16. Januar 2025
Nach fünfzehn Monaten Krieg verhandeln Israel und die Hamas über einen Waffenstillstand. Außenpolitikexperte Daniel Bessner meint: Hätten die USA mehr Druck gemacht, hätte es schon längst Verhandlungen gegeben.
Rauchschwaden über Gaza nach israelischem Bombenangriff, 5. Januar 2025.
Israel und die Hamas haben sich auf einen Waffenstillstand geeinigt. Kurz vor der offiziellen Ankündigung veröffentlichte der designierte US-Präsident Donald Trump in seinem sozialen Netzwerk Truth Social in Großbuchstaben die Nachricht: »ES GIBT EINEN DEAL FÜR DIE GEISELN IM NAHEN OSTEN. SIE WERDEN BALD FREIGELASSEN.« Tatsächlich scheint der israelische Regierungschef Benjamin Netanjahu so plötzlich, wie er den Krieg erklärt hat, auch zu einem Waffenstillstand bereit zu sein.
JACOBIN hat mit Daniel Bessner, einem Experten für amerikanische Außenpolitik und internationale Beziehungen, über die Entwicklungen gesprochen. Seiner Meinung nach zeigen die jüngsten Ankündigungen, dass die USA stets die Möglichkeit hatten, dem Blutvergießen ein Ende zu setzen. Im Interview spricht Bessner über den US-amerikanischen Einfluss in Nahost, die mögliche Außenpolitik der neuen Trump-Regierung und ob die bestehende internationale Ordnung ein Wiederaufleben der Großmachtpolitik überleben kann.
Natürlich müssen wir über den Waffenstillstand sprechen, der in vielerlei Hinsicht überraschend kommt. Wie würdest Du das Ganze einordnen? Eine Interpretation ist ja, dass Benjamin Netanjahu versucht hat, den bevorstehenden Regierungswechsel in den USA abzuwarten. Er habe demnach darauf gehofft, dass Trump ihm freundlicher gesinnt ist – was dieser aber scheinbar nicht ist.
Ja, so würde ich es auch sehen. Es gibt viele Dinge, die wir über den Waffenstillstand und wie er zustande kam, nicht wissen. Es wird Jahre, wenn nicht Jahrzehnte dauern, bis wir die ganze Geschichte wirklich nachvollziehen können – auf Grundlage von Geheimdokumenten und Interviews mit Personen sowohl aus der scheidenden Biden-Administration als auch der neuen Trump-Administration, die dabei waren. Unser derzeitiges Wissen ist also begrenzt.
Ich denke aber, es ist trotzdem ziemlich klar, dass die Vereinigten Staaten nach wie vor in der Lage sind, die Politik enger Verbündeter wie Israel auf sehr direkte Weise zu formen. Das bedeutet auch, dass alles, was die Regierung Biden über die vermeintlichen »Grenzen der amerikanischen Macht« gesagt oder zumindest angedeutet hat, im Grunde genommen Blödsinn war. Das sollte man sich für die Zukunft merken: Die USA haben als globaler imperialer Hegemon weiterhin unglaublichen Einfluss auf der ganzen Welt und insbesondere auf ihre Staaten, die von ihnen abhängig sind.
Ich vermute, dass die nächste US-Führung unter Trump kein großer Freund des palästinensischen Volkes sein wird. Aber man ist die Schlagzeilen, die schlimmen Bilder und die schlechte Presse leid, die das israelische Vorgehen in Gaza mit sich bringt. Es bleibt abzuwarten, was Trump tatsächlich in Bezug auf die Israelpolitik und dem Wunsch einiger Israelis, eine Art Großisrael zu schaffen, machen wird.
Während der ersten Amtszeit Trumps vertraten republikanische Intellektuelle wie Elbridge Colby eine kohärente Vision davon, wie die republikanische Außenpolitik aussehen sollte: ein Teilrückzug aus dem Nahen Osten, harter Grenzschutz, Einfluss in der westlichen Hemisphäre und gleichzeitig ein Rückzug aus Europa, um sich mehr auf die Konflikte mit China zu konzentrieren. Das alles ist aber nicht geschehen: Die USA scheinen nicht im Entferntesten gewillt zu sein, ihre Position in Syrien aufzugeben; sie haben immer noch Truppen im Irak; sie bieten der Ukraine weiterhin Hilfe und Unterstützung …
Das ist korrekt.
Woher kommt dann eine solche alternative Vision der US-Außenpolitik bei Teilen der Republikaner, wenn diese doch offensichtlich nichts mit der Realität gemeinsam hat? Und warum kommt es nicht zu einem solchen Wandel?
Im Prinzip ist das eine recht alte Position, die mindestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zurückgeht, als die Vereinigten Staaten beschlossen, sich stärker in globale Angelegenheiten, insbesondere in europäische Angelegenheiten, einzumischen. Der Kampf der Großmächte wurde zum Fokus der USA. Das sah man sowohl bei den Demokraten als auch bei den Republikanern so; vor allem aber in der republikanischen Partei.
Im Grunde war dies auch die Hauptüberzeugung von Leuten wie Henry Kissinger und Richard Nixon: Sie meinten, der Krieg in Vietnam lenke von der Auseinandersetzung mit größeren und wichtigeren Mächten wie der Sowjetunion und China ab. Allerdings, so muss man hinzufügen, brauchten Nixon und Kissinger selbst eine ganze Weile, um aus Vietnam abzuziehen.
Ich würde sagen, das ist genau das Spannungsverhältnis imperialer Politik: Man kann eine große Strategie haben, die besagt, dass man sich heute eher auf China konzentrieren muss – oder in den 1970er Jahren unter Kissinger und Nixon auf die Sowjetunion. Aber wenn man ein großes Imperium ist, hat man all diese Verwicklungen und Verpflichtungen in der ganzen Welt, und man verzettelt sich in dem, was Theoretikerinnen und Theoretiker der internationalen Beziehungen »periphere Interessen« nennen würden. Ich glaube, genau das ist es, was wir im Nahen Osten erleben. Jake Sullivan [der nationale Sicherheitsberater im Kabinett Biden] hat bekanntlich kurz vor den Anschlägen vom 7. Oktober noch eine Rede gehalten, in der er betonte, die USA seien nun im Nahen Osten weniger verstrickt als je zuvor.
»Ich denke, es ist ziemlich klar, dass die Vereinigten Staaten nach wie vor in der Lage sind, die Politik enger Verbündeter wie Israel auf sehr direkte Weise zu formen.«
Die Frage für die Trump-Regierung und für jemanden wie Elbridge Colby lautet nun also: Wird Trump in der Lage sein, Dinge, die von unmittelbarer Bedeutung sind, im Grunde zu ignorieren – zum Beispiel, was in Syrien oder in Israel vor sich geht – und die nationale Sicherheitsbürokratie lediglich auf den Großmachtwettbewerb mit China auszurichten? Das ist auf jeden Fall das, was Colby will. Meines Erachtens will Colby die hegemoniale Position der Vereinigten Staaten in Ostasien und ihre globale Hegemonialstellung aufrechterhalten. Und um das zu erreichen, muss man sich mit China anlegen. Das ist die große Frage für die kommenden Jahre: Wird das tatsächlich möglich sein und passieren?
Ich glaube, die Beantwortung dieser Frage ist offen. Und es wird für Leute wie Colby nicht einfach sein, den Staat in diese Richtung zu lenken. Ich kann mir eher vorstellen, dass sich verschiedene Teile des nationalen Sicherheitsapparats auf unterschiedliche Dinge konzentrieren. Wir müssen abwarten und sehen, wie der grundlegende Tenor der kommenden Regierung sein wird.
Ein weiteres wichtiges Element der von Trump angekündigten Außenpolitik ist der Einsatz von Zöllen, um die geopolitischen Ziele der USA zu verfolgen. Ideologisch wird dies damit gerechtfertigt, dass die Zölle Teil eines umfassenderen Projekts zum Schutz der amerikanischen Industrie und Unternehmen seien. Wie weit lassen sich diese zwei Dinge Deiner Meinung nach überhaupt voneinander trennen?
Dies ist ein großes Problem, bei dem auch viele Leute auf unserer Seite anderer Meinung sind als ich. Das kann man natürlich sein! Ich glaube aber, dass es für die Vereinigten Staaten nahezu unmöglich sein wird, eine industrielle Basis wieder aufzubauen, die die Art von Beschäftigung bietet, die während des Höhepunkts des frühen Kalten Krieges, in den 1950er und 60er Jahren und bis in die 70er hinein herrschte. Damals bot eine Art militärischer Keynesianismus den Menschen wirklich regionales Wachstum und Beschäftigung.
Heute ist das verarbeitende Gewerbe in den USA aber nicht nur ins Ausland abgewandert, sondern es werden aufgrund verschiedener technologischer Innovationen einfach weniger Industriearbeiterinnen und Industriearbeiter benötigt. Das ist natürlich ein gigantisches Thema und ein Anliegen der Linken. Entsprechend viel wurde darüber schon geschrieben. Es ist aber übrigens auch ein Grund, warum ich mich nicht sonderlich vor dem Trumpismus als wirklich langlebige politische Kraft fürchte. Ich halte ihn für rückwärtsgewandt und durchdrungen von Fantasien, die nichts mit der materiellen Realität zu tun haben. Die Realität ist, dass nicht mehr so viele Arbeiterinnen und Arbeiter in den Vereinigten Staaten tatsächlich in der Industrie arbeiten. Zölle werden diese Arbeitsplätze nicht zurückbringen – und daher auch keine stabile Basis für die Trump-Regierung schaffen.
Ich gehe eher davon aus, dass wir in eine Periode eintreten, in der mal die Demokraten, mal die Republikaner regieren und es häufigere Wechsel geben wird, einfach, weil keine der beiden Parteien eine zukunftsweisende wirtschaftliche Vision hat – eine Vision, die per Definition populistisch sein muss –, um eine stabile Unterstützung in der Bevölkerung zu konsolidieren, die ihr wiederholte Wahlsiege beschert.
Die angekündigten Zölle sind lediglich eine Rückkehr zu einer Politik aus den 1930er Jahren, die nicht sinnvoll ist. Oder besser gesagt: Sie ist in der heutigen Welt der 2020er Jahre nicht mehr sinnvoll. Das große Problem bleibt, dass man eine ernsthafte ökonomische Umverteilung von den Reichen zum Rest vornehmen muss. In unserer wissensbasierten, dienstleistungsbasierten und finanzialisierten Wirtschaft haben die oberen Schichten der Gesellschaft so viel Reichtum auf sich vereint, dass eine enorme Unzufriedenheit entstanden ist. Daran werden auch Zölle nichts ändern. Man muss eine echte Umverteilung vornehmen, und meiner Ansicht nach wird die Trump-Regierung das nicht tun. Daher glaube ich nicht, dass sie eine solche besagte stabile Unterstützung in der Bevölkerung aufbauen und beibehalten kann.
Zurück zur Außenpolitik: Vor nicht allzu langer Zeit sprach man noch von »Chimerica«. Wie erklärst Du den Ursprung der nun doch sehr gestörten Beziehungen zwischen den USA und China?
Mein Eindruck von der gesamten Situation ist, dass die USA und ihre politischen Entscheidungsträger ohne jegliche historische oder empirische Begründung glauben, dass sie in Ostasien hegemonial bleiben können. Das ist eine Ansicht aus den 1990er Jahren beziehungsweise nach dem Zweiten Weltkrieg. Für mich ist das einfach nur ein völliges Hirngespinst: China – eine gigantische Macht, eine Zivilisation, die sich als unglaublich geschickt erwiesen hat, sich selbst zu modernisieren und weiterzuentwickeln, obwohl sie auch erhebliche Probleme hat – war sehr erfolgreich darin, seine Machtbasis zu festigen. Für mich ist absolut klar, dass China in den nächsten 10–25 Jahren die regionale Hegemonie in Ostasien erlangen wird.
Amerikanische Politikerinnen und Politiker, die in einer Ära der absoluten US-Vorherrschaft, also insbesondere in den 1990er Jahren, aufgewachsen sind, glauben fälschlicherweise, dass ihre Nation in der Lage sein wird, in Ostasien hegemonial zu bleiben. Daraus leiten sich letztlich alle aktuellen Spannungen ab. Die Fantasie einer amerikanischen regionalen Hegemonie in Ostasien wird auf die Realität treffen, dass die Großmacht China tatsächlich in Ostasien liegt.
Es ist ja bemerkenswert, dass viele Intellektuelle, die nicht unbedingt zur Linken zählen, sondern einfach nur »vernünftig« sind, durchaus eine kritische Haltung gegenüber dem US-Imperialismus eingenommen haben. Aber vielen Leserinnen und Lesern von beispielsweise John Mearsheimer entgeht offenbar, dass solche antiimperialen Positionen eingenommen wurden, um den Weg für eine Konfrontation mit China zu ebnen.
Dazu habe ich nicht viel zu sagen. Mearsheimer ist beim besten Willen keine Figur der Linken.
Aber er hat eine Art von Realismus rehabilitiert, der meiner Meinung nach ein gutes Bild der amerikanischen Außenpolitik in der Welt zeichnet.
Auf einer Konferenz des Quincy Institute for Responsible Statecraft, wo ich ein Non-Resident Fellow bin und Mearsheimer glaube ich auch, saß ich bei einem Mittagessen neben ihm. Wir hatten eine einstündige Diskussion darüber, ob die Vereinigten Staaten in der Lage sein werden, in Ostasien eine regionale Hegemonie beizubehalten. Mearsheimer war der festen Überzeugung, dass die USA alles in ihrer Macht Stehende tun müssten, um ihre regionale Hegemonie aufrechtzuerhalten. Und ich war der Überzeugung, dass, ob man das nun will oder nicht – und ich sollte hinzufügen, dass ich das aus verschiedenen philosophischen und moralischen Gründen nicht will – diese Hegemonie nahezu unmöglich ist. Ich denke, Mearsheimer ist ein klassischer Realist seiner Generation, in gewissem Sinne ein Kissinger‘scher Realist. Er glaubt nicht, dass die USA sich tief in Bereiche einmischen sollten, die vom besagten »peripheren Interesse« sind.
Auf jeden Fall wird Ostasien in den kommenden Jahrzehnten ein wichtiges Thema sein, auch für die Linke. Die große außenpolitische Frage ist wahrscheinlich, wie sich die US-Politik in Ostasien gestaltet. Ich denke, wir sollten die klassische antiimperiale Position einnehmen, dass die Menschen, die tatsächlich in den Regionen leben, bestimmen sollten, was in ihrer Region geschieht. Externe Mächte wie die Vereinigten Staaten sollten nicht in die Politik von Regionen, die nicht ihre eigenen sind, hinein diktieren. Und die USA sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um Ostasien letztlich zu verlassen, ohne allerdings ihre Verbündeten völlig im Stich zu lassen.