01. Mai 2025
Gaza liegt in Schutt und Asche, aber die deutsche Regierung weigert sich weiterhin, über den Genozidverdacht gegenüber Israel auch nur ernsthaft nachzudenken. Das wird für Deutschland nicht ohne politische Folgen bleiben.
Palästinensische Kinder warten am 11. April 2025 in Khan Yunis auf Lebensmittel.
Inzwischen besteht kaum noch ein Zweifel: Nach anderthalb Jahren der exzessivsten Militäroffensive des 21. Jahrhunderts verdichten sich die Anzeichen, dass Israel in Gaza einen Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung begeht – mit deutscher Unterstützung. Und doch scheint der berühmte Satz des Philosophen Ludwig Wittgenstein »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« in diesem Zusammenhang ins Gegenteil verkehrt. In der deutschen Debatte über Gaza gilt: Wovon inzwischen sehr viele sprechen, darüber sollte man besser schweigen.
Zwar steht das Urteil des Internationalen Gerichtshofs (IGH) im Verfahren gegen Israel noch aus. Doch die Einschätzungen zahlreicher Menschenrechtsorganisationen und die Realität vor Ort zeichnen ein zunehmend eindeutiges Bild. Demnach erfüllt das militärische Vorgehen Israels in Gaza längst jene Kriterien, die der polnisch-jüdische Jurist und Holocaust-Überlebende Raphael Lemkin einst zur Definition des Verbrechens Völkermord formulierte: ein koordinierter Plan verschiedener Maßnahmen, der auf die Zerstörung der wesentlichen Lebensgrundlagen nationaler Gruppen abzielt. Inspiriert von dieser Definition verabschiedeten die Vereinten Nationen 1948 die Völkermord-Konvention – mit Bezug auf die Absicht, »eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten«.
Auf dieser Grundlage erklärte Amnesty International im Dezember 2024, Israel begehe in Gaza einen Völkermord. Kurz darauf sprach das European Center for Constitutional and Human Rights von einer »rechtlich fundierten Argumentation« für diesen Vorwurf. Auch Human Rights Watch legte einen Bericht vor, in dem insbesondere das vorsätzliche Vorenthalten von Wasser als völkermörderischer Akt gewertet wird. Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen und Forensic Architecture kamen in ihren Analysen zu ähnlichen Ergebnissen: Auch sie sprechen von Völkermord.
»In Gaza wurde nahezu jede Person zum ›legitimen‹ Ziel erklärt – auch israelische Geiseln in Gefangenschaft der Hamas.«
Menschenrechtsorganisationen vor Ort berichteten spätestens seit Oktober 2024 von Anzeichen ethnischer Säuberung in Gaza durch die israelische Armee – vor allem im Zusammenhang mit der Umsetzung des sogenannten »generals’ plan«. Dieser sah die Zwangsvertreibung der palästinensischen Bevölkerung nördlich des Netzarim-Korridors vor. In der Genozid-Forschung gilt als etabliert: Derartige Zwangsvertreibungen schaffen häufig erst die Bedingungen, unter denen die teilweise oder vollständige Zerstörung einer Bevölkerungsgruppe möglich wird.
Bedurfte es all dieser Berichte, um angesichts der Lage in Gaza die Alarmsignale ernst zu nehmen? Eigentlich nicht. Bereits im Januar 2024 ließ der IGH mit einer Mehrheit von vierzehn zu zwei erkennen, dass ein Anfangsverdacht auf Völkermord besteht. Zu diesem Zeitpunkt hatten renommierte Genozid-Forscher wie Raz Segal, Omer Bartov, Nadera Shalhoub-Kevorkian und Amos Goldberg bereits vor einem Völkermord in Gaza gewarnt.
Der IGH forderte Israel damals zu Maßnahmen im Sinne der UN-Völkermord-Konvention auf – darunter die Bestrafung der Aufstachelung zum Völkermord sowie die Sicherstellung humanitärer Hilfe für die Bevölkerung in Gaza. Weitere solcher Anordnungen folgten im März und im Mai. Von israelischer Seite wurden sie weitgehend ignoriert. Stattdessen zerstörte das israelische Militär – unter aktiver Mitwirkung deutscher Rüstungsexporte – Krankenhäuser, Universitäten, UN-Einrichtungen und große Teile der zivilen Infrastruktur. Ein reguläres Leben in Gaza ist heute de facto unmöglich.
Recherchen des Journalisten Yuval Abraham im +972 Magazine belegen: Selbst bei Angriffen auf rangniedrige Hamas-Mitglieder kalkulierte Israels Militär – gestützt auf KI-Zielauswahl – bewusst hunderte zivile Opfer ein. Sprich: In Gaza wurde nahezu jede Person zum »legitimen« Ziel erklärt – auch israelische Geiseln in Gefangenschaft der Hamas. Palästinensische Journalistinnen und Journalisten dokumentieren diese Gewalt unter Lebensgefahr – trotz gezielter Tötungen von Medienschaffenden durch Israel. UN-Mitarbeiter und Sanitäter, offenbar ebenfalls gezielt getötet, werden aus Massengräbern geborgen. Es mangelt nicht an Bildern dessen, was in Gaza geschieht.
Auf politischer Ebene jedoch verhallten die Warnungen weitgehend. Zwar hat sich das öffentliche Bild Israels im Westen gewandelt – vor allem in den Augen einer jüngeren Generation, die mitverfolgt, wie Forderungen nach Rechenschaft und einem Ende wahlloser Tötungen folgenlos bleiben. Das internationale Recht wirkt auf viele zunehmend wie eine leere Beschwörungsformel: ein Prinzip mit selektiven Anwendungsbereichen und kaum durchsetzbaren Konsequenzen.
»Die deutsche Debatte hat sich von völkerrechtlichen Grundsätzen weit entfernt.«
Deutschland spielt in diesem Kontext eine zentrale Rolle – nicht nur, weil es Israel diplomatisch und rhetorisch verteidigt, sondern auch, weil es weiterhin Waffen und Rüstungsgüter liefert. Zugleich macht es die Kritik an der israelischen Regierung innenpolitisch immer mehr zum Prüfstein seiner Migrations- und Asylpolitik.
Wie verzerrt das Verständnis von internationalem Recht in der deutschen politischen Rhetorik sein kann, zeigte eine Bundestagsrede von Außenministerin Annalena Baerbock im Oktober 2024 – über ein Jahr nach Beginn der israelischen Offensive. Wenige Tage zuvor war das Schicksal des zwanzigjährigen Palästinensers Shaban al-Dalou bekannt geworden: Er verbrannte infolge eines israelischen Angriffs auf den Innenhof eines Krankenhauses bei lebendigem Leib – gefesselt an ein Krankenbett.
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Hanno Hauenstein ist freier Journalist. Seine Beiträge sind unter anderem beim Guardian, the Intercept, Zeit Online, Haaretz und der taz erschienen. Er war mehrere Jahre Redakteur und Ressortleiter im Kulturressort der Berliner Zeitung.