10. Juni 2025
Die zwölf Aktivisten, die versuchten, die israelische Blockade zu durchbrechen, befinden sich in israelischem Gewahrsam und warten darauf, ausgewiesen zu werden. Doch auch wenn sie die Küste nicht erreicht haben, haben sie es geschafft, dass alle Augen wieder auf Gaza gerichtet sind.
Ein propalästinensischer Demonstrant hält ein Schild mit der Aufschrift »Send More Boats« hoch vor dem Außenministerium in London, 9. Juni 2025.
Hunderttausende blickten in der Nacht von Sonntag auf Montag gebannt auf ihre Bildschirme, beobachteten live, wie Israels Militär ein erneutes Kriegsverbrechen beging, als sie die Freedom Flotilla nachts in internationalen Gewässern abfingen. An Bord des Schiffes befinden sich zwölf Aktivistinnen und Aktivisten aus Ländern wie Brasilien, Spanien oder Frankreich. Sie hatten ursprünglich vor, Medizin und Lebensmittel nach Gaza zu bringen. Dass das Schiff »nur« abgefangen wurde, ist angesichts anderer Optionen, die in den Tagen davor im Raum standen, fast eine Erleichterung. Politische Vertreter Israels riefen zuvor zur Bombardierung des Segelbootes auf.
Westliche Pässe und bekannte Namen schützten die Flotilla vermutlich vor dem Schicksal der Mavi Marmara 2010. Damals versuchten Aktivistinnen und Aktivisten ebenfalls, die Seeblockade zu durchbrechen und Hilfsgüter nach Gaza zu transportieren. Um das Schiff daran zu hindern, tötete Israel neun Menschen an Bord. In der deutschsprachigen Presse gibt es wenig Positives über die Freedom Flotilla zu lesen: Die Fahrt folge einem »verlogenen Drehbuch«, es werde »mit der Not PR« gemacht und die Ladung sei »weniger als ein Tropfen auf den heißen Stein«.
Deutsche Medien setzen damit ihre Strategie der Ablenkung von Gaza und Israels Völkermord, dem eigentlichen Grund für die Existenz der Flotilla und der Diskussion über sie, fort. Aber gleichzeitig lenken sich auch von dem Erfolg der Mission ab: Denn die Flotilla hat bewiesen, dass Gaza gar nicht so unerreichbar ist.
Du magst die Aktivisten nicht? Du findest, dass die Crew sich nur selbst in den Mittelpunkt stellen wollte? Du glaubst, dass die Hilfsgüter vielleicht nur einer Handvoll Menschen geholfen hätten, na dann lohnt es sich ja gar nicht? Dann mach es doch anders. Gaza liegt nur auf der anderen Seite des Meeres. Und allein, dass sie das gezeigt hat, macht die Freedom Flotilla zu einem Erfolg.
Es ist eine friedliche und radikale Kampfansage. Zuallererst an unsere Regierungen, weil die Aktivistinnen und Aktivisten ihnen zeigten, dass nicht länger auf ihr Einschreiten gewartet wird, sondern ihre eigenen Staatsbürger sie und ihr Bündnis mit Israel herausfordern werden. Es ist eine Kampfansage an unsere Medien, weil die Kommentarspalten unter ihren Beiträgen deutlich machen, dass wir kritisch hinterfragen, wenn etablierte Medienhäuser Informationen nicht oder unvollständig liefern. Wir brauchen keine Tagesschau, keinen Spiegel und keine Taz, um über Livestream das Geschehen auf der Freedom Flotilla zu beobachten. Und es ist eine Kampfansage an die Menschen dieser Welt, weil die Flotilla uns den Spiegel vorhält. Sie zeigt, was möglich wäre, wenn wir nur wollen, wenn wir uns nur organisieren würden. Die Flotilla hat uns gezeigt, wie wir unsere Freiheit nutzen könnten.
»Staaten und Regime haben schon immer Unterdrückungsstrategien voneinander gelernt – ebenso wie Widerstandsgruppen und Aktivistinnen und Aktivisten.«
Das illegale Abfangen durch Israel schmälert diesen Erfolg in keinster Weise. Im Gegenteil: Es ist ein Geständnis. Eine Nuklearmacht, die vor einem Monat bereits ein Boot bombardierte, das die Blockade zu durchbrechen versuchte, fängt nachts und in internationalen Gewässern ein humanitäres Rettungsboot ab. Israel nahm lieber in Kauf, dass Hunderttausende das Kriegsverbrechen per Livestream beobachten konnten, als das Boot in Gaza ankommen zu lassen und Menschenleben zu retten.
Doch die Flotilla rückte nicht nur die völkerrechtswidrige Blockade Gazas durch Israel in den Fokus. Völlig ungeplant und trotzdem nicht überraschend rettete die Crew vier Geflüchtete, die aus Angst vor der libyschen Küstenwache ins Meer sprangen. Damit rückten sie einmal mehr die menschenfeindliche und tödliche EU-Grenzpolitik ins Rampenlicht. Die Freedom Flotilla und ihre globale Unterstützung ist damit Symbol für Zivilgesellschaften weltweit, die bereit sind, Dinge selbst in die Hand zu nehmen und gegen die tödlichen Regime und Systeme ihrer eigenen Staaten aufzustehen und die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Unterdrückungssystemen zu erkennen.
Deutlich wird das auch bei den Solidaritätsbekundungen nach und aus Los Angeles, wo sich Menschen gerade kollektiv gegen die US-Grenzschutzbehörde ICE mobilisieren. Dass die USA und Israel bei der Ausbildung ihrer Polizeikräfte zusammenarbeiten sowie Überwachungstechniken und Grenzsysteme austauschen ist nicht neu. Staaten und Regime haben schon immer Unterdrückungsstrategien voneinander gelernt – ebenso wie Widerstandsgruppen und Aktivistinnen und Aktivisten. Was neu ist, ist das wachsende Bewusstsein in westlichen Gesellschaften für diese Verbindungen und die Notwendigkeit für ein universelles Aufbegehren gegen Besatzungen und Überwachungen weltweit.
Judith Scheytt ist Medienkritikerin und Aktivistin. Sie veröffentlicht auf Instagram regelmäßig Einordnungen und Analysen.