23. Februar 2024
Die völlige Empathielosigkeit, mit der die Bundesregierung dem Leid der Menschen in Gaza begegnet, ist eine moralische Bankrotterklärung Deutschlands in der Welt.
Überlebende prüfen die Trümmer eines Gebäudes nach einem israelischen Luftangriff in der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen, 22. Februar 2024.
Wir erleben aktuell den blutigsten Krieg in Israel/Palästina seit Jahrzehnten. Mindestens 1.200 vor allem israelische Bürgerinnen und Bürger wurden am 7. Oktober 2023 durch die Hamas, mindestens 28.000 Palästinenserinnen und Palästinenser seitdem durch die israelische Armee getötet. Doch der Großteil meiner Kolleginnen und Kollegen in der deutschen Politik ist scheinbar nur für eine Seite zu Empathie und Solidarität fähig.
Das Leid der palästinensischen Bevölkerung scheint im politischen Establishment nicht zu interessieren. Es gibt kaum Worte der Anteilnahme, es gibt keine Gedenkveranstaltungen für die tausenden ermordeten Kinder und Jugendlichen in Gaza, und schon gar nicht gibt es eine Aufforderung an die israelische Regierung, diesen Krieg zu beenden. Ebenso wenig überdenkt man die eigene Position, der Regierung Netanjahu nicht nur mit »bedingungsloser Solidarität«, sondern auch mit Waffenlieferungen in ihrer Politik zur Seite zu stehen.
Von einer »wertegeleiteten Außenpolitik«, die in den letzten Jahren so viel beschworen wurde, ist nichts zu sehen. Es ist eine moralische Bankrotterklärung der deutschen Politik und ein Offenbarungseid in Sachen Doppelstandards.
Die nackten Zahlen verdeutlichen, welche Qualen die Menschen in Gaza erleiden: 28.300 haben bereits ihr Leben verloren, mehr als 68.000 sind zum Teil schwer verletzt, mehr als 8.000 sind noch unter Trümmern verschollen – dass viele von ihnen überlebt haben, muss leider bezweifelt werden. Mindestens 85 Prozent der Menschen wurden vertrieben, fast die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens leidet unter Hunger.
Und jetzt greift die israelische Armee die Stadt Rafah an – und damit den Teil des Gazastreifens, den Israel selbst als »sicheres Gebiet« ausgewiesen hatte und in den sich Zehntausende geflüchtet haben. Dass der geplante Einmarsch in Rafah das Leid noch verschärfen wird, weiß auch Annalena Baerbock, die das Manöver richtigerweise als »humanitäre Katastrophe mit Ansage« bezeichnet hat.
Doch diese Aussage der Außenministerin ist bis auf Weiteres die schärfste Form der Kritik an der israelischen Kriegsführung, die der deutschen Regierung über die Lippen kommt. Der größte Teil der Ampelkoalition wie auch der konservativen Opposition verteidigt Israels Vorgehen in Gaza ohne Wenn und Aber. Die immer weiter steigenden Opferzahlen auf palästinensischer Seite scheinen ihnen nichts zu bedeuten.
»Im vergangenen Jahr stiegen die Rüstungsexporte nach Israel von 32 Millionen Euro auf 303 Millionen Euro an – das ist nahezu eine Verzehnfachung.«
Olaf Scholz erklärt: »Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten. Und deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee auch bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Da habe ich keinen Zweifel.« Da darf man fragen, ob der Bundeskanzler die Realität einfach nicht sehen will – denn die Verstöße gegen das Völkerrecht im Gazastreifen sind gut dokumentiert. Und auch von den Aufrufen zu Mord, Gewalt und Besatzung aus den Reihen der israelischen Regierung und des Parlaments kann jeder wissen, der davon wissen will.
Noch absurder sind die Worte von Friedrich Merz: »Mein Eindruck ist, dass die israelische Regierung alles tut, um die Zivilbevölkerung zu schützen.« Denn diese Äußerung fiel zu einem Zeitpunkt, als der Gazakrieg in den Statistiken bereits als der Krieg mit den meisten getöteten Kindern seit Jahren rangierte, mit dem höchsten Anteil an Vertriebenen und den meisten getöteten Journalistinnen und Journalisten seit Jahrzehnten.
Nicht nur sind diese Stellungnahmen führender Regierungs- wie Oppositionspolitiker bereits zu dem Zeitpunkt, in dem sie abgegeben werden, durch Bilder und Zahlen widerlegt – sie wirken auch deswegen so realitätsfremd, weil viele ihrer Amts- und Parteikolleginnen in anderen Staaten längst angefangen haben, ihren Kurs zu korrigieren. So stockte Pedro Sánchez, der sozialdemokratische Ministerpräsident Spaniens, die humanitäre Hilfe nach Gaza auf. In etlichen Staaten wird ein Stopp der Rüstungsexporte nach Israel diskutiert oder wurde bereits vollzogen. In Lateinamerika hat zum Beispiel Brasiliens Präsident Lula da Silva aus Protest gegen die anhaltende Zerstörung in Gaza seinen Botschafter in Israel zurückgerufen.
Noch im Bundestagswahlkampf 2021 sprach sich die SPD in ihrem Wahlprogramm für eine »restriktive Rüstungsexportpolitik« aus, und die Grünen plakatierten den Slogan »Keine Waffen und Rüstungsgüter in Kriegsgebiete«. Doch im vergangenen Jahr stiegen die Rüstungsexporte nach Israel von 32 Millionen Euro auf 303 Millionen Euro an – das ist nahezu eine Verzehnfachung. Im Januar 2024 gab die Bundesregierung bekannt, dass sie die Lieferung von 10.000 Schuss 120-Millimeter Panzermunition nach Israel prüfe – Munition, mit der im Gazastreifen ganz konkret Häuser zerstört und Menschen getötet werden.
Es reicht nicht aus, wenn die Außenministerin artikuliert, dass die aktuelle israelische Politik gegen die Menschenrechte verstößt – ein Verstoß gegen die Menschenrechte muss auch Folgen nach sich ziehen.
»Die Aufgabe der Bundesregierung als einem der engsten Bündnispartner Israels muss es sein, auf dessen Regierung einzuwirken, damit dieses sinnlose Töten aufhört.«
Vor diesem Hintergrund habe ich die deutsche Bundesregierung, konkret die Außenministerin, gefragt, ob und welche Konsequenzen sie aus dem israelischen Angriff auf Rafah zieht, vor dem sie selbst gewarnt hat, welche Maßnahmen sie konkret ergreift, um diese Katastrophe zu verhindern, und ob sie erwägt, die deutsche Rüstungsexportpolitik zu verändern.
Die Antwort lautet leider wie erwartet: Eine Kurskorrektur bei den Rüstungsexporten ist nicht vorgesehen. Die Antwort des Außenministeriums legt nahe, dass die Bundesregierung nicht stärker Partei für den Schutz der Zivilbevölkerung ergreifen wird, sondern sich auf ihrem Beitrag zu humanitärer Hilfe ausruht.
Der schlimmste Terroranschlag auf Jüdinnen und Juden seit der Shoa am 7. Oktober 2023, die Ermordung von mehr als 1.200 vor allem israelischer Bürgerinnen und Bürger durch die Hamas, die Geiselnahme von vielen hundert Menschen, darunter vielen Kindern – das musste uns alle innehalten lassen. Es muss auch die Linke in Deutschland in besonderem Maße mahnen, da wir eine besondere Verantwortung haben, jüdisches Leben zu schützen und entschlossen gegen Antisemitismus vorzugehen.
Das darf aber nicht bedeuten, dass man angesichts eines brutalen Kriegs gegen Zivilistinnen und Zivilisten schweigt oder wegsieht – oder gar der verantwortlichen rechten Regierung einen Freibrief erteilt. Das Vorgehen der israelischen Streitkräfte ist längst über jegliche legitime Verteidigung hinausgeschossen und dient nur noch der Rache und kollektiver Bestrafung. Das sieht laut Umfragen inzwischen auch eine Mehrheit in Deutschland so. Die Aufgabe der Bundesregierung als einem der engsten Bündnispartner Israels muss es sein, auf dessen Regierung einzuwirken, damit dieses sinnlose Töten aufhört.
»Die Linke sollte in der deutschen Politik die Stimme all derer sein, die unter diesem Krieg leiden und die sich Sicherheit und Frieden wünschen.«
Das Versagen der deutschen Außenpolitik im Nahen Osten ist offenkundig, der Ausverkauf der eigens artikulierten Grundsätze in der Außenpolitik nicht zu übersehen. Linke Kräfte und Parteien dürfen diese Fehler der Ampelparteien und der Konservativen nicht wiederholen. Für demokratische Sozialistinnen und Sozialisten müssen Menschenrechte immer zählen. Das Nein zu Waffenlieferungen in Kriegsgebiete muss unverhandelbar sein. Die manchmal utopisch erscheinende Idee von Diplomatie, von Frieden und Gerechtigkeit muss immer handlungsanleitend bleiben.
Gemeinsam mit den zwanzig Abgeordneten der SPD, die sich ebenfalls für einen Waffenstillstand aussprechen, sollte die Linke in der deutschen Politik die Stimme all derer sein, die unter diesem Krieg leiden und die sich Sicherheit und Frieden wünschen.
In dieser Haltung standhaft zu bleiben, schulden wir nicht nur den Leidenden in Gaza, sondern auch den israelischen Friedensaktivistinnen und -aktivisten, die trotz scharfer Repressionen seit Wochen auf die Straße gehen und von Deutschland Mut zum Frieden fordern. »Schickt uns keine Waffen, schickt uns medizinische Unterstützung, unterstützt nicht den Krieg, unterstützt den Frieden« – so formuliert es Maoz Inon, dessen Eltern am 7. Oktober von der Hamas getötet wurden.
Nicole Gohlke ist Mitglied des Bundestages für die Partei Die Linke.