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11. August 2025

Israels Krieg in Gaza ist eines der größten Verbrechen der Geschichte

Wer sich Zahlen, Statistiken und Zeugenaussagen ansieht, der muss objektiv feststellen: Der Krieg der israelischen Regierung in Gaza ist in seiner brutalen Zerstörung beispiellos.

Essensausgabe in Gaza, 2. August 2025.

Essensausgabe in Gaza, 2. August 2025.

IMAGO / Anadolu Agency

Wer versuchen möchte, sich vorzustellen, wie schlimm die Lage in Gaza ist, dem könnte ein Gedankenexperiment helfen: Denke an alle Menschen, mit denen Du aufgewachsen bist und die Du kennengelernt hast. Deine Mutter, Dein Vater und Deine Geschwister; aber auch Deine Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen; Deine Freunde aus Kindertagen und die Freunde Deiner Freunde, die Du auch schon lange kennst; Deine Nachbarn, die Leute, mit denen Du zur Schule gegangen bist, die Besitzerin vom Kiosk an der Ecke oder der Gastwirt, der Dich mochte und Dir immer etwas mehr auf den Teller gepackt hat.

Jetzt stell Dir vor: Sie sind alle weg. Vielleicht sind sie bei Luftangriffen ums Leben gekommen – so ist zum Beispiel Deine ganze Familie gestorben, begraben unter den Trümmern ihres Hauses. Deine Brüder, Deine Eltern, Deine Großmutter, Dein Hund sind tot, und wie durch ein Wunder haben nur Du und Deine jüngste Schwester überlebt. In einem einzigen Augenblick ist die ganze Welt, die Du kanntest, verschwunden – und dasselbe gilt für Deine Nachbarn und Freunde. Sie sind auch tot, ebenso wie ihre Familien. Und wenn doch jemand überlebt hat, wirst Du es nicht erfahren, weil Du weiterziehen musst.

In den folgenden anderthalb Jahren musst Du mit Deiner kleinen Schwester noch dreimal umziehen, provisorische Zelte aufschlagen und sie dann wieder verlassen, um kilometerweit zur nächsten »sicheren Zone« zu laufen, obwohl Du gehört hast, dass auch diese bombardiert werden. Der Tod ist überall, und Du verbringst jeden Tag Stunden damit, Essen oder sauberes Wasser zu suchen, um Deine kleine Schwester am Leben zu halten, die inzwischen bei einem weiteren Bombenangriff beide Beine verloren hat und deren Hand Du festhalten musstest, als sie amputiert wurden. Die Krankenhäuser hatten keine Betäubungsmittel mehr.

Was mit den meisten Menschen, die Du in Deinem Leben kennengelernt hast, passiert ist? Du weißt es nicht. Oder schlimmer noch: Manchmal weißt Du, was mit ihnen passiert ist. Nach einem Jahr ist der Ort, an dem Du aufgewachsen bist, einfach nicht mehr da. Die vertraute Wärme Deines Zuhauses, die Schule, in der Du Deine Kindheit verbracht hast, die Universität, an der Du Deinen Abschluss machtest, die Straßen, auf denen Du Fahrradfahren gelernt hast, die Spielplätze Deiner Kindheit, die Häuser Deiner Freunde, in denen Du Geburtstage gefeiert hast, der Ort, an dem Du Dein erstes Date hattest – alles ist verschwunden und wurde durch eine endlose graue Fläche aus verkohlten Ruinen ersetzt.

Heute herrscht Hungersnot und Du hast seit Tagen nichts mehr gegessen. Du hast gehört, dass an den Hilfsstellen Menschen erschossen werden. Aber Deine kleine Schwester ist sehr krank und nur noch Haut und Knochen, also gehst Du aus Verzweiflung trotzdem los. Als Du Dich durch die verschwitzten, verzweifelten Menschenmassen drängst, die genau wie Du um eine Tüte Mehl betteln, hörst Du plötzlich Schüsse und sinkst zu Boden. Deine letzten Gedanken gelten Deiner hungernden kleinen Schwester und der Frage, wer sich jetzt um sie kümmern wird.

Das ist keine wahre Geschichte in dem Sinne, dass sie einer bestimmten Person genauso widerfahren ist. Aber sie beschreibt – wie im Folgenden aufgezeigt wird – die sehr realen Zustände, die den Menschen in Gaza in den vergangenen knapp zwei Jahren zugefügt wurden.

Zwei Monate nach Kriegsbeginn warnten wir bei Jacobin bereits, dass das, was wir in Gaza beobachten, angesichts der Massen von grauenhaften Fakten, Zahlen und Zeugenaussagen »nicht nur ein weiterer schrecklicher Krieg« ist, sondern etwas »gänzlich anderes«. Seitdem sind weitere neunzehn Monate vergangen. Heute ist klarer denn je, dass das, was der israelische Staat den Menschen in Gaza antut, objektiv betrachtet und zahlenbasiert eines der schlimmsten Verbrechen in der modernen Geschichte ist.

»Beispiellose« Grausamkeit

Mit Blick auf Gaza fallen oft die Worte »beispiellos« und »schlimmste [...] aller Zeiten«. Meistens kommen diese Einschätzungen von Behörden, Ärztinnen, Nothelfern, Fachleuten und anderen, die schon lange einige der schlimmsten Kriegsgebiete der Menschheitsgeschichte beobachten oder erlebt haben.

Die Statistiken belegen und verdeutlichen ihre Einschätzungen: Nur drei Monate nach Kriegsbeginn war die durchschnittliche Tötungsrate durch das israelische Militär (250 Tote pro Tag) höher als in jedem anderen großen bewaffneten Konflikt dieses Jahrhunderts, einschließlich der Kriege in der Ukraine, im Irak und im Jemen. Der nächsthöchste Wert wurde im besonders blutigen Bürgerkrieg in Syrien verzeichnet, wo die Rate allerdings weniger als die Hälfte derjenigen von Gaza betrug (96,5 Tote pro Tag). Um einen Konflikt zu finden, dessen erste hundert Tage so tödlich waren wie die in Gaza, muss man bis zum Völkermord in Ruanda 1994 zurückgehen. Die »nächstplatzierten« Konflikte liegen weit dahinter.

Seitdem hat sich die Tötungsrate nur deshalb »verlangsamt«, weil die systematische Zerstörung der Krankenhäuser in Gaza es erschwert, die Zahl der Toten überhaupt noch im Blick zu behalten. Selbst wenn man die offiziellen Zahlen vom 30. Juli nimmt – wonach die Schwelle von 60.000 Toten überschritten wurde, was allerdings mit ziemlicher Sicherheit viel zu niedrig angesetzt ist – kommt man in Gaza immer noch auf eine Tötungsrate von 91 Menschen pro Tag. Das ist höher als in allen Konflikten des 21. Jahrhunderts, mit Ausnahme Syriens. Wie Peter Beinart hervorhebt, werden jeden Tag mehr Palästinenserinnen und Palästinenser getötet, als Menschen bei einigen der berüchtigsten Massaker der Geschichte – bei Vorfällen, die die Welt kollektiv schockierten und einen grundlegenden Wandel in Politik und allgemeinen Einstellungen auslösten: Massaker wie das von Sharpeville in Südafrika (69 Tote an einem Tag) oder der Bloody Sunday in Irland (26 Tote).

Doch es geht nicht nur um das Ausmaß der Tötungen, sondern vielmehr darum, wer getötet wird. Nach einem Jahr belief sich die Zahl der Familien, die vollständig ausgelöscht wurden – also ohne einen einzigen überlebenden Verwandten, mit einem dauerhaft getilgten Familiennamen – auf 902. Dabei handelt es sich um die niedrigste von mehreren Schätzungen. Fast 3.500 Familien haben demnach nur noch zwei Mitglieder, 1.364 Familien einen einzigen Überlebenden. In einigen Fällen haben die israelischen Streitkräfte drei oder vier Generationen einer Familie getötet – und das bei einem einzigen Luftangriff. Das ist auch in anderen Kriegen vorgekommen, aber nicht annähernd in diesem Ausmaß.

Darüber hinaus hat die israelische Armee einen besonders hohen Anteil an Zivilisten getötet. Bis September 2024, als die Zahl der Todesopfer noch weitaus geringer war als heute, waren bereits mehr Frauen und Kinder gestorben als im gleichen Zeitraum jedes anderen Konflikts in den vergangenen zwei Jahrzehnten.

Nehmen wir eine extrem konservative Schätzung, die noch nicht identifizierte Leichen außer Acht lässt und die absurde Behauptung der israelischen Behörden berücksichtigt, es seien 20.000 Hamas-Kämpfer getötet worden (was, wenn wahr, bedeuten würde, dass fast alle getöteten Männer Hamas-Anhänger waren). Selbst damit läge die Zahl der getöteten Frauen, Kinder, älteren Menschen und nicht der Hamas angehörenden Männer zum 30. Juli bei 64 Prozent der Gesamtzahl der Todesopfer in Gaza. Selbst mit dieser krassen Unterschätzung würde Gaza beim Anteil der getöteten Zivilisten immer noch vor den meisten der schlimmsten Konflikte der letzten siebzig Jahre liegen – darunter Vietnam, die Jugoslawienkriege, Syrien und Jemen – und weit über dem Durchschnitt von 50 Prozent Zivilistenanteil, der in Kriegen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert vorherrschte.

Insbesondere die Gewalt gegen Kinder ist außergewöhnlich. Nach nur vier Monaten hatte Gaza mit Abstand die höchste Rate an Todesfällen unter Kindern aller jüngsten Konflikte – fast zehnmal so hoch wie in Syrien und 45 mal so hoch wie im Jemen. Am 30. Juli lag diese Rate bei einem Kind pro Stunde. Oder wie die Exekutivdirektorin von UNICEF es bildlich darstellte: »Seit zwei Jahren wird jeden Tag ein ganzes Klassenzimmer voller Kinder umgebracht.« Darunter sind Tausende Säuglinge und Kleinkinder unter zwei Jahren. Als das Gesundheitsministerium in Gaza im Juni dieses Jahres eine aktualisierte, detaillierte Liste aller im Krieg getöteten Personen veröffentlichte, die nach Alter sortiert war, musste man elf Seiten oder 486 Namen durchgehen, um das erste Kind über sechs Monate zu finden.

»Durchschnittlich sterben jeden Tag zwei Dutzend palästinensische Menschen, weil sie absichtlich beschossen werden, während sie auf Lebensmittel warten. Auch das ist beispiellos.«

Drei Monate nach Kriegsbeginn hatten im Durchschnitt mehr als zehn Kinder pro Tag in Gaza ein oder beide Beine verloren. Der Streifen ist heute der Ort mit den meisten Amputationen unter Kindern pro Kopf weltweit. Wegen der Blockade durch Israel wurden viele, wenn nicht gar die allermeisten dieser Amputationen ohne Betäubung durchgeführt. Einige dieser Kinder gehören zu den mehr als 17.000 Waisen, die der Krieg hinterlassen hat. Für die Lage in Gaza wurde ein neuer Begriff eingeführt: WCNSF – Wounded Child, No Surviving Family. Das zeigt, wie erschreckend alltäglich solche Schicksale in diesem Krieg geworden sind. Es gibt Berichte von Ärztinnen und Ärzten vor Ort, nach denen Kinder, die schwer verletzt wurden und niemanden mehr haben, der sich um sie kümmern könnte, um den Tod bitten.

Es gibt außerdem Belege dafür, dass Kinder in Gaza absichtlich sadistisch angegriffen wurden. Seit über einem Jahr gibt es zahlreiche Berichte von Gesundheitsfachkräften über die Behandlung von Kindern, die absichtlich in Kopf, Hals, Brust und Hoden geschossen wurden, wobei es den Anschein hatte, als würden israelische Soldaten sie als »Übungsziele« benutzen. Ebenso wurden Jungen als menschliche Schutzschilde eingesetzt. Hunderte Kinder aus Gaza wurden verhaftet und in israelischen Gefängnissen festgehalten. Dort wurden viele von ihnen gefoltert. Hinzu kommt die regelmäßige, weit verbreitete Folter von inhaftierten (erwachsenen) Menschen, von denen Dutzende unter Folter gestorben sind. Berichtet wird von Elektroschocks, Angriffen mit Hunden und sexueller Gewalt, die so extrem war, dass die Opfer in Krankenhäuser eingeliefert werden mussten.

Jetzt, da 100 Prozent der Bevölkerung von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen sind, wird die Zahl der Todesopfer in Gaza (und insbesondere die der toten Kinder) erneut steigen. Ein Fachmann hat über die Hungersnot, die nun in Gaza ausgebrochen ist, gesagt: »Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keinen Fall von Hunger, der so genau geplant und kontrolliert wurde.« Die sich gerade entfaltende Hungersnot hat offiziell schon Dutzende Menschenleben gefordert – vermutlich eine weitere zu niedrige Schätzung, die unter Umständen nur zehn Prozent der tatsächlichen Gesamtzahl darstellen könnte.

Tausende Kinder haben den Punkt erreicht, an dem es kein Zurück zum normalen Leben mehr gibt. Sie werden in den kommenden Wochen und Monaten sterben oder dauerhaft behindert bleiben. Der Notfallkoordinator des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen hat betont, dies sei »etwas, was wir in diesem Jahrhundert noch nicht erlebt haben«. Die Situation sei nur mit gewissen Hungersnöten aus dem 20. Jahrhundert zu vergleichen.

Es ist ein weiterer Meilenstein in der Grausamkeit des israelischen Krieges in Gaza. Hinzu kommen weiterhin jeden Tag Dutzende Palästinenserinnen und Palästinenser, die mit Bomben und Kugeln massakriert werden.

Absolute Zerstörung

Doch es ist nicht nur das Massenmorden, das Gaza so besonders macht. Es ist das Ausmaß der physischen Verwüstung. Man muss von einer riesigen, systematischen Zerstörungskampagne sprechen, die auf alle Strukturen und Institutionen abzielt, die ein organisiertes Leben in der Enklave ermöglichen.

Bis Februar 2025 waren 92 Prozent der Häuser in Gaza beschädigt oder zerstört, zwei Drittel des gesamten Wohnungsbestands des Gebiets wurden komplett vernichtet. Die Vereinten Nationen haben erklärt, eine solche »beispiellose« Zerstörung von Wohnraum habe es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben. Ein Wiederaufbau werde wohl bis 2040 dauern – wenn der Krieg heute beendet würde. Und: Diese Aussage der UN wurde vor vierzehn Monaten getroffen.

Innerhalb nur eines Monats nach Kriegsbeginn wurden aufgrund der israelischen Blockade, mit der die Strom- und Treibstoffversorgung des Gazastreifens unterbrochen wurde, alle fünf Kläranlagen und die meisten Abwasserpumpstationen stillgelegt. Dies führte dazu, dass ungeklärtes Abwasser die Küstengewässer, den Boden und das Süßwasser verseuchte. Nach einem Jahr waren 70 Prozent der Wasser- und Abwasseranlagen des Gazastreifens beschädigt oder zerstört. Im Juni 2025 waren nur noch 49 Prozent der Trinkwasserproduktionsanlagen funktionsfähig.

Es braucht Begriffe, die wir bisher kaum oder gar nicht verwendet haben, um zu beschreiben, was zerstört oder beschädigt wurde: So ist unter anderem die Rede von einem »Urbizid« angesichts der 92 Prozent zerstörter Hauptstraßen und 70 Prozent aller Gebäude; einem »Scholastizid« angesichts der 90 Prozent betroffenen Schulen und Universitäten in Gaza; einem »Domizid« angesichts der Mehrheit der Haushalte, deren Häuser komplett zerstört wurden; einem »Ökozid« angesichts dessen, was die UN als »beispiellose« und möglicherweise »irreversible« Schäden an den natürlichen Ökosystemen der Region bezeichnen.

Dieser Ökozid umfasst Stand April 2025 Schäden an 83 Prozent der Anbauflächen Gazas sowie die Tötung von 95 Prozent des Rinderbestands sowie etwa zwei Fünfteln der Schafe und Ziegen. Der Norden Gazas, der einst zu zwei Dritteln aus landwirtschaftlicher Nutzfläche bestand, ist in eine Wüste verwandelt worden. Hinzu kommen die Bombardierung der einzigen Getreidemühle, die Schließung buchstäblich aller Bäckereien, die Zerstörung von 72 Prozent der Fischerboote und die vollständige Stilllegung der Fischerei an sich. Die Fähigkeit Gazas, sich jetzt und in Zukunft selbst zu ernähren, ist vernichtet worden.

Aufgrund der Zerstörung sind die Menschen in Gaza inzwischen fast ausschließlich von Hilfslieferungen abhängig. Die israelische Regierung nutzt dies aus und hat die Ausgabestellen in Orte verwandelt, die ein früherer US-Elitesoldat, der dort gearbeitet hat, als »Todesfallen« bezeichnet. Durchschnittlich sterben jeden Tag zwei Dutzend palästinensische Menschen, weil sie absichtlich beschossen werden, während sie auf Lebensmittel warten. Auch das ist beispiellos.

»Damit hat der israelische Staat einen Rekord nach dem anderen aufgestellt: die meisten getöteten Gesundheitsfachkräfte seit mindestens einem Jahrzehnt, die meisten getöteten UN-Mitarbeiter aller Zeiten, der tödlichste Krieg für Hilfskräfte seit Beginn der Aufzeichnungen und auch der tödlichste für Journalisten in der Geschichte.«

Mehr als die Hälfte der Kulturerbestätten Gazas und ein Drittel der Moscheen wurden beschädigt oder zerstört. Auch hier liegen einige Schätzungen deutlich höher. In jedem Fall betroffen sind die beiden ältesten Gebäude des Gazastreifens: die mehrere Jahrhunderte alte Große Moschee von Gaza, die bei einem Luftangriff fast vollständig zerstört wurde, und das Samariter-Badehaus, das von einer alten Volksgruppe erbaut worden war, die angeblich von den biblischen Stämmen Israels abstammt – und nun von den zeitgenössischen Israelis bombardiert und dem Erdboden gleichgemacht wurde. Als die Taliban oder der IS Kulturgüter zerstörten, wurde dies als Beleg dafür angeführt, dass diese Gruppierungen eine gefährliche globale Bedrohung darstellen. Auch die Zerstörung jüdischer Kulturgüter durch die Nazis wird beispielsweise vom US-amerikanischen Holocaust Memorial Museum als zentraler Bestandteil des Versuchs angesehen, die europäischen Jüdinnen und Juden auszurotten.

Besonders extrem waren die Angriffe auf das Gesundheitswesen des Gazastreifens. Mindestens 94 Prozent der Krankenhäuser im Gebiet wurden beschädigt oder zerstört. Das letzte voll funktionsfähige Krankenhaus wurde im April 2025 teilweise zerstört. Fast die Hälfte ist heute überhaupt nicht mehr funktionsfähig. Eine ähnliche Situation gab es nach neun Jahren Krieg im Jemen (50 Prozent der Krankenhäuser nicht funktionsfähig). Man vergleiche dies mit der jeweiligen Lage in Syrien (37 Prozent), der Ukraine (37,5 Prozent) und dem Irak (sieben Prozent wurden dort bei der Invasion 2003 teilweise zerstört).

Krankenhäuser sind wie Kulturerbestätten und Schulen im Krieg besonders geschützt. Angriffe auf sie gelten als so inakzeptabel, dass die Obama-Regierung und das Pentagon verzweifelt nach einer Ausrede suchten, als 2015 versehentlich ein afghanisches Krankenhaus bombardiert worden war. Es wurden drei Untersuchungen eingeleitet, und der Präsident entschuldigte sich persönlich. Sechzehn Personen wurden für ihre Beteiligung an der Bombardierung bestraft. Es war ein großer, weltweit beachteter Skandal.

Israel hingegen hat Hunderte gezielte Attacken gegen Krankenhäuser nicht nur zugegeben sondern auch gerechtfertigt. Gleiches gilt für Angriffe auf Schulen und religiöse Stätten.

Auch medizinisches Personal soll besonders geschützt werden. Dennoch haben israelische Truppen bereits zu Kriegsbeginn innerhalb von zwei Monaten mehr Gesundheitspersonal in Gaza getötet als in allen Konflikten seit 2016 weltweit in einem Jahr zusammen. Diese Zahl ist seitdem sogar nochmals gestiegen. Selbst nach vorsichtigen Schätzungen sind die 557 Gesundheitsfachkräfte, die zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 30. Juli 2025 in Gaza getötet wurden, knapp mehr als ein Drittel der Gesamtzahl der Gesundheitsfachkräfte, die in den acht Jahren vor dem Gaza-Krieg weltweit getötet wurden. Hinzu kommen Hunderte Angestellte im Gesundheitswesen, die von israelischen Soldaten entführt wurden (und von denen einige zu Tode gefoltert wurden).

Im ersten Kriegsjahr hat die israelische Armee im Durchschnitt alle fünfzehn Tage eine Hilfsgüterverteilungsstelle und ein Lagerhaus, alle vier Tage eine Schule und ein Krankenhaus, alle siebzehn Stunden ein Zelt und andere Notunterkünfte und alle vier Stunden ein Wohnhaus bombardiert. Damit hat der israelische Staat einen Rekord nach dem anderen aufgestellt: die meisten getöteten Gesundheitsfachkräfte seit mindestens einem Jahrzehnt, die meisten getöteten UN-Mitarbeiter aller Zeiten, der tödlichste Krieg für Hilfskräfte seit Beginn der Aufzeichnungen und auch der tödlichste für Journalisten in der Geschichte. Tatsächlich wurden bereits mehr Reporterinnen und Reporter getötet als in den letzten sieben großen Kriegen mit US-Beteiligung zusammen. Das schließt beide Weltkriege sowie den US-Bürgerkrieg ein.

Bombardement von unfassbarem Ausmaß

Diese Zahlen sind Ergebnis unüblich wahlloser und heftiger Bombardements. Nach den konservativsten Schätzungen haben israelische Flugzeuge seit Kriegsbeginn mehr als 70.000 Tonnen Bomben auf Gaza abgeworfen. Das entspricht etwa sechs Hiroshima-Bomben auf einem Gebiet, das weniger als halb so groß ist wie die japanische Region, aber sechsmal so viele Einwohner hat. Die intensivste Phase der Bombardierungen war in den ersten drei Monaten des Krieges. Bis Februar 2024 waren 25.000 Tonnen Sprengstoff abgeworfen worden, was etwa der Sprengkraft von zwei Hiroshima-Bomben entspricht.

Israel hat damit den Norden Gazas in nur sechs Wochen in einem Ausmaß zerstört, das mit deutschen Städten wie Dresden, Hamburg und Köln im Laufe des Zweiten Weltkriegs vergleichbar ist. Im dritten Kriegsmonat hatte Israel mehr Gebäude (33 Prozent) in ganz Gaza zerstört als die Alliierten in drei Jahren in den städtischen Gebieten Nazi-Deutschlands (zehn Prozent). Der US-Militärhistoriker Robert Pape, Autor eines Standardwerks über Luftkriege im 20. Jahrhundert, bezeichnete Gaza zu diesem Zeitpunkt als »eine der intensivsten Bestrafungskampagnen gegen die Zivilbevölkerung in der Geschichte«. Gaza liege »locker im obersten Viertel der verheerendsten Bombardierungen aller Zeiten«.

Allein in dieser frühen Kriegsphase, so Fachleute, habe Gaza alle in modernen Kriegen in puncto Zerstörung vergleichbaren Orte übertroffen, sei es Aleppo in Syrien, Mariupol in der Ukraine, Mossul im Irak oder Grosny in Tschetschenien. Letzteres wurde einst von den Vereinten Nationen zur »am stärksten zerstörten Stadt der Erde« erklärt. In Bezug auf »das schiere Tempo der Bombardierungen« sagte ein Forscher, der Kriegsschäden in diversen Kriegen kartografiert hat, im Dezember 2023: »Es gibt nichts Vergleichbares in derart kurzer Zeit.« Nach achtzehn Monaten Krieg bezeichnete Paul Rogers, emeritierter Professor der Bradford University und Autor zahlreicher Bücher über moderne Kriegsführung, die Zerstörung Gazas als »beispiellos im Zeitalter nach dem Zweiten Weltkrieg«. Einzig die Brandbombenangriffe auf Tokio im Zweiten Weltkrieg seien vergleichbar.

Solche Einschätzungen sind nicht überraschend, wenn man bedenkt, wie heftig die Bombardierung von Gaza war – vor allem in den ersten drei Monaten des Krieges, als die Zerstörung am schnellsten voranging. Die 25.000 Tonnen Bomben, die in den ersten drei Monaten in Gaza einschlugen, sind weit mehr als die Alliierten bei den Brandbombenangriffen auf Hamburg (9.000 Tonnen) oder Dresden (3.900 Tonnen) abgeworfen haben, die vom National World War II Museum der Vereinigten Staaten selbst als »apokalyptisch« beschrieben wurden. Die Nazis hatten beim Luftkrieg gegen Großbritannien in acht Monaten rund 18.300 Tonnen auf London abgeworfen.

Die 22.000 Angriffe, die israelische Einheiten in nicht einmal zwei Monaten durchgeführt haben, waren deutlich mehr als die 13.598, die die von den USA geführte Allianz in mehr als vier Jahren gegen den IS im Irak geflogen hat. Das sind 60 Prozent mehr Luftangriffe in nur vier Prozent der Zeit auf einem Gebiet, das weniger als ein Tausendstel so groß ist. Das israelische Vorgehen übertraf auch die mehr als 17.000 Angriffe auf Syrien im gleichen Zeitraum – ein Land, das etwa 500 mal so groß ist wie Gaza. Damals wurde die Zerstörung in Syrien beschrieben als »Vernichtungskrieg«, »schwer zu begreifen« und – in Anspielung auf die brutale Schlacht im Zweiten Weltkrieg – zweites »Stalingrad«.

»Die fast 500 Bomben pro Tag zeugen von einer Intensität, die den täglichen Durchschnitt der USA von 46 Bomben, die in den letzten zwanzig Jahren auf alle Kriegsgebiete abgeworfen wurden, weit übertrifft.«

Die israelische Luftwaffe prahlte, allein in den ersten fünf Kriegstagen 6.000 Bomben auf Gaza abgeworfen zu haben. Zum Vergleich: Die meisten Bomben, die die USA in einem Jahr in Afghanistan einsetzten, waren etwas über 7.000. Das ist auch ungefähr die Menge, die die NATO 2011 in acht Monaten auf Libyen abgeworfen hat. Tatsächlich gab es zwischen 2013 und 2018 kein Jahr, in dem mehr als 4.400 Bomben in Afghanistan eingesetzt wurden – ein Land, das fast 1.800 Mal so groß ist wie Gaza. Die Zahl der Bomben, die im Rahmen der Operation Inherent Resolve gegen den IS in einem Monat abgeworfen wurden, lag einmal bei über 5.000.

Nach nur zwei Monaten hatte Israel insgesamt 29.000 Geschosse abgefeuert. Die Chefin von Airwars nannte das »deutlich mehr als in jedem anderen Konflikt, zumindest in den letzten zwanzig Jahren«. Eine Ausnahme bildet der Irak, wo im ersten Monat der »Shock and Awe«-Offensive 2003 ebenso viele Bomben abgeworfen wurden. Allerdings ist das Land auch deutlich größer als der Gazastreifen. In Gaza kamen deutlich mehr Bomben zum Einsatz als die, die die USA im gesamten Jahr 2016 weltweit abgeworfen haben, und mehr als die »beispiellose« Zahl, die Donald Trump in den ersten sechs Monaten seiner ersten Amtszeit weltweit einsetzen ließ.

Die fast 500 Bomben pro Tag zeugen von einer Intensität, die den täglichen Durchschnitt der USA von 46 Bomben, die in den letzten zwanzig Jahren auf alle Kriegsgebiete abgeworfen wurden, weit übertrifft. Sie stellt auch die massive Ausweitung der russischen Bombardierungen in der Ukraine in diesem Jahr in den Schatten: Der Tagesdurchschnitt der von Russland im Juli abgefeuerten Drohnen, Raketen und Gleitbomben lag bei 367 – und die meisten davon wurden von ukrainischen Verteidigungssystemen abgefangen, über die die Bewohner Gazas selbstverständlich nicht verfügen.

Diese schiere Masse an Bomben allein wäre schon tödlich genug. Darüber hinaus aber hat Israels Armee bei der Bombardierungskampagne auch auf eine außergewöhnlich große Zahl von Waffen mit besonders großflächiger Zerstörungskraft zurückgegriffen. Rund 40 bis 45 Prozent der in den ersten beiden Monaten abgeworfenen Sprengkörper waren sogenannte »dumme« Bomben ohne Lenksysteme, was ein Waffenexperte des Pentagon als für eine liberale Demokratie im 21. Jahrhundert »schockierend« bezeichnete.

Während die USA seit Vietnam meistens auf 500-Pfund-Bomben zurückgegriffen haben – dies waren zum Beispiel die größten Bomben, die gegen den IS in Mossul und Raqqa eingesetzt wurden –, machten 1.000- und 2.000-Pfund-Bomben 90 Prozent der Munition aus, die die israelische Armee in den ersten zwei Wochen des Krieges in Gaza verwendet hat. Letztere können Menschen in einem Umkreis von mehr als 300 Metern töten oder verletzen und reißen riesige Krater in den Boden. Sie wurden unter anderem auf vermeintliche »Sicherheitszonen«, einen überfüllten Markt, ein Flüchtlingslager, Wohnhochhäuser sowie in Reichweite von Krankenhäusern abgeworfen.

Nicht in Worte zu fassen

Letztendlich ist es egal, ob die israelischen Politiker all dies absichtlich tun (obwohl sie das ganz klar tun) oder ob der Krieg als Genozid einzustufen ist (was er ganz sicher ist). Die Auflistung einiger Fakten und Zahlen zeigt: Egal, wie man es nennen mag – was der israelische Staat mit Gaza macht, ist unerträglich und ein weltgeschichtlich schreckliches Ereignis.

Es gab und gibt andere Kriege, in denen mehr Menschen oder sogar ein größerer Anteil der Zivilbevölkerung getötet wurden. Es gibt andere Staaten, auf die mehr Sprengstoff abgeworfen wurde. Andere Regierungen haben mehr Kinder getötet oder sie auf sadistische Weise gefoltert. Andere Länder wurden in ähnlicher Weise physisch zerstört und ökologisch verseucht. In anderen Kriegen wurden ebenfalls Gesundheits- und Hilfskräfte getötet und Krankenhäuser zerstört. Es gab andere Konflikte, in denen bewusst Hungersnöte herbeigeführt wurden.

Was Gaza von diesen anderen Konflikten unterscheidet, ist aber nicht nur, dass es alle diese Merkmale aufweist, sondern dass die derzeitige Lage in jedem dieser Aspekt eine der schlimmsten, wenn nicht gar die schlimmste seit Jahrzehnten ist – und in mancherlei Hinsicht sogar die schlimmste Lage in der gesamten Menschheitsgeschichte. Es gibt einen Grund, warum Menschen, die ihr ganzes Leben lang in Konfliktgebieten gelebt, gekämpft, beobachtet, humanitäre Hilfe geleistet und geforscht haben, immer wieder konsequent betonen, dass sie noch nie in ihrem Leben etwas derart Schlimmes gesehen haben wie das, was derzeit in Gaza geschieht: Was wir in Gaza erleben, ist nicht nur ein weiteres trauriges und schreckliches Ereignis in einem weit entfernten Teil der Welt, sondern etwas, das selbst im Rahmen solcher schrecklichen Ereignisse beispiellos grausam und unmenschlich ist.

Was wir gesehen haben und weiterhin mitansehen, ist die Auslöschung einer ganzen Gesellschaft mit ihren 2 Millionen Menschen. Jeder Aspekt der modernen Zivilisation sowie die grundlegendsten Dinge, die für das bloße Überleben einer menschlichen Gemeinschaft notwendig sind, wurden vom israelischen Militär in Gaza absichtlich und nahezu vollständig zerstört. Aktuell sehen wir zu, wie die Menschen in Gaza durch eine Kombination aus Hunger, Krankheit und offenem Mord massenhaft langsam, aber sicher sterben.

Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.