26. September 2024
Viele Menschen haben das Gefühl, deutsche Medien berichten unausgewogen über Israels Krieg gegen Palästina. Und sie haben Recht.
Medienschaffende fordern ungehinderten Zugang zum Gazastreifen, um unabhängig über den Krieg berichten zu können.
Na endlich: Seit dem 13. September haben fast 300 Medienschaffende einen Offenen Brief unterzeichnet, der sich mit Journalistinnen und Journalisten in Gaza solidarisiert. Endlich scheint sich etwas in der deutschen Berichterstattung über Nahost zu ändern. Die Unterzeichnenden fordern den Schutz von Journalistinnen und Journalisten in Gaza und die Aufhebung des israelischen Einreiseverbots für unabhängige internationale Berichterstatterinnen und Berichterstattern ins Kriegsgebiet. Denn Israel kontrolliert die Grenzen nach Gaza. Außerdem appellieren die Unterzeichnenden des Offenen Briefs an deutsche Medienhäuser und Medienschaffende, keine »ungeprüfte Übernahme von Darstellungen von Kriegsparteien in der Berichterstattung« vorzunehmen. Sie fordern: »Quellenvielfalt, Einbettung in den historischen und politischen Kontext, Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit palästinensischen Journalist:innen.«
Eigentlich sollte das für die Arbeit von Journalistinnen und Journalisten selbstverständlich sein. Nicht umsonst steht Ziffer 1 des Pressekodexes unter dem Titel »Wahrhaftigkeit und Menschenwürde«. Ziffer 2 handelt von der Sorgfaltspflicht. Verstöße gegen beides lassen sich in der deutschen Berichterstattung seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober täglich beobachten. Wie jüngst bei der Bild-Zeitung, die – ob bewusst oder nicht – israelische Desinformationen über ein vermeintliches Hamas-Dokument reproduzierte. Die Pressefreiheit ist im Kontext der Nahostberichterstattung nicht nur durch Israel nicht gegeben. Auch durch den deutschen Medienbetrieb selbst, sind Pressefreiheit und journalistische Sorgfaltspflicht gefährdet.
»Na endlich!«, rufen die einen nach beinahe einem Jahr Krieg gegen Palästina. »Warum erst jetzt?«, fragen die anderen. Nach beinahe einem Jahr dokumentierter Völkerrechtsbrüche der israelischen Armee und Regierung. Nach beinahe einem Jahr mutmaßlichem Genozid in Gaza, so zumindest der Internationale Gerichtshof, der Anzeichen für einen möglichen Völkermord sieht. Die Gründe, warum die deutsche Berichterstattung zu Nahost international einmalig ist, warum die Doktrin der Staatsräson, die für unabhängigen Journalismus eigentlich keine Rolle spielen sollte, erst jetzt langsam hinterfragt wird, sind vielschichtig. Sie dürfen aber nicht als Entschuldigung dienen, sondern als Erklärungsansätze.
Der Anspruch der journalistischen Sorgfaltspflicht ist noch der wohlwollendste Erklärungsansatz. Oft liest man in Sozialen Medien den Vorwurf, dass Medien absichtlich über neueste Gräueltaten der israelischen Armee gar nicht oder erst verspätet berichten würden. Dieser Vorwurf ist richtig, aber nur ein Teil der Wahrheit. Das lässt sich gut an einem Beispiel erklären.
Vergangene Woche zirkulierte ein Video auf der Plattform X, ehemals Twitter, in dem zu sehen ist, wie israelische Soldaten mutmaßlich einen Palästinenser vom Dach werfen. Das Video wurde schnell verbreitet, um das »proisraelische« Narrativ zu entkräften, die Hamas, gar palästinensische Zivilisten würden regelmäßig Homosexuelle von Hausdächern werfen. Ohne die Situation homosexueller Menschen in Gaza schönzureden, die bisher dazu verbreiteten Videos dieser angeblichen Fälle zeigen laut Faktencheckern der Nachrichtenagentur Reuters und anderen den IS im Irak.
In deutschen Medien wurde über besagtes Video nicht berichtet, was in den Sozialen Medien für Empörung sorgte. Dass Medien das nicht getan haben, mag befremdlich wirken, hat aber einen Grund. Denn um der journalistischen Sorgfaltspflicht nachzukommen, müssen Quellen und Kontext überprüft werden. In diesem Fall bestätigte sich später durch ein weiteres Video, dass der vom Dach gestoßene Mann vorher durch israelische Soldaten erschossen wurde und wohl bereits tot war.
»Es gibt zahlreiche Beispiele, in denen die Faktenlage klar ist, in denen Kriegsverbrechen dokumentiert sind, in denen es keine offenen Fragen gibt. Es sind Fälle, über die Medien im Kontext anderer Konflikte längst berichtet hätten.«
Eine Leiche einfach vom Dach zu werfen, ist dennoch zu verurteilen. Und wenn man dem Inhalt des zweiten Videos glauben kann, dann handelte es sich hier um die Hinrichtung eines unbewaffneten Zivilisten. Ein weiterer Völkerrechtsbruch durch Israels Armee. Hätte man bereits über das erste Video berichtet, hätte man womöglich eine Falschmeldung verbreitet. Eine journalistische Verbreitung des ersten sowie zweiten Videos wäre aber ebenfalls schwierig gewesen, da Ort, Zeit und Kontext weiterhin nicht klar belegt sind.
Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es zahlreiche Beispiele gibt, in denen die Faktenlage klar ist, in denen Kriegsverbrechen dokumentiert sind, in denen es keine offenen Fragen gibt. Es sind Fälle, über die Medien im Kontext anderer Konflikte längst berichtet hätten. Fälle, über die sie dennoch nicht berichten, obwohl sie könnten. Oder anders gesagt: Wenn man sorgfältig ist, kann man zwar nicht immer über alles sofort berichten. Das hindert viele deutsche Medien aber nicht daran, Behauptungen der israelischen Regierung und des israelischen Militärs unkritisch zu übernehmen.
So schreibt die Tagesschau praktisch nach jedem israelischen Raketenangriff auf Schulen, Krankenhäuser oder Moscheen, dass es sich laut Israel um Hamas-Verstecke gehandelt habe. Oft wird darauf verwiesen, dass ja transparent gemacht werde, dass es sich nur um ein Zitat handle. Doch damit macht man es sich zu einfach, zumal erwiesen ist, dass Israel ständig falsche Informationen verbreitet. Logisch, Israel ist ja Kriegspartei. Oder mit den Worten des ehemaligen republikanischen US-Senators Hirum Johnson: »Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.«
In diesem Kontext ist es auch wichtig zu verstehen, wie Medien ticken. Die deutsche Medienkultur ist geprägt durch die journalistische Maxime der Objektivität, die einem schon im Studium eingebläut wird. Und es ist auch richtig, sich um so viel Objektivität wie möglich zu bemühen. »Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten«, soll der ehemalige Tagesthemen-Sprecher Hanns Joachim Friedrichs gesagt haben.
Dem gegenüber steht der Satz: »Wahrhaftigkeit braucht Standpunkte«. So erklärt der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Frankfurter Rundschau (FR) und politischer Autor, Stefan Hebel, in der FR-Biografie Haltung zählt, dass »Haltung und Transparenz guten Journalismus« ausmachen und nicht etwa »falsche Objektivitätsversprechen«.
Journalistinnen und Journalisten muss bewusst sein, dass absolute Objektivität in der Praxis nicht möglich und vielleicht auch gar nicht richtig ist. Alle Menschen sind voreingenommen. Das ist eigentlich nichts Neues. Medienschaffende benutzen eine hypothetische absolute Objektivität dennoch oft als politischen Kampfbegriff, um Kolleginnen und Kollegen mit unliebsamer Meinung zu diskreditieren. Denn Aktivistinnen und Aktivisten sind ja bekanntlich immer die anderen. Andere halten wiederum tatsächlich, wenn auch nicht böswillig, an der Existenz absoluter Objektivität fest. So wird der Begriff auch gerne synonym für Ideologiefreiheit benutzt, ohne das Bewusstsein, dass vermeintliche Ideologiefreiheit selbst hoch ideologisch ist. Oder, um es mit den Worten des Philosophen Slavoj Zizek zu sagen: »Alles ist Ideologie.«
Dieser objektive Wahrheitsanspruch sorgt bei Medienschaffenden, die sich ihm verpflichtet fühlen, für eine grundsätzliche Ablehnung widersprüchlicher Informationen. Das führt dazu, dass viele nicht willens sind, neue Informationen aufzunehmen, verschiedene Seiten gegeneinander aufzuwiegen, Kontexte zu berücksichtigen, so Schlüsse zu ziehen und ein möglichst lückenloses Gesamtbild zu zeichnen. Ein Beispiel, dass das anschaulich macht, ist die Diskussion um die umstrittene BDS-Bewegung. Viele deutsche Journalistinnen und Journalisten fühlen sich an die »Kauft nicht bei Juden«-Kampagnen der Nazis erinnert. Das liegt an ihrer politischen Sozialisation in Deutschland und der besonderen historischen Verantwortung, die das Land nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg trägt. Und es ist auch grundsätzlich gut, dass hier eine gewisse Sensibilität herrscht.
»Dass mehrere Wahrheiten parallel zueinander existieren können, wird im journalistischen Diskurs oft zurückgewiesen.«
Faktisch beruft sich die BDS-Bewegung aber auf frühere Boykottbewegungen, die teils bereits in den 1920ern entstanden und sich unter anderem gegen die britische Besatzung richteten. Auch in Anlehnung an die Anti-Apartheidbewegung in Südafrika soll Israel heute durch Boykott, Desinvestitionen und Sanktionierung zur Erfüllung von drei Kernforderungen bewegt werden: dem Ende der »Kolonisierung allen arabischen Landes«, der Anerkennung des Grundrechts von Israels arabisch-palästinensischen Bürgerinnen und Bürgern »auf volle Gleichheit« und ein Rückkehrrecht aller palästinensischen Flüchtlinge »in ihre Heimat und zu ihrem Eigentum gemäß der UN-Resolution 194«.
Man kann also durchaus eine Diskussion über die BDS-Bewegung und mögliche Problematiken führen. Das nennt man Diskurs, auch wenn dessen konstruktive Form in Deutschland immer stärker ins Abseits gerät. Doch das muss faktenbasiert geschehen. Und die oben genannten Fakten sollten längst bekannt sein. Dennoch ist die Berichterstattung über die Bewegung einseitig. Dass mehrere Wahrheiten parallel zueinander existieren können, wird im journalistischen Diskurs oft zurückgewiesen. Das zeigt sich etwa, wenn Kolleginnen und Kollegen argumentieren, Israel habe keine Kolonialgeschichte, sondern sei als sicherer Hafen für Jüdinnen und Juden gegründet worden. Dass beides stimmen kann, dass Theodor Herzl, der Stammvater des Zionismus in seinen Plänen für die Gründung Israels nichts anderes als koloniale Blaupausen beschrieben hatte, was in der Wissenschaft völlig unumstritten ist, wollen sie nicht hören.
Es entsteht eine Dissonanz, wenn das Gelernte nicht mit der Realität übereinstimmt. Viele Deutsche sind mit dem Bild Israels als Friedenshort, als einzige Demokratie in Nahost, als einziger sicherer Hafen für Jüdinnen und Juden aufgewachsen. Auch ist die Selbstdarstellung der IDF als Verteidigerin all dessen und als moralischste Armee der Welt vorherrschend. Nun offenbart sich deutlicher als je zuvor, dass dieses Schwarz-Weiß-Denken nicht funktioniert, dass Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Frieden gefährdet. Dass Israel inzwischen auch laut IGH keine Demokratie für alle ist. Dass der Zionismus, so gut die Idee in der Theorie klingt, in seiner Praxis durch Massenvertreibungen umgesetzt wurde. Und dass die IDF täglich Völkerrechtsbruch begeht. Das passt nicht in das Bild, das viele bisher hatten und sorgt deshalb für eine Abwehrhaltung. Doch selbst in Deutschland wird die Berichterstattung inzwischen kritischer. Nicht alle setzen Israelkritik dem Antisemitismus gleich.
Dann gibt es aber noch den Kampagnenjournalismus. In Deutschland gilt für Medien Tendenzschutz, weshalb es sie in unterschiedlichster politischer Ausrichtung gibt. Für den Pluralismus in bürgerlichen Gesellschaften ist das auch wichtig. Jedes Medium deklariert in seiner Satzung, welche Werte und politische Überzeugungen es vertritt. Beim Axel-Springer-Verlag, dem die Welt und Bild gehören, ist das unter anderem die Solidarität mit Israel. Und so wie der Verlag seine Israelsolidarität auslegt, wird hier von vornherein objektive und kritische Berichterstattung ausgeschlossen. Natürlich missbraucht man den Objektivitätsbegriff dennoch für die eigene politische Agenda.
Doch auch abseits von Springer stehen deutsche Medien zum größten Teil immer noch für die Staatsräson ein, und nicht für die universellen Menschenrechte. Laut verschiedener Umfragen spricht sich die breite Bevölkerung hingegen klar für einen kritischen Umgang mit Israel und ein Ende des Krieges aus. Der Vorwurf des Elfenbeinjournalismus, den ironischerweise Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt regelmäßig bemüht, ist also vielleicht näher an der Realität, als es viele Journalistinnen und Journalisten sind.
Hinzu kommt der Kapitalismus, in dem die deutsche Berichterstattung wirkt. Zum einen sind da wirtschaftliche Interessen. Das konkreteste Beispiel ist die Intercept-Recherche des freien Journalisten Hanno Hauenstein. Darin berichtet er, dass der Springer-Verlag über eine Tochterfirma mit der Vermarktung und dem Verkauf illegaler Wohnungen und Grundstücke in israelischen Siedlungen im Westjordanland Profit erzielt.
»Laut verschiedener Umfragen spricht sich die breite Bevölkerung hingegen klar für einen kritischen Umgang mit Israel und ein Ende des Krieges aus.«
Gleichzeitig werden die Arbeitsbedingungen von Journalistinnen und Journalisten immer prekärer. Redaktionen werden kleingespart, Arbeit wird verdichtet. Bedauerlicherweise bleiben dadurch Themen links liegen. Das darf aber keine Ausrede sein. Stattdessen muss die Priorisierung von Themen anders laufen. Und da wir in Palästina gerade einen enormen Zivilisationsbruch erleben, darf das auf den Seiten der Tageszeitungen nicht nur eine Randspalte sein.
Dazu gesellt sich ein Klima der Angst. Alle aufgezählten Gründe sorgen bei vielen Journalistinnen und Journalisten zurecht für Verunsicherung, gibt es doch immer wieder Fälle, in denen Medienschaffende ihren Job verlieren, wenn ihre Israelkritik mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Manchmal reicht es auch schon, wenn sie bloß auf einer »falschen« Veranstaltung waren.
Oktober 2023 trennten sich die Sender Arte und der Bayerische Rundfunk (BR) von Malcolm Ohanwe, weil dieser auf Twitter wenige Stunden nach dem Angriff der Hamas einen von vielen als umstritten wahrgenommenen Post absetzte. Der BR sprach damals auf Anfrage der taz von »menschenverachtenden Statements«.
Im Dezember 2022 entließ der Kinderkanal Kika den Moderator Matondo Castlo. Laut Bild nahm er an dem Jugendfestival Farkha im Westjordanland teil. Dieses gilt vielen als antiisraelisch (was kein Problem sein darf), gar antisemitisch (völlig hanebüchen). In einem Artikel der Berliner Zeitung heißt es, das Festival richte sich gegen die »israelische Besatzung, ist aber auch Dorn im Auge islamistischer Kräfte, weil Männer und Frauen dort gemeinsam tagen«.
Journalistinnen und Journalisten sind in Deutschland immer wieder Shitstorms in Sozialen Medien ausgesetzt, vor denen Redaktionen schnell einknicken. Manche werden durch Menschen in Machtpositionen telefonisch bedroht. Und in all diesen Fällen zeigen sich in Medienhäusern manchmal sogar die eigenen Kolleginnen und Kollegen unsolidarisch.
Nicht zuletzt deshalb ist der Offene Brief wichtig. Denn selbstverständlich werden weder die israelische, noch die deutsche Regierung auf die Forderungen der inzwischen fast 300 Unterzeichnenden eingehen. Das zeigt unter anderem die Schließung des Büros von Al-Jazeera durch Israel im Westjordanland vergangenes Wochenende. Doch was dieser Brief leistet, ist, dass kritische Journalistinnen und Journalisten (das Kritische sollte eigentlich nicht erwähnenswert sein, da es zum Berufsverständnis gehört) nicht alleine sind. Das macht Mut und gibt Sicherheit. Und es verändert bereits jetzt das Klima in den Redaktionen zum Positiven und damit vielleicht auch die Debatten.
Baha Kirlidokme ist Redaktionsmitglied der Frankfurter Rundschau und gehört zu den Erstunterzeichnenden des Offenen Briefs »Journalist:innen in Deutschland für Pressefreiheit im Gaza-Krieg«.