21. Mai 2024
Die Kritik, nur wer gegen alle vorherigen Kriege auf die Straße gegangen sei, könne glaubwürdig gegen den Gaza-Krieg protestieren, ist scheinheilig und falsch. Wo die eigene Regierung Mitverantwortung trägt, ist Protest besonders angebracht und effektiv.
Gewerkschaftsmitglieder protestieren gegen den Gaza-Krieg auf der DGB-Kundgebung in Berlin, 1. Mai 2024.
Je länger der Krieg in Gaza andauert, desto mehr gerät das bedingungslos israelsolidarische deutsche Kommentariat in Bedrängnis. Die schrecklichen Bilder aus dem Gazastreifen sind ebenso unerträglich wie unbestreitbar – über 30.000 Tote, darunter mindestens 8.000 Kinder, eine zerstörte Infrastruktur, deren Wiederaufbau Jahrzehnte dauern wird – mit keinem Ende in Sicht.
Und das, obwohl schon seit Monaten sogar eine Mehrheit der Israelis einen »absoluten« Sieg gegen die Hamas für unwahrscheinlich hält. Dieser Krieg, wie gerechtfertigt oder schlicht unvermeidlich er nach dem Hamas-Angriff auch gewesen sein mag, wird von einer gesellschaftlichen Mehrheit zunehmend als unvertretbar angesehen – sogar in Deutschland, dem wohl engsten Verbündeten Israels nach den USA und sicherlich dem loyalsten.
Die Luft wurde am Montag noch etwas dünner, als der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) Karim Ahmad Khan seine Absicht ankündigte, Haftbefehle gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant zu beantragen. In der Financial Times erklärte eine Gruppe angesehener Experten für internationales Menschenrecht, die Khan bei der Vorbereitung der Klage berieten, sie seien »einstimmig der Meinung«, dass die von dem IStGH gesammelten Beweise »vernünftige Gründe für die Annahme« lieferten, dass Netanjahu und Galant sich des »absichtlichen Einsatzes des Aushungerns von Zivilisten als Methode der Kriegsführung und des Mordes und der Verfolgung von Palästinensern als Verbrechen gegen die Menschlichkeit« schuldig gemacht hätten. Das Gericht beantragte am selben Tag Haftbefehle gegen die Hamas-Anführer Yahya Sinwar, Mohammed Deif und Ismail Haniyya, die ebenso verdächtigt werden, »Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit« zu verantworten.
Da es zunehmend keine Option mehr ist, israelische Kriegsverbrechen in Gaza zu leugnen, gehen Israels Diskursverteidiger immer mehr zu einer Strategie der Ablenkung über: Natürlich ist Kritik an der israelischen Politik und sogar Kriegsführung erlaubt, sagen sie, ihre Sorge gelte vielmehr der Einseitigkeit der Kritiker Israels, und dem Fokus auf Gaza zum Nachteil anderer Konflikte und Katastrophen in der Welt. Warum sind die Studierenden, die gegen den Krieg in Gaza protestieren, nicht auch gegen andere Kriege auf die Straße gegangen? Warum gibt es keine großen Demonstrationen gegen den Krieg im Sudan oder in der Demokratischen Republik Kongo?
Eine etwas nuanciertere Version dieser Kritik hat die renommierte Autorin Ronya Othmann vor wenigen Tagen in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung geäußert. Mit Blick auf die Verbrechen der Regierungen der Türkei und des Irans an ethnischen Minderheiten und ihrer Repression gegen Dissidenten fragte sie: »Warum demonstrierte niemand gegen die Türkei? Oder im Iran: Wie viele Leute wurden seit Beginn der Proteste hingerichtet?« Die Antwort liegt für Othmann auf der Hand: »Es muss an dieser Projektion auf Israel liegen.«
»Jeder hat das Recht – und wohl auch die moralische Pflicht – gegen jedes Kriegsverbrechen zu protestieren.«
Oberflächlich betrachtet, hat diese Kritik eine gewisse argumentative Kraft. Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind gleichermaßen verwerflich, egal ob russische Invasoren ukrainische Zivilisten töten, türkische Soldaten kurdische Dorfbewohner erschießen oder israelische Bataillone palästinensische Stadtviertel plattmachen. Doch das Problem an diesem Argument ist: Es beruht auf einer glatten Unwahrheit. In Deutschland gibt es regelmäßig Proteste – und zwar ziemlich große – gegen die Verbrechen des türkischen Staates an Kurden und Jesiden, in denen die gesellschaftliche Linke und auch viele der Gruppen, die jetzt für einen Waffenstillstand in Gaza mobilisieren, eine sichtbare Rolle spielen. Dies gilt wohl noch mehr für die Proteste gegen das Regime in Teheran.
Putins Einmarsch in der Ukraine, der in Berlin und anderen deutschen Städten Hunderttausende auf die Straße brachte, hat zumindest Teile der Linken in einer Weise gespalten, wie es in den oben genannten Konflikten nicht der Fall war, aber auch hier muss man nicht lange suchen, um Palästina-Unterstützer zu finden, die den Krieg in der Ukraine ebenfalls verurteilten und dagegen protestierten.
Doch so frustrierend diese Art der Ablenkung auch sein mag, sie sollte nicht überraschen. Je schlimmer der Krieg in Gaza wird, desto verzweifelter werden seine öffentlichen Befürworter. Viel aufschlussreicher ist, was dies über das Verständnis von politischem Protest in unserer Zeit aussagt: nämlich als individueller Ausdruck moralischer Empörung und als Versuch, Zeugnis von Ungerechtigkeit abzulegen, jedoch ohne den Anspruch, diese Ungerechtigkeit auch zu beenden.
Jeder hat das Recht – und wohl auch die moralische Pflicht – gegen jedes Kriegsverbrechen zu protestieren, vor allem, wenn er in einer parlamentarischen Demokratie lebt, in der solche Rechte mehr oder weniger respektiert werden. Aber damit ein Protest überhaupt eine Chance hat, Veränderungen zu bewirken, muss er in einem Kontext stattfinden, in dem der Adressat zumindest formell gegenüber den Protestierenden rechenschaftspflichtig ist. Dies ist bei den Handlungen von Staaten, die nicht mit Deutschland verbündet oder ihm sogar offen feindlich gesinnt sind, schlicht nicht der Fall.
»In der politischen Malaise, in der sich die Linke in den letzten drei oder vier Jahrzehnten befindet, verkommt Protest für viele zu einer Art ritualisierter Performance.«
Bei Israel ist das bekanntlich anders. Deutschland ist einer der engsten Verbündeten Israels auf der Weltbühne. Diese Beziehung kommt nicht nur in der Art und Weise zum Ausdruck, wie die deutsche Regierung Israels Handlungen in den letzten sieben Kriegsmonaten aggressiv verteidigt hat, sondern auch in der materiellen Unterstützung dieses Krieges: Nach Angaben des Stockholm International Peace Research Institute kamen 30 Prozent der im Jahr 2023 an Israel verkauften Waffen aus der Bundesrepublik. Der größte Lieferant waren die USA mit 69 Prozent, an dritter Stelle lag Italien mit 0,9 Prozent. Damit hat der deutsche Staat – und damit auch seine Bürgerinnen und Bürger – einen sehr realen Anteil an dem Krieg, den seine Regierung offen billigt und mit Waffenlieferungen zumindest indirekt ermöglicht.
Dies erklärt – viel mehr als vermeintlich antisemitische Projektionen – warum der Krieg in Gaza momentan mehr Aufmerksamkeit erhält als andere. Proteste werden den Konflikt nicht morgen beenden, aber sie können dazu beitragen, Druck auf die Bundes- und damit auf die israelische Regierung aufzubauen, einem Waffenstillstand zuzustimmen und das Töten zu beenden – Druck, den der deutsche Staat nicht auf Regierungen ausüben kann, die nicht auf seine Waffenlieferungen angewiesen sind, um ihre Kriege zu führen. Dass antisemitische Denkmuster dennoch bei den Mobilisierungen auftauchen, ist dadurch nicht ausgeschlossen, aber auch dies soll nicht überraschen: Antisemitismus reicht bis tief in unsere Gesellschaften hinein. Dennoch ist anzunehmen, dass er unter Israels glühenden Unterstützern in der AfD oder in Marine Le Pens Rassemblement National viel häufiger auftritt.
In der politischen Malaise, in der sich die Linke in den letzten drei oder vier Jahrzehnten befindet, verkommt Protest für viele zu einer Art ritualisierter Performance. Er bietet uns psychologische Beruhigung und gibt uns das Gefühl, etwas gegen Zustände zu tun, gegen die wir in Wirklichkeit nichts ausrichten können. Dies gilt insbesondere in einer Weltstadt wie Berlin, wo es im Durchschnitt über 5.000 Demonstrationen pro Jahr gibt, von denen sich viele gegen Probleme in Teilen der Welt richten, auf die die Bundesregierung wenig Einfluss hat.
Es ist nichts falsch daran, zu protestieren – es ist unser Recht als Bürgerinnen und Bürger und eines, das die Linke verteidigen sollte, jetzt mehr denn je. Aber zu unterstellen, dass nur diejenigen, die gegen jeden Krieg zu jeder Zeit protestieren, die moralische Glaubwürdigkeit haben, gegen diesen zu protestieren, ist scheinheilig und politisch schlicht verkehrt. Da, wo der eigene Staat eine Mitverantwortung trägt, ist öffentlicher Protest besonders wichtig und kann von strategischer Bedeutung sein.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.