19. März 2025
Die drohende Massenvertreibung der palästinensischen Bevölkerung wird für beide Seiten verheerende Folgen haben und eine neue Spirale der Gewalt auslösen, warnt der israelische Historiker Gadi Algazi. Ein Gastbeitrag.
Mann vor den Trümmern seines Wohnhauses in Deir al-Balah, 15. Januar 2025.
Ich schrieb diesen Text mit einem Gefühl der Dringlichkeit. Dieses Gefühl hängt mit dem Wissen zusammen, dass die Pläne für eine Massenvertreibung von Palästinensern aus dem Gazastreifen keineswegs vom Tisch sind. Es werden Vorbereitungen getroffen, um die offensichtlichen Hindernisse zu überwinden. Ich kann nicht vorhersagen, ob das israelische Militär und seine Verbündeten im Weißen Haus in der Lage sein werden, dies durchzuziehen, aber die Gefahr ist real genug. Es ist naiv, diese Pläne als unverantwortliche Äußerungen abzutun oder zu glauben, dass die Befürworter des Transfers in Israel ihren Plan aufgegeben haben seit Trumps Aufmerksamkeit auf andere aggressive Maßnahmen gelenkt wurde. Selbst ein Teilerfolg würde einen verhängnisvollen Präzedenzfall schaffen und die Bedingungen, unter denen die Palästina-Frage behandelt wird, grundlegend verändern (die letzten Massenvertreibungen fanden 1967–1968 und, in kleinerem Maßstab, zwischen 1971 und 1973 statt). Und es ist eine Ironie oder besser gesagt eine Tragödie, dass wir uns diesem Moment nähern, während viele Menschen glauben oder glauben wollen, dass der Krieg fast vorbei ist, und gleichzeitig Solidaritätsbekundungen in Israel, den USA und in Europa rigoros unterdrückt werden.
Der Kern der Sache ist die Gegenseitigkeit. Es gibt positive Gegenseitigkeit, wenn Menschen sich gegenseitig Gefallen tun, und es gibt negative Gegenseitigkeit, wenn sie Schläge austauschen. Dies ist ein grundlegender sozialer Mechanismus, dessen uralte Regel lautet: »Was dir verhasst ist, das tue deinem Nächsten nicht an.«
Man musste kein großer Denker gewesen sein, um zu verstehen, dass die Misshandlung, das Aushungern und die Folterung palästinensischer Gefangener das Leben der israelischen Geiseln und Gefangenen gefährden würden. Dies ist sogar in »normalen« Kriegen der Fall, wenn das Wohlergehen der Kriegsgefangenen der einen Seite mit dem Wohlergehen der anderen Seite verbunden ist. Umso mehr ist dies der Fall in einem Krieg, der mit einem Kriegsverbrechen begann – der Entführung ziviler Geiseln nach jahrzehntelanger Unterdrückung und Misshandlung der Zivilbevölkerung in Gaza.
Sagen Sie nicht, dass es nur der ehemalige Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir war, denn das gesamte israelische Verteidigungsestablishment war an der Misshandlung von palästinensischen Gefangenen in Gefängnissen und Internierungslagern beteiligt. Diejenigen, die gleich zu Beginn des Krieges auf die Straße gingen, um einen Austausch von Geiseln gegen Gefangene zu fordern, haben dies von Anfang an verstanden.
Wie kommt es dann, dass Menschen, die sicherlich diese einfache Rechnung hätten machen können – dass die zunehmende Misshandlung der Palästinenser die israelischen Geiseln gefährdete – dies nicht taten?
Vielleicht liegt es daran, dass sich in Israel seit Jahrzehnten eine Denkweise durchgesetzt hat, die das Prinzip der Gegenseitigkeit in sozialen und politischen Beziehungen völlig negiert: »Ein Volk, das allein wohnt.« In Israel kann man nach Herzenslust essen, während die Menschen im Gazastreifen auf der anderen Seite des Zauns mit den ihnen zugewiesenen Nudelrationen auskommen müssen und mit nichts anderem. In Israel gibt es Strom und fließendes Wasser; in Gaza beten die Eltern, dass sie den Winter ohne Strom und Trinkwasser überstehen können. In Israel leben wir in relativer Sicherheit, während die Menschen auf der anderen Seite des Zauns in Angst vor Bombenanschlägen und nächtlichen Überfällen leben.
»Die vorherrschende Reaktion in der israelischen Öffentlichkeit ist eine immense Sehnsucht nach der Wiederherstellung der Illusion von Immunität.«
Die Verleugnung der negativen Reziprozität führte zu der grandiosen Illusion, dass wir die andere Seite hart treffen könnten, ohne dafür zu bezahlen, und dass wir unermessliches Leid zufügen könnten, ohne dass dies Konsequenzen haben werde. Besatzung Deluxe, eine Politik des Unilateralismus. Wir bleiben immun, sie sind verwundbar.
Die gefährlichste Illusion der Herren ist es zu glauben, dass sie nicht von ihren Dienern abhängig sind und dass ihre Diener keine Menschen sind wie sie selbst. Ja, die Besatzung hat uns, wie Jeschajahu Leibowitz vor vielen Jahren sagte, in eine Nation von Herren verwandelt. Herrschaft hat ihren Preis.
Der Krieg hat einen Riss in dieses Gefühl der Immunität und Überlegenheit geschlagen. War es realistisch zu erwarten, dass wir nach dem schrecklichen Schock das Superioritätsgefühl abschütteln und die Gegenseitigkeit als Grundbedingung des Lebens anerkennen würden, im Guten wie im Schlechten? Ich bin mir nicht sicher. Die Kriegsverbrechen des 7. Oktobers haben Angst in die Herzen der Menschen gesät, und der Schock kann Menschen um den Verstand bringen. Aber hier geht es nicht nur um einen Schock. Es geht um ein tief verwurzeltes Muster: Die vorherrschende Reaktion in der israelischen Öffentlichkeit war und ist eine immense Sehnsucht nach der Erneuerung ihrer Herrschaft und der Wiederherstellung der Illusion von Immunität.
Während des Krieges gab es Momente, in denen die schreckliche, schmerzhafte Wechselseitigkeit der Schicksale der Menschen auf beiden Seiten für kurze Zeit ins Bewusstsein drang. Einige erkannten zum Beispiel den Zusammenhang zwischen der Vertreibung der israelischen Bewohner des Obergaliläa und der wiederholten Vertreibung der Bewohner des Südlibanon. Schließlich wurden seit Ende der 1970er Jahre Hunderttausende von Libanesen immer wieder aus ihrer Heimat vertrieben und kehrten teilweise erst nach vielen Jahren zurück. Es gibt auch eine Verbindung zwischen dem Leben in Gaza und dem Leben in Sderot. Es hätte eine Verbindung der Partnerschaft, der positiven Gegenseitigkeit sein können, aber seit Jahrzehnten sind sie durch das gegenseitige Leiden verbunden.
Es stimmt, es gibt keine Symmetrie: Jeder Angriff auf die Zivilbevölkerung – Bombardierung und Entführung, Tötung und Verletzung, Verhungern und Vertreibung – ist grundsätzlich verboten. Aber Israels Fähigkeit, Leid zuzufügen – ganze Städte zu zerstören, Hunderttausende in die Flucht zu zwingen, zu töten, auszuhungern und zu vertreiben – ist weitaus größer als die Fähigkeit der bewaffneten palästinensischen und libanesischen Organisationen. In Israel galt schon immer die Faustregel, dass der Preis, den es fordert, unermesslich höher sein muss als das Leid und der Schmerz, den die andere Seite verursacht.
»Doch der Gegenschlag war, wie sich schnell herausstellte, nicht nur eine weitere Runde Blutvergießen, sondern etwas völlig anderes: ein Krieg, der darauf abzielt, den Gegner zu eliminieren.«
So war nach dem 7. Oktober unter den Israelis die Erwartung weit verbreitet, dass die Dominanz und Superiorität durch Rache wiederhergestellt werden, die als Ausdruck von Gegenseitigkeit getarnt ist: »Was sie uns angetan haben, werden wir ihnen auch antun.« Die Politiker schürten dieses Gefühl, und die Generäle ritten darauf in die Schlacht und rechtfertigten damit wahllose Bombardierungen. Doch der Gegenschlag war, wie sich schnell herausstellte, nicht nur eine weitere Runde Blutvergießen, sondern etwas völlig anderes: ein Krieg, der darauf abzielt, den Gegner zu eliminieren und aus dem Kreislauf der Gegenseitigkeit – wie schrecklich er auch sein mag – auszubrechen, hin zu einem neuen Horizont der Vertreibung und Zerstörung.
Dieser Krieg wird von einer schrecklichen Mischung aus der Logik der gegenseitigen Vergeltung und der Fantasie angetrieben, »den letzten Schlag« zu führen, der aller Gegenseitigkeit ein Ende setzt. Das ist die Vision: Rauch, der von zerstörten Gebäuden und zerstörten Städten aufsteigt, und Stille von Horizont zu Horizont. Die Stille eines Friedhofs. In der Tat: »Ein Volk, das allein wohnt.« Deshalb findet dieser Krieg kein Ende.
»Wir waren nicht immun und werden auch nie immun sein. Wir bleiben zerbrechlich, menschlich. Jeder Einzelne von uns wird den Preis dafür zahlen müssen, vor allem die Wehrlosen, die Schwachen und die Armen.«
Es gibt kein Entrinnen aus der Gegenseitigkeit, auch nicht zwischen ungleichen Parteien. Jeder, der versucht, ihr zu entkommen, würde das Gewebe des menschlichen Lebens zerreißen. Und als ob das noch nicht genug wäre, befördert ein Krieg, der von dieser explosiven Mischung angetrieben wird, diejenigen in Führungspositionen, die wirklich glauben, dass es möglich ist, die Bande der Menschheit zu zerreißen – die Anhänger messianischer Bewegungen und die Verrückten, die Anhänger des alten Gebots »zu zerstören, zu töten und auszurotten«. Aber die Palästinenser werden nicht verschwinden. Nicht in Israel, nicht in Gaza, nicht im Westjordanland und nicht im Exil. Und auch der Nahe Osten wird nicht verschwinden.
Die Verleugnung der Gegenseitigkeit bereitet uns auf die nächste Katastrophe, den nächsten Racheakt und einen weiteren Schritt im Kreislauf des Todes vor, denn unser aller Leben hängt voneinander ab und ist miteinander verknüpft. Wer sagt, »es gibt keine Unschuldigen in Gaza«, muss verstehen, dass seine Worte diejenigen rechtfertigen, die sagen, »es gibt keine Unschuldigen in Israel«. Und ich bestehe darauf, dass es sie gibt. Wer auch immer gesagt hat, dass es in Gaza keine unbeteiligten Zivilisten gibt, kann gerne darüber nachdenken, wie die Annahme des Grundsatzes, dass es keine Unschuldigen gibt, schreckliche Folgen für das Wohlergehen vieler Menschen in Israel haben kann. Und wer sagt, dass die Verbrechen der Palästinenser jede Maßnahme rechtfertigen, vergisst (oder kennt vielleicht nicht) die Verbrechen, die der Staat Israel auf Geheiß von in relativ freien Wahlen gewählten Regierungen begangen hat.
Nichts kann die Reziprozität aufheben. Wenn wir keine positive Gegenseitigkeit schaffen, werden wir in einem blutigen Kreislauf der negativen Gegenseitigkeit gefangen bleiben. Die Besetzten und Enteigneten sind vielleicht nicht in der Lage, sich gegen die Übermacht einer Armee zu wehren, die bereits auf die neuen Weltuntergangsbomben wartet, die die in Gaza bereits getesteten ersetzen sollen. Wir sollten uns jedoch daran erinnern, was Experten zu Beginn dieses Krieges sagten: Ein erheblicher Teil der Munition der Hamas wurde aus Resten israelischer Munition hergestellt, aus Bomben, die auf Gaza abgeworfen worden waren und nicht detoniert sind.
Wichtiger noch: Ein Vernichtungskrieg sät tödlichen Hass. Wir, die Bürger des Staates der Herren, waren nicht immun und werden auch nie immun sein. Wir bleiben zerbrechlich, menschlich. Jeder Einzelne von uns wird den Preis dafür zahlen müssen, vor allem die Wehrlosen, die Schwachen und die Armen. »Denn sie haben den Wind gesät, und sie werden den Sturm ernten.«
Dieser Artikel ist in leicht geänderter Fassung zuerst in der Zeitung »Haaretz« erschienen.
Gadi Algazi ist ein israelischer Historiker und Bürgerrechtler. Er lehrt als Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Tel Aviv.