19. Oktober 2023
In Gaza sind mittlerweile Tausende Menschen gestorben. Der Krieg gegen die Hamas ist längst zu einem Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung mutiert. Er muss enden.
Nach den israelischen Luftangriffen auf Gaza-Stadt am 10. Oktober 2023 bemüht sich ein Team von Helfern, die Verletzten ins Krankenhaus zu transportieren.
Am vergangenen Freitag hat Israel über eine Million Palästinenserinnen und Palästinenser im nördlichen Gazastreifen aufgerufen, ihre Häuser umgehend zu verlassen. Unter anderem folgte eine Gruppe von 70 Menschen diesem Aufruf und fuhr im Konvoi in Richtung Süden. Minuten später traf ein israelischer Luftangriff die Kolonne. Alle 70 Personen starben.
Die Bewohner des winzigen, stark abgeriegelten Landstrichs, der auch als »größtes Flüchtlingslager der Welt« bezeichnet wird, stehen unter Schock. Sie sind in einem Todesstreifen gefangen – ohne Hoffnung auf ein Entkommen. Israel hat inzwischen mehrere Orte im Süden des Gazastreifens bombardiert, nachdem es selbst Zivilisten aufgerufen hatte, in diese Gebiete zu fliehen. Solche Angriffe gab es unter anderem in Dair al-Balah, Chan Yunis und Rafah.
Am Sonntag erlebten die zwei Millionen Einwohner von Gaza dann den bisher tödlichsten Tag des aktuellen Krieges. Nach Angaben des palästinensischen Gesundheitsministeriums wurden über 300 Menschen getötet. Damit stieg die Zahl der Opfer der israelischen Luftangriffe in Gaza auf über 2.800, darunter mindestens 800 Kinder. Fast 11.000 Menschen wurden verwundet. Die große Mehrheit davon waren Zivilisten. Israel räumt ein, lediglich sechs hochrangige Hamas-Führer getötet zu haben. Derweil liegen Kinderleichen auf den Straßen und unter den Trümmern.
Da es sich für eine potenzielle Bodeninvasion rüstet, hat Israel die Palästinenser im nördlichen Gazastreifen mehrfach aufgefordert, den Norden zu verlassen. Infolgedessen flohen in der vergangenen Woche bereits über eine Million Palästinenserinnen und Palästinenser – die Hälfte der Bevölkerung. Viele Menschen vor Ort befürchten, dass diese Flucht einer »zweiten Nakba« gleichkommen wird – nach der ersten Massenvertreibung von Palästinensern durch Israel im Jahr 1948. Vor 75 Jahren wurden etwa 750.000 Menschen gezwungen, ihre Heimat für immer zu verlassen. Rund 250.000 davon flüchteten damals nach Gaza.
Die israelische Armee hat nun sogar Evakuierungswarnungen für Krankenhäuser ausgesprochen, die mit verwundeten Zivilisten überfüllt sind. Das betrifft beispielsweise was Kuwaiti Hospital im Zentrum von Rafah. Menschenrechtsorganisationen haben Israels Aufrufe zur Räumung als gewaltsame Umsiedlung der Bevölkerung bezeichnet, die laut Experten einem Kriegsverbrechen gleichkommt.
»Wir sind besonders besorgt über die verheerenden Auswirkungen auf die 50.000 schwangeren Frauen im Gazastreifen und die Neugeborenen, die ohne lebenswichtige medizinische Versorgung und ohne die Sicherheit, die sie verdienen, vor die unmögliche Wahl gestellt werden, entweder ohne Sicherheitsgarantie zu fliehen oder zu bleiben und sich dem Risiko eines fast sicheren Todes auszusetzen,« so Riham Jafari von ActionAid Palestine.
»Die Straßen von Gaza sind voller Schutt und getrocknetem Blut; die verzweifelten Überlebenden laufen durch die zerstörten Straßen.«
Tatsächlich ist die Alternative, vor Ort zu bleiben, grausam: Wie Al Jazeera berichtet, wird derzeit alle fünf Minuten ein Palästinenser in Gaza durch das israelische Militär getötet. Die israelischen Streitkräfte haben komplette Familien und ganze Stadtviertel ausgelöscht. Mit seiner Bombenoffensive, die wohl den Weg für eine Bodeninvasion »ebnen« soll, hat Israel den Gazastreifen fast vollständig dem Erdboden gleichgemacht. Mit der Bombardierung von Stadtvierteln, Wohngebäuden, Schulen, Krankenhäusern und sogar Einrichtungen des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) führt Israel einen der bisher schwersten willkürlichen Angriffe auf die palästinensische Zivilbevölkerung durch. Es gab tödliche Attacken auf die Geflüchtetenlager Dair al-Balah, Chan Yunis und Dschabaliya. Das UNRWA teilte mit, Israel habe die UNRWA-Schule in Gaza bombardiert und dabei elf UN-Angestellte sowie 30 Schülerinnen und Schüler getötet. Darüber hinaus wurden mehrere Krankenhäuser angegriffen und zerstört oder stark beschädigt.
Die erschütternden Geschichten von Überlebenden häufen sich. Fulla al-Laham, ein verwundetes vierjähriges Kind, wachte in einem Krankenhaus auf und musste dort erfahren, dass sie die einzige Überlebende eines israelischen Luftangriffs war, bei dem ihre Eltern, Geschwister und Verwandten getötet worden waren. Ein anderer Überlebender berichtet, von den 200 Bewohnerinnen und Bewohnern seines zerstörten Hauses hätten nur acht überlebt, alle davon schwer verwundet.
Die Straßen von Gaza sind voller Schutt und getrocknetem Blut; die verzweifelten Überlebenden laufen durch die zerstörten Straßen. In einem Video beweint eine palästinensische Frau den Verlust von zwanzig Mitgliedern ihrer Familie. Eine andere Aufnahme zeigt Jamal al-Durrah – dessen Sohn Muhammad al-Durrah während der zweiten Intifada von israelischen Soldaten in seinem Schoß erschossen wurde – beim Abschied von weiteren Familienmitgliedern, die durch israelische Luftangriffe getötet wurden.
Gaza ist zu einem riesigen Friedhof geworden. Und dieser Friedhof füllt sich mit höchster Geschwindigkeit weiter. Trauernde Familien versuchen, ihre Toten auf inoffiziellen Gräberfeldern beizusetzen, die unter unerbittlichen Luftangriffen und einer sich verschärfenden Belagerung auf leeren Grundstücken ausgehoben wurden. Viele Tote landen in Massengräbern. Andere werden in Kühlwagen aufbewahrt. Vermutlich sind noch tausende weitere Leichen unter den Trümmern begraben.
Mit Unterstützung in Form von US-Waffen und -Munition hat Israel in nur einer Woche über 10.000 Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen. Das sind doppelt so viele wie die USA in einem Jahr in Afghanistan eingesetzt haben und entspricht nach NGO-Angaben dem Zerstörungsäquivalent von einem Viertel einer Atombombe. Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International, haben darüber hinaus bestätigt, dass Israel weißen Phosphor gegen Zivilisten eingesetzt hat, um Häuser – und Menschen – in den überbevölkerten Stadtgebieten niederzubrennen.
Es ist nichts anderes als eine Kollektivbestrafung der Palästinenser, wenn Israel der Zivilbevölkerung in Gaza die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Treibstoff und Medikamenten verwehrt. Humanitäre Hilfe ist de facto verboten, die Krankenhäuser sind mit den Verletzten überlastet. Israel scheint darauf aus zu sein, die von Verteidigungsminister Joaw Gallant verkündete Mission der Massenvertreibung (»Gaza wird nie wieder so sein, wie es war«) zu erfüllen.
Geschichte kann sich wiederholen – und sie tut es gerade. Angesichts der drohenden israelischen Bodeninvasion befürchten die Menschen in Gaza weitere zivile Todesopfer und Vertreibungen sowie eine tragische Wiederholung der Schrecken der Vergangenheit: 75 Jahre nach der Nakba droht den Nachkommen der damaligen 250.000 palästinensischen Geflüchteten, die die Vertreibung überlebt hatten und nach Gaza geflohen waren, nun ein ähnliches Schicksal durch Israels Hände.
Seraj Assi ist ein palästinensischer Schriftsteller, der in Washington, DC, lebt. Sein jüngstes Buch ist My Life As An Alien (Tartarus Press, 2023).