angehörigen, während sie nach wie vor von IDF-Panzern umgeben sind.
»Nach den Massakern, die die IDF in Dschabalija verübt hat, sind zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser aufgrund der Angriffe aus dem Lager geflohen. Für sie gibt es keinen sicheren Ort.«
Viele der Leichen sind nicht identifizierbar, zerstückelt oder bis zur Unkenntlichkeit verwest. In einem erschütternden Bericht des palästinensischen Journalisten Hossam Shabat beschreibt er die letzten Überreste einer dreißigköpfigen Familie, die nur noch aus leeren Kleidern bestehen; die Körper der Träger, auch der eines Kindes, hatten sich bereits zersetzt.
Die meisten der Opfer waren Kinder und Frauen, die von israelischen Scharfschützen getötet wurden, als sie versuchten, aus dem heftig bombardierten Lager zu fliehen. Unter den Opfern sind beispielsweise Nisma und Moamen, zwei Geschwisterkinder, die bei einem israelischen Raketenangriff auf das Haus ihrer Familie in Dschabalija getötet wurden. Viele andere wurden in der vermeintlichen Geborgenheit ihrer Häuser erschossen. Ein Mann, der die Leiche seines Vaters aus den Trümmern trug, erzählte gegenüber Reportern, der Vater habe in seinem Haus gesessen, als »sie auf ihn schossen und eine Drohnen-Rakete auf ihn abfeuerten«. Einige Menschen wurden praktisch zweimal zum Opfer, da israelische Panzer und Bulldozer die Gräber, in denen die Toten verscharrt waren, zerstörten und planierten.
Die Verwundeten haben indes wenig Hoffnung auf Überleben. Im Zuge des Einmarsches hat die israelische Armee das indonesische Krankenhaus in Dschabalija in eine Militärbasis und Kommandozentrale verwandelt. Dafür wurden tausende verwundete Zivilisten und vertriebene Familien, die auf dem Gelände Schutz suchten, zwangsevakuiert.
Nach den Massakern, die die IDF in Dschabalija verübt hat, sind zehntausende Palästinenserinnen und Palästinenser aufgrund der Angriffe aus dem Lager geflohen. Für sie gibt es keinen sicheren Ort.
Der israelische Einmarsch in Dschabalija war einer der schwersten und verheerendsten Angriffe bisher. Der palästinensische Katastrophenschutz berichtet, die IDF habe über tausend Häuser zerstört. Das Lager sei in Schutt und Asche gelegt und völlig unbewohnbar gemacht worden. Inzwischen sei es »eine nicht wiederzuerkennende« Einöde voller Vertriebener geworden. Mehrere Bewohnerinnen und Bewohner kehrten nach Ende der Angriffe zurück und fanden nur noch zerstörte Häuser und Gebäude vor. Tausende sind obdachlos.
»Dschabalija ist von der Landkarte getilgt«, so Suad Abu Salah, die nach Dschabalija zurückgekehrt ist. Mohammed Al-Najjar, ein weiterer Ex-Bewohner des Camps, verglich das verwüstete Lager mit »einem Ort, der von einem Erdbeben getroffen wurde«. Er betonte, die Verwüstung von Dschabalija sei »reine Rache an den Menschen« dort. Die Journalistin Malak Abu Hussein hat sichtlich schockiert ihre zerstörte Nachbarschaft in Dschabalija dokumentiert.
Aufgrund der unvorstellbaren Zerstörungen, die die israelischen Streitkräfte hinterlassen haben, hat der Leiter des städtischen Notfallkomitees in Nord-Gaza das Flüchtlingslager Dschabalija und die Stadt Beit Hanoun zu »Katastrophengebieten« erklärt. Die Verwendung des Adjektivs mankuba in dieser Erklärung erinnert eindeutig an das Nakba-Trauma.
»Kinder in Gaza verhungern in den Armen ihrer hoffnungslosen Eltern und sterben in einem entsetzlichen Tempo.«
Um die Überlebenden auszuhungern, legten die israelischen Streitkräfte Feuer in den Lebensmittellagern des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA), das Israel inzwischen als Terrororganisation betrachtet. Mit US-Bomben attackierte die IDF Krankenhäuser, Märkte, Schulen und Geflüchtetenunterkünfte und zerstörten damit die letzten Lebensgrundlagen der palästinensischen Menschen in Gaza.
Derweil posten israelische Soldaten Fotos und Videos von sich selbst, in denen sie (teilweise begleitet von traditioneller palästinensischer Musik) die Zerstörung von Häusern, Geschäften und UNRWA-Gebäuden in Dschabalija feiern. Ein IDF-Panzerkommandant hat beispielsweise Aufnahmen von sich und seiner Einheit gepostet, wie sie wahllos palästinensische Häuser beschießen und Lagerhäuser im Gazastreifen in die Luft jagen. Dabei wird ausgiebig gejubelt.
Dschabalija ist das größte der acht Flüchtlingscamps in Gaza. Es wurde schon nach der Nakba gegründet, um einen Unterschlupf für palästinensische Menschen zu bieten, die von Israel aus ihren Häusern vertrieben wurden. Auf diesem schmalen Landstreifen von kaum 1,4 Quadratkilometern leben mehr als 120.000 Menschen. Damit ist es das am dichtesten besiedelte Flüchtlingslager der Welt.
Das Lager ist aber auch legendär für seine Unerschütterlichkeit und seinen Widerstandswillen – was es zu einem häufigen Ziel israelischer Angriffe und brutaler Massaker gemacht hat. Dschabalija war auch der Ausgangsort des ersten palästinensischen Volksaufstandes, der Intifada. Dschabalija war somit stets ein Zentrum des Widerstands gegen die israelische Besatzung.
Allerdings ist die Lage in Dschabalija keine Ausnahme mehr. Israels Armee hat mit ihren Angriffen kein Camp verschont. Während der Bombardierung von Dschabalija wurde auch ein Haus im Flüchtlingslager al-Bureij im Zentrum von Gaza angegriffen, wobei eine fünfköpfige Familie ums Leben kam. Filmaufnahmen zeigen einen Retter, der ein Bein festhält und schreit: »Wem gehört dieses Bein?« Ein anderes Bild zeigt einen trauernden Vater, der vor Schmerzen fast zusammenbricht: Er kniet auf dem Boden und trauert um seine getöteten Kinder.
Am vergangenen Sonntag hat Israel außerdem das Flüchtlingslager al-Zawaida bombardiert. Die Soldaten töteten und verwundeten dutzende palästinensische Menschen, die meisten von ihnen Kinder. Herzzerreißende Aufnahmen zeigen einen trauernden Mann, der über seinen getöteten Sohn und seine Enkelin weint, deren Körper bei einem israelischen Luftangriff regelrecht in der Luft zerrissen wurden.
Es ist ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung: die israelischen Streitkräfte in Gaza schießen inzwischen auf alles, was sich bewegt. So zeigen erschütternde Aufnahmen, wie israelische Scharfschützen eine palästinensische Großmutter erschießen, die ihr Enkelkind in Sicherheit bringen will und eine weiße Fahne schwenkt. Darüber hinaus gibt es Berichte, laut denen Israels Armee palästinensische Familien sogar als »menschliche Schutzschilde« benutzen soll.
Bei seinen brutalen Angriffen auf palästinensische Zivilisten hat Israel mit erschreckender Präzision zahlreiche unschuldige Menschen attackiert, deren einzige Sünde darin bestand, Palästinensern beim Überleben zu helfen. So wurden drei Brüder aus dem Gazastreifen getötet, die monatelang Lebensmittel für palästinensische Vertriebene gekocht und verteilt hatten. Auch ein Krankenwagen samt Sanitätern des Palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS) wurde beschossen. Eine Mutter, die Brot für ihre Kinder backte, wurde ermordet, ebenso wie Kinder, die im Viertel Tuffah nach Nahrung suchten. Der Sohn des palästinensischen Journalisten Motasem Dalloul starb, als er sich mit seiner Familie in der Nähe einer Flüchtlingsunterkunft in Gaza-Stadt aufhielt. Nur zwei Wochen zuvor war der andere Sohn Dallouls getötet worden. Am Wochenende wurden außerdem zwei Journalisten aus Gaza ermordet: Ola al-Dahdouh und Abdullah al-Najjar.
Die Aussichten für die Überlebenden sind düster: Der größte Teil der Bevölkerung des Gazastreifens hungert unter der Belagerung, da Israel nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Hilfe die Hilfslieferungen nach Gaza beharrlich blockiert. In der vergangenen Woche forderten mehr als fünfzig internationale Menschenrechtsgruppen, für Gaza müsse eine Hunger-Katastrophenlage ausgerufen werden. Sie begründeten dies mit Israels vorsätzlichem Einsatz von Hunger als Waffe, was ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstelle. Tatsächlich verbietet Israel weiterhin, dass Medikamente und Nahrungsmittel, insbesondere Säuglingsmilch, den belagerten Streifen erreichen. Kinder in Gaza verhungern in den Armen ihrer hoffnungslosen Eltern und sterben in einem entsetzlichen Tempo. Nabil, einem an Leukämie erkrankten Kind, wurde von Israel die Ausreise aus Gaza verweigert. Er wurde in den Armen seiner Mutter am Grenzübergang Rafah sterben gelassen.
»Nach der Vernichtung von Dschabalija dringt die IDF nun tiefer in das Zentrum von Rafah vor, wo fast 1,5 Millionen vertriebene Menschen Zuflucht gefunden haben.«
Bislang hat Israel mehr als 37.000 Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen getötet, die meisten von ihnen Kinder. Mehr als 10.000 dürften noch unter den Trümmern begraben sein. Über zwei Millionen Menschen wurden vertrieben. Nach Angaben von Al Jazeera hat Israel ein Drittel des Gazastreifens besetzt, um eine Pufferzone und eine zentrale Straße zu schaffen, die den Gazastreifen teilt. Dieser Aktion fielen ebenfalls dutzende Familien und ganze Nachbarschaften zum Opfer. Die Zerstörung, die Israel mithilfe von US-Bomben in Gaza angerichtet hat, dürfte in der Menschheitsgeschichte beispiellos sein.
Nach der Vernichtung von Dschabalija dringt die IDF nun tiefer in das Zentrum von Rafah vor, wo fast 1,5 Millionen vertriebene Menschen Zuflucht gefunden haben. Rafah, das von UNICEF-Beamten als »Stadt der Kinder« bezeichnet wird, galt als letzte Zuflucht im Gazastreifen – bevor Israel im vergangenen Monat auch dort einmarschierte und mehrere Massaker an der Zivilbevölkerung verübte.
Nach Angaben des UNRWA sind seit der israelischen Invasion mehr als eine Million Palästinenser aus Rafah geflohen. Eine UN-Agentur teilte mit, rund 18.500 schwangere Frauen seien vor dem »Alptraum« dort auf der Flucht. Matthew Hollingworth, der Palästina-Direktor des Welternährungsprogramms (WFP), hat Rafah als einen Ort beschrieben, an dem »die Geräusche und Gerüche des täglichen Lebens absolut schrecklich und apokalyptisch sind«.
Monica Johnston, eine US-amerikanische Krankenschwester, die als Freiwillige in Rafah gearbeitet hat, beschreibt die kleine Flüchtlingsstadt als einen Ort, der von traumatisierten Kindern regelrecht »überschwemmt« ist. Ein Junge habe seine Hand und ein Bein verloren, als er versuchte, eine Thunfischdose zu öffnen, die sich als eine von israelischen Soldaten aufgestellte Sprengfalle entpuppte. Ein anderes Kind, Omar, musste mit ansehen, wie sein Vater bei lebendigem Leib verbrannte, als Israel ihr Flüchtlingszelt in Rafah bombardierte. Er gehört damit zu den über 25.000 Kindern, die durch Israels Krieg in Gaza zu Waisen geworden sind. Wie um die Tragödie von Rafah noch zu verschlimmern, hat die israelische Armee am 2. Juni die Evakuierung des amerikanischen Feldlazaretts am Strand von Rafah angeordnet. Dieses letzte noch arbeitende Feldlazarett in Rafah hat nun seinen Betrieb eingestellt, nachdem es von IDF-Panzern belagert wurde. Außerdem hat Israel nach Angaben des Büros der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Palästina letzte Woche das al-Helal al-Emirati Krankenhaus geräumt, welches das letzte funktionierende Krankenhaus in Rafah war.
Israels immer schärfer geführte Invasion in Rafah ist ein Hohn für die »roten Linien« der Biden-Regierung in Bezug auf Rafah. Die Warnungen der US-Führung haben sich als hohl und rückgratlos erwiesen. Während diverse israelische Führungspersönlichkeiten den Einmarsch und die schrecklichen Massaker feiern, leugnet die Biden-Administration das katastrophale Ereignis weitgehend.
Bei ihren Versuchen, Israels Taten in Gaza herunterzuspielen, ist die US-Regierung sogar so weit gegangen, ihre eigenen Berichte über Gaza zu fälschen. Diese Strategie hat das Ziel, Israel von seiner Verantwortung für die Blockade humanitärer Hilfslieferungen in den belagerten Gazastreifen freizusprechen. Schließlich würde eine solche Verantwortung die USA dazu verpflichten, ihre Waffenverkäufe an Israel gemäß einer Klausel im Foreign Assistance Act zu kürzen.
Führende Politiker der beiden großen US-amerikanischen Parteien haben den potenziellen Kriegsverbrecher Benjamin Netanjahu, gegen den bald ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vorliegen könnte, eingeladen, vor dem Kongress zu sprechen. Dieser Schritt untergräbt die verbliebene Autorität der politischen Klasse der USA weiter und erscheint geradezu wie eine Belohnung für die Kriegsverbrechen der israelischen Führung in Gaza.
»Die nun gefundenen Massengräber von Dschabalija werfen einen dunklen Schatten auf das Gewissen der gesamten Menschheit.«
Durch die unerschütterliche Unterstützung der USA ermutigt, handelt Israels Armee in Gaza weiterhin völlig ungestraft. In einem verzweifelten Versuch, Israel vor der internationalen Isolation zu bewahren (und seine eigenen Aussichten auf eine Wiederwahl zu stärken), hat Joe Biden am vergangenen Freitag einen Fahrplan für einen Waffenstillstand im Gazastreifen vorgelegt, der allerdings nicht die Forderung nach einem dauerhaften Waffenstillstand beinhaltet.
Als Reaktion auf Bidens Äußerungen verschärfte Israel seine Angriffe gar, bombardierte den Gazastreifen und beschoss Rafah erneut, was zu mindestens zehn Massakern an Zivilisten führte. In den Tagen seit Bidens Erklärung sind mehr als 160 Palästinenser von den israelischen Streitkräften getötet worden. Gleichzeitig beliefert die Regierung Biden Israel weiterhin mit Waffen und Bomben im Milliardenwert, die den palästinensischen Menschen in Gaza Tod, Verletzungen und Vertreibung bringen.
Die nun gefundenen Massengräber von Dschabalija werfen einen dunklen Schatten auf das Gewissen der gesamten Menschheit. Während die Schlachten in Gaza in den achten Monat gehen und kein Ende in Sicht ist, leben die Palästinenserinnen und Palästinenser in tiefer Verzweiflung. Ohne ein echtes, weltweites Eingreifen wird Israels ungehemmte Brutalität in Gaza unvermindert weitergehen.
Seraj Assi ist ein palästinensischer Schriftsteller, der in Washington, DC, lebt. Sein jüngstes Buch ist My Life As An Alien (Tartarus Press, 2023).