22. November 2023
Während sie sich um ihre Familien in Gaza und im Westjordanland sorgen, fühlen sich viele Palästinenserinnen und Palästinenser in Deutschland von Politik und Medien im Stich gelassen.
Palästinenser protestieren auf den Strassen Berlins, 21. Oktober 2023.
Jeremy KnowlesDer schreckliche Angriff der Hamas am 7. Oktober, der mehr als 1.200 Menschen das Leben kostete, und bei dem mehr als 250 Israelis entführt wurden, hat vieles verändert. Seitdem herrscht in Israel und Palästina ein weiterer blutiger Krieg. Jeden Tag sterben in Gaza Babys und Rentner nebeneinander, denn die israelischen Bomben töten vor allem die Zivilbevölkerung. Und auch die israelische Bevölkerung hat Angst – vor einer Wiederholung der Gewalt, wie auch vor den Raketen der Hamas. In Gaza mangelt es aufgrund der Blockade Israels inzwischen an allem: Wasser, Lebensmittel, Medizin und Treibstoff, um die Generatoren zu betreiben, mit denen auch die Krankenhäuser am Laufen gehalten wurden. Inzwischen sind die meisten Generatoren aus und mit ihrem Ende stirbt die Hoffnung vieler Menschen auf ein Überleben noch weiter.
Die Sorge um das Überleben der Menschen in Gaza, im Westjordanland, wo die Siedler immer brutaler agieren, und in Israel ist für mich keine abstrakte Sorge um Menschen, die ich nicht kenne, es ist die Sorge eines Menschen mit palästinensischen Wurzeln und israelischem Pass. Es ist die Sorge um Familie und Freunde, eine Sorge, die sich leider immer wieder bestätigt. Für viele Palästinenserinnen und Palästinenser bedeutet ein Blick in die Nachrichten aktuell traurige Gewissheit darüber zu erhalten, wieder ein Mitglied der eigenen Familie verloren zu haben – in einem Krieg, gegen den man in Deutschland viel zu wenig tun kann. Und mehr noch: in einem Krieg, der von der Regierung unterstützt wird, während meine und unsere Sorgen als Palästinenserinnen und Palästinenser in diesem Land ignoriert und beiseite gewischt werden.
Deutschland ist meine Heimat, das Land, in dem ich geboren bin, in dem ich mein ganzes Leben verbracht habe, in dem ich aufwuchs, zur Schule ging, studierte und arbeite. Während die Politik, vollkommen richtigerweise, ihr Mitgefühl und ihre Trauer für die am 7. Oktober getöteten Israelis offenbarte, kommen den meisten Politikerinnen und Politikern keine Worte der Empathie für die leidenden Menschen in Gaza über die Lippen. Deutlich zeigen das die Reden des Bundeskanzlers Olaf Scholz, der voller Empathie über die Getöteten in Israel spricht, bei Gaza aber darauf beharrt, dass Israel im Sinne des Völkerrechts agiert. Für getötete Palästinenser hat er wenig Worte übrig. Diese Empathielosigkeit fand ihren bildlichsten Ausdruck in dem Austreten der Kerzen für verstorbene Palästinenser in der zweiten Woche nach dem Angriff der Hamas in Berlin-Neukölln.
Die Konsequenz dieser einseitigen deutschen Anteilnahme ist die Unterstützung der israelischen Bombardierungen und die Ablehnung eines Waffenstillstands, der vielen Menschen das Leben gerettet hätte und es noch immer tun würde. Begründet wird diese Politik mit Verweis auf die Sicherheitsinteressen Israels. Dabei ist es in weiten Teilen der Welt Konsens, dass Israel nur dann sicher ist, wenn es eine langfristige Friedenslösung gibt, die Israelis und Palästinensern ein Leben in Würde, Frieden und Sicherheit gewährleistet. In Deutschland dagegen wird die Frage nach Sicherheit genauso beantwortet wie von der rechten Netanyahu-Regierung: Sie entsteht durch militärischen Sieg.
»Die Folge dieser Einseitigkeit in Politik, Medien und Sozialen Netzwerken ist ein Gefühl der Einsamkeit, das fast alle Palästinenserinnen und Palästinenser in Deutschland aktuell verspüren.«
Doch die Geschichte des Nahen Ostens, wie auch der Konfliktforschung insgesamt verdeutlicht, dass ein militärischer Sieg keine langfristige Sicherheit bieten wird. Denn jede Bombe, die auf Gaza fällt, schafft einen weiteren Nährboden für gewaltvolle statt friedliche Alternativen. Die israelische Friedensbewegung hat das schon lange erkannt und fordert die Welt auf, sich für einen Waffenstillstand und eine gerechte Lösung für beide Völker einzusetzen. Teilen der Regierung Netanyahus schwebt hingegen die Besetzung Gazas und die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung als Lösung vor. Verdeutlicht wird dies durch die wiederholten Vorstöße von Politikern aller Parteien der israelischen Regierung, die fordern die Palästinenser sollten von anderen arabischen Ländern aufgenommen werden und dort langfristig bleiben, wie es erst vor Kurzem die Minister Smotrich und Gamliel vorschlugen.
Statt das in Deutschland zu reflektieren, wird die Position der israelischen rechten Regierung unkritisch übernommen. Das geht einher mit einer bewussten Abkehr der deutschen Politik von palästinensischstämmigen Menschen in Deutschland. Es werden etliche Forderungen an uns gestellt oder wir werden direkt zu Sympathisanten der Hamas erklärt. Besuche bei palästinensischen Organisationen, Vereinen oder Familien in Deutschland durch führende Politikerinnen und Politiker bleiben dagegen aus, denn diese würden ihre harten Worte mit unserer traurigen Realität konfrontieren. Dabei gelingen diese Besuche in fast allen Ländern dieser Welt – selbst in den USA, wo sich Mitglieder der Biden-Regierung nicht nur mit israelischen Organisationen, sondern auch mit palästinensischen getroffen haben.
Die Einseitigkeit in der Politik geht einher mit tausenden Hasskommentaren in den sozialen Netzwerken. Menschen ohne jeden Bezug zum Nahen Osten wünschen sich die Zerstörung Gazas, die Vertreibung aller Palästinenser oder gar ihre Ermordung. Jeder dieser Kommentare gleicht einem kleinen Stich ins Herz, denn sie nähren die Angst, dass man nicht nur möglicherweise im Nahen Osten keine Heimat mehr hat, sondern auch in Deutschland zum Fremden wird. Gepaart sind Äußerungen in den Sozialen Medien und in der Politik nicht nur mit mangelnder Empathie und Befürwortung von Gewalt, sondern erschreckend oft auch mit antimuslimischen und antipalästinensischem Rassismus.
Es sind nicht nur die Debatten in sozialen Medien, die Trauer aufkommen lassen, es sind auch die Talkshows, Nachrichtensendungen und Zeitungsartikel in deutschen Medien, in denen Empathie für Palästinenserinnen und Palästinenser meist ebenso fehlt wie unsere Repräsentation. Der fehlende Raum für palästinensische Stimmen in der deutschen Öffentlichkeit ist, wie auch die fehlende Empathie, ein weltweit nahezu einmaliges Phänomen. Selbst in britischen und US-amerikanischen Medien gibt es kritische Debatten, zu denen nicht nur Mitglieder der israelischen Friedensbewegung eingeladen werden, sondern auch palästinensische Aktivistinnen und Aktivisten.
»Es sind insbesondere die Worte von jüdischen und israelischen Bekannten, Freundinnen und Freunden, die mich besonders berühren.«
Die Folge dieser Einseitigkeit in Politik, Medien und Sozialen Netzwerken ist ein Gefühl der Einsamkeit, das fast alle Palästinenserinnen und Palästinenser in Deutschland aktuell verspüren. Das resultiert nicht nur einem Vertrauensverlust in die Politik und Parteien, sondern auch in deutsche Medien. Aktuell gibt es kaum Palästinenserinnen und Palästinenser, die deutsche Medien konsumieren. Stattdessen schauen sie Al Jazeera oder Al Arabiya, lesen linksliberale israelische Zeitungen wie Haaretz oder informieren sich durch Videos und Bilder von Menschen, die live aus Gaza berichten – weil dort unsere Stimmen und unsere Perspektive zumindest gehört werden.
Der Empathielosigkeit von offizieller Seite und in sozialen Medien steht oftmals eine gegenteilige Erfahrung im Alltag gegenüber. Immer mehr Menschen artikulieren ihr Mitgefühl für Palästinenserinnen und Palästinensern und gehen auf die Straße gegen Krieg und Gewalt, für einen Waffenstillstand, für die Freilassung der Geiseln und der gefangenen palästinensischen Kinder genauso wie für ein Ende der Blockade Gazas. Deutlich wird dieses Mitgefühl nicht nur bei Menschen mit arabischen Wurzeln oder islamischer Religionszugehörigkeit, sondern auch bei Menschen ohne jegliche Migrationsgeschichte, die das Leid in Gaza nicht mehr schweigend mitansehen wollen.
Die besten Verbündeten und die größte Solidarität aber bekommen wir von jenen, die von diesem Krieg ebenso betroffen sind wie wir: progressive Israelis, Jüdinnen und Juden. Menschen, die ebenfalls Familie in der Region haben, die geschockt sind von der Gewalt des 7. Oktober und von den hohen Todeszahlen unter der palästinensischen Zivilbevölkerung. Denn während die Regierungen in der Region kaum Interesse an Frieden haben, so wissen viele von uns doch, dass Perspektiven für alle Menschen im Nahen Osten geschaffen werden müssen. Es braucht eine politische Lösung, die Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen schafft.
Es sind insbesondere die Worte von jüdischen und israelischen Bekannten, Freundinnen und Freunden, die mich besonders berühren. In einer Situation der Angst schafft es gegenseitiges Mitgefühl und Empathie zumindest ein wenig unsere Trauer zu lindern. Eine jüdische Freundin mit Familie in Israel schrieb mir vor wenigen Tagen: »Ich habe heute Nacht geträumt, du und ich würden zusammen vor einer Menschenmenge stehen, gegen Krieg und für Frieden. Das war ein schöner Gedanke!« Dieser Traum ist einer, der es verdient, zum Leben erweckt zu werden. Ich würde mir wünschen, ihn wahrzumachen – und dass deutsche Politikerinnen und Politiker genauso wie Medienschaffende dabei an unserer Seite stehen.
Jules El-Khatib ist Hochschuldozent und freier Autor zum Nahostkonflikt mit palästinensischen und deutschen Wurzeln.