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03. Juni 2025

Deutschlands Gaza-Kehrtwende kommt 56.000 Tote zu spät

Wenn deutsche Politiker jetzt auf einmal beginnen, Israels Vorgehen in Gaza zu kritisieren, dann nur, um zu kaschieren, wie sehr sie und die gesamte Erinnerungskultur versagt haben. Doch Deutschlands Mitschuld ist unauslöschlich.

Ein Kind wird aus den Trümmern eines Gebäudes gerettet nach israelischen Luftangriffen in Gaza-Stadt, bei denen sieben Menschen getötet wurden, 3. Juni 2025

Ein Kind wird aus den Trümmern eines Gebäudes gerettet nach israelischen Luftangriffen in Gaza-Stadt, bei denen sieben Menschen getötet wurden, 3. Juni 2025

IMAGO / Anadolu Agency

Als der frisch ernannte deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz am 12. Mai 2025 den israelischen Präsidenten Isaac Herzog in Berlin empfing, um das sechzigjährige Bestehen der diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland zu feiern, lag die Zahl der im andauernden israelischen Militäreinsatz getöteten Palästinenser nach jüngsten Bemessungen bei 52.800 – die meisten davon Frauen und Kinder.

Wer das Ausmaß der Grausamkeit in Gaza begreift, konnte dieses Ritual der Sympathie und des guten Willens vor dem Hintergrund ausgemergelter Babys, verkohlter Kleinkinder, exekutierter Sanitäter und vernichteter Familien nur als Obszönität und Zurschaustellung beispielloser Straflosigkeit ansehen.

Schließlich veröffentlichte die Integrated Food Security Phase Classification (IPC) am selben Tag einen Bericht, der zeigte, dass 470.000 Menschen in Gaza von katastrophalem Hunger (IPC Phase 5) betroffen waren und die gesamte Bevölkerung unter akuter Ernährungsunsicherheit litt. Der Bericht prognostizierte zudem, dass alarmierende 71.000 Kinder und mehr als 17.000 Mütter dringend wegen akuter Unterernährung behandelt werden müssten. Dies war bei Herzogs Besuch selbstredend kein Thema.

Fähnchen im Wind

Es kam daher etwas überraschend, als nur vierzehn Tage nachdem er den Mann nach Berlin gebracht hatte, der die gesamte Bevölkerung Gazas für die Terroranschläge vom 7. Oktober verantwortlich gemacht hat, und Präsident Steinmeier nach Jerusalem geschickt hatte, um Netanjahu die Hand zu küssen, Bundeskanzler Friedrich Merz öffentlich Israels Vorgehen in Gaza kritisierte.

Bei einer Rede beim WDR Europaforum während der re:publica 2025 erklärte Merz: »Die Zivilbevölkerung derart in Mitleidenschaft zu nehmen, wie das in den letzten Tagen immer mehr der Fall gewesen ist, lässt sich nicht mehr mit einem Kampf gegen den Terrorismus der Hamas begründen.« Nach der obligatorischen Erklärung von Schuld und Pflicht gegenüber Israel sagte Merz weiter: »Wenn Grenzen überschritten werden, wo einfach das humanitäre Völkerrecht jetzt wirklich verletzt wird, dann muss auch der Bundeskanzler etwas dazu sagen.«

Am Tag nach Merz’ Äußerungen berichteten Medien, dass prominente Mitglieder der SPD – derselben Partei, die anderthalb Jahre lang Netanjahus Massaker in Gaza unterstützt hatte – plötzlich eine moralische Erleuchtung erfahren hätten. Wie eine Herde verängstigter Gazellen, die den Windwechsel spüren, beeilten sich einflussreiche SPD-Abgeordnete mit Aufforderungen an die Bundesregierung, Waffenexporte nach Israel angesichts möglicher Kriegsverbrechen in Gaza zu stoppen.

»Trotz aller besorgten Gesichtsausdrücke auf der Bühne, auf Bildschirmen und im Bundestag kann man nicht einmal sagen, dass Merz und der Rest der deutschen politischen Klasse von hinten führen – sie folgen vielmehr träge von vorn.«

»Deutsche Waffen dürfen nicht zur Verbreitung humanitärer Katastrophen und zum Bruch des Völkerrechts genutzt werden«, sagte Adis Ahmetovic, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion. Natürlich waren dies dieselben Personen, unter deren Aufsicht deutsche Waffen im Wert von hunderten Millionen Euro an Israel geliefert wurden, um eine humanitäre Katastrophe zu verursachen, internationales Recht zu verletzen und einen erklärten Vernichtungskrieg und ethnische Säuberung durchzuführen.

Und sie waren damit nicht allein. Journalisten, Kommentatoren, Intellektuelle und viele andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die es geschafft hatten, zwanzig Monate lang zu schlummern, während der Gazastreifen unter 2000-Pfund-Bomben der israelischen Armee brannte, wachten plötzlich auf. Und so entpuppte sich die deutsche Erinnerungskultur einmal mehr als das, was sie wirklich ist: eine Kultur des selektiven Vergessens.

Wo bleibt die Demokratie?

Sowohl Merz als auch die SPD hinken damit der deutschen Bevölkerung hinterher, die zwar zurückhaltend geblieben ist, aber der Lieferung von Waffen an Israel seit Langem kritisch gegenübersteht. Eine Forsa-Umfrage im Oktober 2024 ergab, dass 60 Prozent der Menschen Waffenexporte ablehnten, einschließlich Mehrheiten in allen drei der damaligen Regierungskoalitionsparteien. In Ostdeutschland stieg die Ablehnung auf 75 Prozent. Vermutlich haben die Deutschen auf ihren Social-Media-Feeds dieselben Bilder gesehen wie auch alle anderen.

Der öffentliche Unmut ist seit vielen Monaten unübersehbar: Proteste auf den Straßen, kritische Stimmen aus Wissenschaft und Kunst, einige mutige Beamte wie Melanie Schweitzer und eine Handvoll vorsichtiger Journalisten. Anfangs verhalten, sind ihre Stimmen mit jedem weiteren Massaker lauter und deutlicher geworden. Die Reaktion der deutschen Regierung war nicht Selbstprüfung, sondern Repression – der schrittweise Abbau demokratischer Sicherheiten bei gleichzeitiger Wahrung des rechtlichen Scheins.

Demonstrierende wurden in Berlin von der Polizei zusammengeschlagen, Akademiker zensiert und eingeschüchtert, Künstler öffentlich diffamiert, Journalisten fristlos entlassen. Von der äußersten Rechten bis zur scheinbaren Linken war die politische Klasse bereit, das demokratische Nachkriegsversprechen und die immer wieder beschworenen »europäischen Werte« zu verraten – um Jerusalems Programm des Masseninfantizids zu verteidigen. Auf jeden Fall blieben in einem Land mit einer starken und stolzen Tradition der zivilen Feigheit die klarsichtigen Äußerungen von moralischer Klarheit und Dringlichkeit bestenfalls marginal.

In den letzten Monaten ist die Kluft zwischen der Position der Regierung und der öffentlichen Meinung weiter gewachsen. Kurz vor Merz’ verbaler Kehrtwende ergab eine ZDF-Politbarometer-Umfrage, dass 80 Prozent der Deutschen Israels Militäroperation aufgrund der hohen Zahl ziviler Opfer für ungerechtfertigt halten. Nur 12 Prozent bezeichneten den Angriff auf Gaza noch als angemessen.

Es scheint also, als ob für Merz und die deutsche politische Maschinerie, die 52.800 Tote als durchaus akzeptable, wenn auch bedauerliche Zahl von Opfern im schmerzhaften, aber unvermeidlichen Kampf gegen den islamischen Terror ansahen, 56.000 Tote einfach zu viel sind. Wie immer, wenn der Geruch von brennenden Leichen schließlich bis nach Berlin dringt, zieht Fritz seine Uniform aus und versucht, sich unter die allgemeine Bevölkerung zu mischen.

Die geopolitische Kalkulation

Merz’ Kehrtwende kam zudem nur wenige Tage, nachdem Frankreich, das Vereinigte Königreich und Kanada eine scharf formulierte Warnung an Israel ausgesprochen hatten, dass sie »konkrete Maßnahmen« ergreifen würden, wenn die »ungeheuerliche« Ausweitung der Militäroperationen in Gaza fortgesetzt würde. Der britische Premierminister Keir Starmer schloss sich dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron und dem neuen kanadischen Premier Mark Carney an und forderte Israel auf, »seine Militäroperationen zu stoppen« und »sofort humanitäre Hilfe nach Gaza zu lassen«.

Zumal neben Ländern wie Irland und Spanien, die schon früher starke Rügen ausgesprochen hatten, wirkte Berlin zunehmend isoliert und unbeholfen, aber auch unehrenhaft. Mit der unverkennbaren Haltung von jemandem, der zu spät zu einer Beerdigung kommt, die er mitverantwortet hat, am Ende des Trauerzugs steht und hofft, dass niemand die Blutflecken auf seinem Hemd bemerkt, tat Merz nach 600 Tagen des Gemetzels so, als hätte auf einmal sein Gewissen zu ihm gesprochen.

»Achtzig Jahre nach dem Aufbau einer republikanischen Ordnung, die darauf ausgerichtet ist, moralische Absolution für seine Verbrechen zu erlangen, bleibt Deutschland zu schwerfällig oder zu feige, um zu sagen, was gesagt werden muss.«

Deutschlands jüngste Kehrtwende kann nicht glaubhaft als Akt moralischen Erwachens dargestellt werden – und das aus dem einfachen Grund, dass sich vor Ort sehr wenig geändert hat, außer dass die Zahl der Toten noch etwas höher gestiegen ist. Die gesamte aktuelle Situation – samt Nahrungsmittelmangel, der Zerstörung logistischer Netzwerke für Hilfe, dem Fehlen von Medikamenten, der Bombardierung von Krankenhäusern und der Tötung von Kindern – war allen im politischen Berlin seit Beginn des Massakers in Gaza bekannt.

Trotz aller besorgten Gesichtsausdrücke auf der Bühne, auf Bildschirmen und im Bundestag kann man nicht einmal sagen, dass Merz und der Rest der deutschen politischen Klasse von hinten führen – sie folgen vielmehr träge von vorn. Außerdem haben diese hastig am sich ändernden internationalen Meinungsbild und innenpolitischen Unbehagen ausgerichteten Erklärungen bisher keine konkreten politischen Veränderungen bewirkt. In den Tagen seit Merz’ Erklärung sind weitere Kinder und ältere Menschen an Hunger gestorben, weitere Familien wurden ermordet, und sehr wenig Hilfe ist in den Streifen gelangt.

Viel zu wenig, viel zu spät

Deutschland ist ein Land, das unendlich viel Zeit hat – Zeit, die den Kindern Gazas fehlt. Das ist letztlich der Grund, warum Deutschland nicht führen kann. Nicht weil es an Macht mangelt, sondern weil seine Politik träge, selbstzufrieden und unwillig ist zu handeln, bis sich der Wind bereits gedreht hat oder der Druck untragbar wird.

Wenn diese Kehrtwende auch kein Vertrauen erwecken kann, so könnte sie doch zumindest einige Veränderungen vor Ort in Gaza mit sich bringen. Auch wenn man nicht erwarten sollte, dass Merz ernsthaften Druck auf seine Freunde in Jerusalem ausübt – selbst angesichts der eklatantesten Verletzungen von Menschenrechten und grundlegendem Anstand – so könnte doch zumindest seine Geste den europäischen Partnern signalisieren, dass Deutschland ihnen nicht im Weg stehen wird, wenn sie beschließen, Sanktionen gegen israelische Verantwortungsträger zu verhängen. In jedem Fall könnte die deutsche Kehrtwende die tiefgreifendste und ungeheuerlichste Version des sprichwörtlichen »zu wenig, zu spät« sein.

Das moralische und politische Versagen der deutschen Staatsführung, das in all diesen Erklärungen nur widerwillig eingestanden wird, ist auch das Versagen der deutschen Öffentlichkeit. Diese ist in achtzig Jahren und nach unzähligen Rezitationen des Niemöller-Gedichts – »Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; ich war ja kein Kommunist« und so weiter – ihrer grundlegendsten Aufgabe nicht nachgekommen: Das Wort zu erheben, damit sich die Unmenschlichkeit ideologisch motivierten Massenmords in keiner Form wiederholt.

Achtzig Jahre nach dem Aufbau einer republikanischen Ordnung, die darauf ausgerichtet ist, moralische Absolution für seine Verbrechen zu erlangen, bleibt Deutschland – seine Öffentlichkeit und seine Politiker – zu schwerfällig oder zu feige, um zu sagen, was gesagt werden muss. Keine guten Worte oder Gesten werden die Tatsache ändern, dass das öffentliche Schweigen angesichts von Berlins herzlicher Umarmung mutmaßlicher israelischer Kriegsverbrecher ein mitschuldiges Schweigen ist.

Martin Gak ist Journalist im Bereich Rundfunk und Print mit Sitz in Berlin. Er berichtet über internationale Politik, mit einem Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Politik und Religion. Seine Arbeiten erscheinen in verschiedenen internationalen Medien.