25. Januar 2025
Das Gedenken an den Holocaust werde instrumentalisiert um eine einseitige, nationalistische Erinnungspolitik zu rechtfertigen, kritisiert der Historiker Enzo Traverso. Im Gespräch mit JACOBIN skizziert er, wie eine universalistische Erinnerungspolitik aussehen könnte.
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Nach über 15 Monaten hat der Krieg im Gazastreifen, der als Reaktion auf den Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 begann, zumindest eine erste Pause erreicht, der hoffentlich in den kommenden Monaten ein dauerhafter Waffenstillstand folgen wird. Das Ausmaß der Zerstörung in Gaza ist beispiellos: Laut einem aktuellen Bericht des britischen Guardian wurden fast 50.000 Gazaner – ungefähr 2 Prozent der Bevölkerung – getötet, über 100.000 weitere sind verwundet, viele mit schweren Verletzungen. Etwa 90 Prozent der Bevölkerung wurden vertrieben, und die meisten haben keinen Ort, an den sie zurückkehren können, da fast zwei Drittel der Gebäude beschädigt oder zerstört sind.
Seit Beginn des Krieges stechen zwei Länder besonders deutlich mit ihrer unerschütterlichen Unterstützung für Israel hervor: die USA, Israels ältester und größter finanzieller Unterstützer, und die Bundesrepublik Deutschland. Deutschlands Weigerung, seine militärische Unterstützung für ein Land einzustellen, das von vielen glaubwürdigen internationalen Beobachtern des Völkermords beschuldigt wird, hat Millionen Menschen im Land und weltweit dazu veranlasst, sich zu fragen, ob die deutsche Aufarbeitung seiner eigenen dunklen Vergangenheit so gründlich und bedeutsam war, wie bisher angenommen.
Enzo Traverso, ein Historiker der modernen und zeitgenössischen Geschichte Europas, ist bekannt für seine Forschung zu zentralen Themen wie Krieg, Faschismus, Völkermord, Revolution und kollektives Gedächtnis. Sein neuestes Werk Gaza im Auge der Geschichte untersucht den Krieg in Gaza als Schnittpunkt kolonialer Vermächtnisse und humanitärer Krisen. In dem Buch kritisiert er auch die Instrumentalisierung des Holocaust-Gedenkens – insbesondere durch Deutschland – und diskutiert dessen Wandel von einer universellen Lehre gegen Unterdrückung hin zu einer Erzählung, die zur Rechtfertigung eines aktuellen Völkermords genutzt wird. Mit JACOBIN spricht er über das Verhalten des deutschen Staates seit Beginn des Krieges in Gaza und über die Lehren, die er für die Entwicklung einer wirklich universalistischen und internationalistischen Erinnerungspolitik zieht.
Die deutsche Regierung betont häufig ihr Engagement für das Völkerrecht, erkennt jedoch selten Verstöße gegen das Völkerrecht gegenüber Palästinensern an, obwohl zahlreiche Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International darüber berichten. Wie erklären Sie diese Ambivalenz?
Die Reaktion der deutschen Regierung auf den Krieg und den Genozid in Gaza ist nicht völlig überraschend. Sie steht im Einklang mit den Erinnerungspolitiken, die Deutschland seit vielen Jahren verfolgt. In diesem Zusammenhang erweist sich die Gaza-Krise als aufschlussreicher Test, der eine besorgniserregende Verschiebung im Umgang mit der Holocaust-Erinnerung in Deutschland offenbart und die beispielhafte Arbeit untergräbt, die Deutschland über Jahrzehnte bei der Aufarbeitung seiner Vergangenheit geleistet hat. Ich sage dies nicht als distanzierter Beobachter, sondern als Italiener – als jemand aus einem Land, das es versäumt hat, seine faschistische und koloniale Vergangenheit vollständig anzuerkennen oder Verantwortung dafür zu übernehmen. Als Italiener habe ich oft nach Deutschland geblickt – nicht unbedingt als perfektes Modell, sondern als ein Land, das es geschafft hat, sich mit seiner eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, wie es meinem eigenen Land nicht gelungen ist.
Mitte der 1980er Jahre begann Deutschland einen schwierigen und schmerzhaften Prozess des Umdenkens seiner Vergangenheit. Für mindestens zwei Generationen wurde die Erinnerung an die Verbrechen der Nationalsozialisten zu einem Eckpfeiler des deutschen historischen Bewusstseins, und ich betrachtete dies als einen enormen Fortschritt. Deutschland schaffte es, sein Konzept von Staatsbürgerschaft neu zu definieren und von einer Identität, die rein auf ethnischen Wurzeln basierte, zu einer politischen Gemeinschaft überzugehen, die alle Bürgerinnen und Bürger einschließt, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft oder ihren Überzeugungen. Dieser bemerkenswerte Fortschritt wurde maßgeblich, wenn nicht sogar in erster Linie, durch die Arbeit an der Holocaust-Erinnerung ermöglicht.
»Ich glaube, dass das Nachkriegsdeutschland, wie viele andere europäische Länder, eine Erinnerung an den Holocaust und die Nazi-Verbrechen entwickelte, die oft die notwendige Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte vernachlässigte oder marginalisierte.«
Im Laufe der Zeit hat sich die Holocaust-Erinnerung in Deutschland jedoch schrittweise in eine Politik der bedingungslosen Unterstützung für Israel verwandelt. Was einst ein Beispiel für die Auseinandersetzung mit der Geschichte war, ist zu einem Rahmen geworden, der meiner Ansicht nach dazu beiträgt, kritische Perspektiven auszublenden. Dadurch werden Handlungen ermöglicht, die den Prinzipien von Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit, die diese Erinnerung eigentlich bewahren sollte, widersprechen. Das beklagenswerte Ergebnis dieses Prozesses ist, dass heute das Völkerrecht übertreten oder ignoriert werden kann, um Israel bedingungslos zu unterstützen.
Wann, denken Sie, hat dieser Wandel stattgefunden?
In vielerlei Hinsicht waren diese Prämissen bereits bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 präsent. Ich glaube, dieser Wandel vollzog sich schrittweise, da die Samen für einen solchen Wandel von Anfang an in der Holocaust-Erinnerung angelegt waren. Einige der darin enthaltenen Widersprüche lassen sich auf Momente wie Habermas' Kritik an Ernst Nolte zurückführen, wo er argumentierte, dass die Integration Deutschlands in den Westen durch die Erinnerung an Auschwitz erreicht wurde. Diese Ausrichtung der Holocaust-Erinnerung auf westliche Werte legte die Grundlage für Deutschlands unerschütterliche Unterstützung für Israel.
Diese Unterschiede waren in den 1950er Jahren, während der Diskussionen über die Wiedergutmachungsgesetze zur Entschädigung der jüdischen Opfer des Nazi-Regimes, nicht sehr offensichtlich, aber die zugrunde liegenden Prämissen waren bereits vorhanden. Im Moment des historischen Wendepunkts bestand die Konfrontation zwischen einem Deutschland, das versuchte, den Holocaust und die Nazi-Verbrechen als Eckpfeiler des deutschen historischen Bewusstseins anzuerkennen, und einem anderen Deutschland, das eindeutig einen apologetischen Ansatz zur Nazi-Vergangenheit favorisierte. In diesem Kontext wird klar, dass Habermas unterstützt werden muss, insbesondere gegen Nolte und den deutschen Revisionismus.
Viele Jahre lang schienen diese Gefahren relativ eingedämmt zu sein und im Vergleich zu den bedeutenden Fortschritten, die Deutschland bei der Förderung demokratischer Rechte gemacht hatte, als marginal. Jetzt jedoch befinden wir uns in einer paradoxen Situation. Deutschland, das sich zu einer multiethnischen, multikulturellen und multireligiösen Nation entwickelt hat, verlangt von allen seinen Bürgern, einschließlich denen mit postkolonialer und palästinensischer Herkunft, bedingungslose Unterstützung für Israel. Diese Entwicklung könnte als ein auffallend ironisches Ergebnis der früheren Ausrichtung der Holocaust-Erinnerung auf die westliche Identität gesehen werden.
Ende letzten Jahres äußerte Deutschland Zweifel daran, ob es den Haftbefehl des IStGH gegen Netanyahu vollstrecken würde, falls er das Land besuchen sollte. Wie spiegelt diese Zögerlichkeit die Spannung zwischen Deutschlands historischer Verantwortung für den Holocaust und seinem Engagement für das Völkerrecht wider?
Ich glaube, dass das Nachkriegsdeutschland, wie viele andere europäische Länder, eine Erinnerung an den Holocaust und die Nazi-Verbrechen entwickelte, die oft die notwendige Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte vernachlässigte oder marginalisierte. Der Fokus auf den Holocaust, obwohl wichtig, hat die Erinnerung an den Kolonialismus überschattet oder minimiert, wodurch eine Spannung entstand, die nach dem 7. Oktober deutlicher wurde. Diese »aporetische« Erinnerungspolitik ist die Grundlage dafür, die koloniale Dimension der israelischen Besatzung von Gaza und dem Westjordanland zu ignorieren. Im deutschen und westeuropäischen Diskurs wird Netanyahu als Vertreter der Juden als Opfer dargestellt. Daher sind Palästinenser kein enteignetes Volk, sondern eine neue Verkörperung des Antisemitismus. Dies ist das Argument hinter der deutschen Entscheidung (der andere westliche Führer folgten), den Haftbefehl des IStGH nicht umzusetzen.
Birgt das Ignorieren des Haftbefehls des IStGH ein Risiko für Reputationsschäden oder sogar rechtliche Konsequenzen für diese Länder, insbesondere angesichts des zunehmenden Drucks auf die Einhaltung des Völkerrechts?
Nun, ich bin kein Rechtsexperte, aber was ich sagen kann, ist, dass Deutschland nach den Vereinigten Staaten, die die Hauptfinanz- und Militärhilfe für Israel leisten, der zweitwichtigste militärische Unterstützer Israels ist. Ohne die Unterstützung der USA hätte Israel die Zerstörung in Gaza und das Töten von Zehntausenden von Palästinensern nicht durchführen können. Aber nach den USA spielt Deutschland eine entscheidende Rolle bei der Bereitstellung militärischer Unterstützung für Israel.
»Das Konzept der historischen Schuld ist wertvoll, wenn es kontextualisiert wird. Es gibt keine ewige, unveränderliche, transhistorische Schuld.«
Das bedeutet, dass Deutschland heute am Völkermord in Gaza mitschuldig ist, genauso wie Frankreich, Italien und das Vereinigte Königreich. Deutschlands Beteiligung ist jedoch besonders bedeutsam, sowohl in Bezug auf seine Rolle als auch auf sein symbolisches Gewicht. Aus der Sicht des Großteils der Weltbevölkerung bedeutet dies, dass die Erinnerung an den Holocaust zu einem politischen Werkzeug kolonialer Politik geworden ist: Während die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus erinnert werden müssen, kann palästinensisches Leben ausgelöscht werden.
Als italienischer Historiker, der in den Vereinigten Staaten lehrt, wie denken Sie, beeinflusst Deutschlands unerschütterliche Unterstützung für Israel, die durch seine »Staatsräson« geprägt ist, das internationale Image des Landes?
Zunächst einmal denke ich, dass das internationale Image Israels unwiderruflich verändert wurde. Für die öffentliche Meinung im sogenannten Globalen Süden hat Israel lange Zeit Unterdrückung, Kolonialismus und jetzt auch Völkermord symbolisiert. Dieses Bild hat sich auch im Westen gewandelt. Es gibt jetzt eine klare Diskrepanz zwischen der offiziellen Haltung des westlichen politischen Establishments und dem wachsenden öffentlichen Skeptizismus gegenüber der Politik der bedingungslosen Unterstützung Israels.
Deutschland hat auf eine gewisse Weise die Heuchelei seiner offiziellen Position anerkannt, indem es diese als eine Frage der »Staatsräson« darstellt. Der Begriff der Staatsräson ist hochgradig ambivalent. In meinem Essay habe ich ihre Genealogie von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart nachgezeichnet. Staatsräson offenbart einen Widerspruch im Rechtsstaat: Das Gesetz kann aufgrund einer übergeordneten Pflicht – der Staatsräson – hinterfragt, verweigert oder überschritten werden. In diesem Fall ist diese Pflicht die bedingungslose Verteidigung Israels, selbst wenn Israel offensichtlich Kriegsverbrechen oder Völkermord begeht. Die implizite Bedeutung: Ja, Israel begeht Kriegsverbrechen, unterdrückt die Palästinenser und verübt wahrscheinlich einen Völkermord, aber wir akzeptieren dies im Namen eines übergeordneten Staatsinteresses.
Welche Auswirkungen haben die Ereignisse der letzten anderthalb Jahre auf die Zukunft der Erinnerungspolitik, sowohl in Deutschland als auch allgemein?
Was heute in Gaza passiert, zwingt uns, unseren Ansatz der Erinnerungspolitik neu zu überdenken. Wir müssen ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen den verschiedenen Dimensionen des kollektiven Gedächtnisses formulieren. Das meinte ich vorhin. Wir müssen nicht nur die Erinnerung an den Faschismus, die Nazi-Verbrechen und den Holocaust einbeziehen, sondern auch die Erinnerung an Imperialismus und Kolonialismus, die ebenfalls kritische Aspekte der europäischen Vergangenheit sind. Wir können es uns nicht leisten, uns ausschließlich auf einen Aspekt des kollektiven Gedächtnisses zu konzentrieren und die anderen zu vernachlässigen.
Dies ist besonders wichtig, da die Europäische Union zu einem Raum der Immigration geworden ist. Millionen von Immigranten, die meisten von ihnen mit postkolonialer Herkunft, sind jetzt Teil Europas. Dies gilt für alle europäischen Länder, einschließlich Italien, das historisch ein Auswanderungsland war, aber auch seit Jahrzehnten ein Einwanderungsland ist. Unsere Erinnerungspolitiken waren in vielen Fällen einfach ein Korollar zur Rhetorik der Menschenrechte und dienten oft als Rechtfertigung für imperialistische und neokoloniale Politiken. Es ist Zeit, damit Schluss zu machen.
Muss das Konzept der »historischen Schuld« überdacht werden, da es oft zu Verallgemeinerungen und einem Mangel an Nuancen führt?
Das Konzept der historischen Schuld ist wertvoll, wenn es kontextualisiert wird. Es gibt keine ewige, unveränderliche, transhistorische Schuld.
Wir könnten auf die berühmte Debatte verweisen, die 1945 in Deutschland nach der Veröffentlichung von Karl Jaspers Essay Die Deutsche Schuldfrage stattgefunden hat. Jaspers unterschied zwischen verschiedenen Arten von Schuld: krimineller Schuld, politischer Schuld, moralischer Schuld und metaphysischer Schuld. Das Konzept der Schuld muss nuanciert, überdacht und neu definiert werden.
»Wir können den Palästinensern nicht sagen: Es tut uns leid, aber wir können nicht gegen die Gewalt und Unterdrückung, die ihr erleidet, handeln, weil dies der Vorwand sein könnte, um ein altes antisemitisches Stereotyp wiederzubeleben.«
Statt von historischer Schuld würde ich von historischer Verantwortung sprechen. Ich wurde mehr als 20 Jahre nach dem von italienischem Faschismus im Jahr 1935/36 verübten äthiopischen Völkermord geboren. Ich bin nicht schuld an diesem faschistischen Völkermord, aber ich denke, ich wäre schuldig, wenn ich als italienischer Staatsbürger die Vergangenheit meines Landes ignorieren und mich weigern würde, die historischen Verantwortlichkeiten, die damit verbunden sind, zu übernehmen. Als verantwortungsbewusster italienischer Staatsbürger kann ich die Verbrechen, die zur Geschichte meines Landes gehören, nicht ignorieren.
In diesem Sinne ist das Verhältnis zwischen Schuld und Verantwortung ein dialektisches. Es gibt eine historische Verantwortung, die verantwortungsbewusste Außenpolitiken leiten sollte. Eine verantwortungsbewusste Außenpolitik heute würde bedeuten, in erster Linie den Völkermord in Gaza zu stoppen.
Sie kritisieren die Gleichsetzung von Palästinensern mit Nationalsozialisten, ein häufiges Vorkommen in einigen Teilen des deutschen politischen und medialen Establishments, als historischen Revisionismus. Doch in Ihrem Buch erwähnen Sie, dass einige Aktionen der IDF Sie an die der SS erinnern. Sind solche Beschreibungen nicht kontraproduktiv und verstärken gerade den Knoten zwischen Erinnerung und Geschichte, den Sie zu entwirren versuchen?
Ich schreibe in meinem Buch, dass der Begriff des Völkermords ein juristischer Begriff ist. Es handelt sich um ein legalistisches Konzept. Ich betone auch, dass ich als Historiker manchmal viele Zweifel habe und Vorsicht walten lassen muss, bevor ich diesen Begriff verwende, da er nicht zu den Sozialwissenschaften oder zur historischen Forschung gehört.
Es gibt eine normative Definition von Völkermord, die eine legalistische, juristische Definition ist. Ich glaube, diese Definition entspricht perfekt der Situation in Gaza heute. Völkermorde sind jedoch nicht alle gleich oder austauschbar. Gaza ist nicht Auschwitz – in Bezug auf Maßstab, Motivation, Phänomenologie usw. – das ist offensichtlich und sehr klar. Viele Menschen (besonders in Deutschland) denken, dass das Sprechen vom Völkermord in Gaza bedeutet, den Holocaust zu »relativieren«. Das ist beschämend. Die Erinnerung an einen Völkermord zu beanspruchen, um einen anderen Völkermord zu rechtfertigen, ist moralisch und politisch inakzeptabel. Die Erinnerung an Auschwitz sollte mobilisiert werden, um neue Völkermorde zu verhindern, nicht um sie zu rechtfertigen.
Historische Vergleiche sind keine historischen Homologien; sie sind Analogien, die uns helfen, die Gegenwart zu interpretieren. Natürlich können die Bilder nicht nur der SS, sondern auch der Wehrmachtssoldaten, die während des Zweiten Weltkriegs an der Ostfront Verbrechen begingen, mit den Kriegsverbrechen verglichen werden, die heute von der IDF in Gaza und im Westjordanland begangen werden. Es gibt Hunderte von Videos, die israelische Soldaten zeigen, wie sie neben den Leichen palästinensischer Opfer oder beim gezielten Angriff auf Zivilisten lächeln. Diese Bilder erinnern an die Bilder des Krieges und der völkermörderischen Verbrechen, die von deutschen Soldaten während des Zweiten Weltkriegs begangen wurden, von italienischen Soldaten in Äthiopien, auf dem Balkan und in Griechenland sowie von der französischen Armee in Algerien in den späten fünfziger Jahren.
Ich glaube, dass diese Vergleiche die phänomenologischen Ähnlichkeiten, die in allen kolonialen und faschistischen imperialen Verbrechen bestehen, eindeutig hervorheben. Es ist entscheidend, diese Vergleiche zu ziehen, weil sie als Warnung dienen, und diese Warnung ist heilsam.
Einige könnten argumentieren, dass Ihre historischen Vergleiche anstößig sind, insbesondere angesichts der Betonung der Einzigartigkeit der Gräueltaten des Holocausts. Wie würden Sie auf Kritiker reagieren, die Ihre Vergleiche unangemessen oder problematisch finden?
Wir müssen hier ganz klar sein: Ich vergleiche Gaza nicht mit dem Holocaust. Ich behaupte nicht, dass das, was heute in Gaza passiert, eine Wiederholung des Holocausts ist. Ich sage einfach, dass das, was heute in Gaza passiert, ein Völkermord ist.
Der Holocaust war ein Völkermord. Die Vernichtung der Armenier war ein Völkermord. Auch die Vernichtung der Herero war ein Völkermord. Völkermorde können sich in ihrer Phänomenologie, den Mitteln der Zerstörung und den betroffenen Bevölkerungsgruppen stark unterscheiden. Natürlich müssen wir die Existenz antisemitischer Stereotype anerkennen, die behaupten, dass Juden sich immer als Opfer dargestellt haben und jetzt genau wie die Nazis handeln. Dies ist ein typisches antisemitisches sowie ein apologetisches Argument. Der Völkermord in Gaza zum Beispiel wird oft verwendet, um den Nationalsozialismus und die Verbrechen der Nazis zu trivialisieren. Wir müssen eine solche Demagogie ablehnen.
»Ich vergleiche Gaza nicht mit dem Holocaust. Ich behaupte nicht, dass das, was heute in Gaza passiert, eine Wiederholung des Holocausts ist. Ich sage einfach, dass das, was heute in Gaza passiert, ein Völkermord ist.«
Wir können jedoch den Völkermord in Gaza nicht zensieren oder übersehen, nur weil wir diese Art von Reaktion fürchten. Das ist inakzeptabel. Wir können den Palästinensern nicht sagen: Es tut uns leid, aber wir können nicht gegen die Gewalt und Unterdrückung, die ihr erleidet, handeln, weil dies der Vorwand sein könnte, um ein altes antisemitisches Stereotyp wiederzubeleben. Der Kampf gegen Antisemitismus ist nicht unvereinbar mit dem Kampf gegen die koloniale Unterdrückung Palästinas.
Israel ist Teil der internationalen Gemeinschaft und muss nach den gleichen politischen und rechtlichen Kriterien beurteilt werden, die auf alle Staaten und Mitglieder dieser Gemeinschaft angewendet werden. Wenn wir dies nicht tun, riskieren wir, eine perverse Situation zu schaffen, in der Antisemitismus indirekt legitimiert wird. Wenn Europäer, insbesondere Deutsche, das Gefühl haben, ihre Pflicht sei es, Israel bedingungslos zu verteidigen, um Antisemitismus und Rassismus zu bekämpfen, könnte die Schlussfolgerung vieler Menschen sein, dass Antisemitismus gar nicht so schlimm ist. Wenn die Kritik an Israels Handlungen in Gaza als Antisemitismus bezeichnet wird, wäre die logische Konsequenz, dass man, um einen Völkermord zu stoppen, antisemitisch sein muss.
Die Prämisse hinter dem gesamten Diskurs, Israel bedingungslos zu unterstützen, unabhängig von den Umständen, ist völlig irrational. Dies ist das Ergebnis einer seltsamen Idee, die die ontologische Unschuld Israels postuliert. Früher erklärte ein antisemitisches Vorurteil, dass die Juden von Natur aus schädlich seien, nicht wegen ihres Verhaltens, sondern einfach wegen ihrer Existenz; heute gibt es einen ähnlich törichten und unverantwortlichen Diskurs, der vorgibt, dass die Juden von Natur aus unschuldig oder vorteilhaft sind: Sie sind Opfer und können keine Täter werden. Dies ist die umgekehrte Version eines alten obscurantistischen Vorurteils.
Sie argumentieren, dass die Palästinenser den Preis für Europas historische Schuld gegenüber den Juden zahlen. Wie wirkt sich diese Dynamik auf die moralische Stellung Europas heute aus, und was zeigt sie über die Kontinuität — oder das Versagen — seiner ethischen Verpflichtungen?
Ich habe mehrere Essays geschrieben, in denen ich versuche zu erklären, dass die relevanteste und beträchtlichste Form des Rassismus in Europa heute nicht mehr Antisemitismus ist, sondern vielmehr Islamophobie. In Italien kommt die Regierungschefin, Giorgia Meloni, aus einer postfaschistischen Bewegung. Bevor sie Premierministerin wurde, war sie stolz auf ihre politischen Wurzeln in dieser Tradition, die auch das faschistische Regime umfasst, das 1938 antisemitische Gesetze erließ. Ähnlich verhält es sich in Frankreich, wo Marine Le Pen ein antisemitisches politisches Erbe repräsentiert.
Heute jedoch fördern Bewegungen wie die rechtsextreme Alternative für Deutschland (AfD) keinen offenen Antisemitismus in ihrer offiziellen Rhetorik, und sie pflegen starke Beziehungen zu Israel. Gleichzeitig können wir den Anstieg der Islamophobie in der westlichen Welt nicht ignorieren, die sich gegen Flüchtlinge und Einwanderer richtet, insbesondere Muslime, und diese als Bedrohung für die »jüdisch-christliche« Identität Europas darstellt.
»Ein Kampf gegen Antisemitismus, der auf der Leugnung der Nakba und des palästinensischen Leidens basiert, ist sowohl unethisch als auch ineffektiv.«
Diese Veränderung in den Dynamiken des Rassismus bedeutet, dass Antisemitismus nicht mehr die Hauptform des Rassismus im heutigen Europa ist. Im 21. Jahrhundert wurde Rassismus neu konfiguriert, und ein ausschließliches Augenmerk auf Antisemitismus zu richten, birgt das Risiko, als Vorwand für die Rechtfertigung islamophober und rassistischer Politiken genutzt zu werden. Dies ist besonders offensichtlich in Deutschland, wo die AfD Israel vehement verteidigt und gleichzeitig anti-immigrantische und anti-muslimische Maßnahmen vorantreibt. Während Antisemitismus weiterhin bekämpft werden muss, ist es klar, dass der Kampf gegen ihn zunehmend instrumentalisiert wird.
Angesichts der Tatsache, dass der Gaza-Krieg Teil eines anhaltenden Konflikts ist, wie beeinflusst unsere derzeitige Wahrnehmung der Ereignisse die Erinnerungskultur der Zukunft?
Ein Waffenstillstand wurde genehmigt – eine vorübergehende Ruhepause, aber keineswegs eine dauerhafte oder friedliche Lösung. Dieser völkermörderische Krieg hat Israels globales Image irreparabel beschädigt und es von einer Nation, die einst als Antwort auf den Holocaust galt, in einen unterdrückenden, kolonialen Staat verwandelt, der an das Südafrika der Apartheid erinnert. Heute ist die palästinensische Sache zentral für alle, die sich für die Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichheit einsetzen, auch wenn diese Sache weder mit der Hamas noch mit der völlig diskreditierten Palästinensischen Autonomiebehörde gleichgesetzt werden kann.
In der deutschen Debatte steht der Holocaust aufgrund der historischen Verantwortung Deutschlands (und Österreichs) im Mittelpunkt der Erinnerungspolitik, während die Nakba – obwohl sie für Palästinenser zentral ist – weitgehend ignoriert wird. Diese Asymmetrie spiegelt sich auch in den Perspektiven wider, da Israelis den Holocaust und Palästinenser die Nakba erinnern, oft ohne die Erfahrungen der anderen Seite einzubeziehen. Wie könnte eine Erinnerungspolitik im deutschsprachigen Raum entwickelt werden, die diese historischen Erfahrungen miteinander verbindet, das Leid beider Seiten sichtbar macht und einen Dialog ermöglicht, ohne die jeweiligen Erfahrungen des Leids infrage zu stellen oder politische Spannungen zu verschärfen?
Deutschland ist für den Holocaust verantwortlich, nicht für die Nakba. Dies erklärt die von Ihnen genannte Asymmetrie und warum in den Nachkriegsjahren das historische Bewusstsein und das kollektive Gedächtnis der BRD um den Holocaust aufgebaut wurden. Heute hat sich jedoch der Kontext verändert. Einerseits, weil Deutschland zu einer multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft geworden ist, die viele Bürger mit postkolonialen oder sogar palästinensischen Ursprüngen umfasst; andererseits, weil Israel seine unterdrückerischen und genozidalen Politiken mit dem Holocaust und dem Kampf gegen Antisemitismus rechtfertigt. In einer solchen Situation ist diese Asymmetrie nicht mehr akzeptabel.
Es gibt keine Äquivalenz zwischen dem Holocaust und der Nakba, aber beide Tragödien sollten anerkannt und respektiert werden. Dies ist die notwendige Voraussetzung für eine fruchtbare Erinnerungspolitik, die Gleichheit und gegenseitiges Verständnis erfordert. Ein Kampf gegen Antisemitismus, der auf der Leugnung der Nakba und des palästinensischen Leidens basiert, ist sowohl unethisch als auch ineffektiv.
Enzo Traverso lehrt in Geschichtswissenschaften an der Cornell University. Sein neuestes Buch trägt den Titel Gaza im Auge der Geschichte.