19. März 2024
Immer öfter ist zu hören, die GDL solle sich an einem Busfahrerstreik von 2018 in Japan orientieren, der die Passagiere verschonte. Doch der Vergleich hinkt vorne und hinten. In Wirklichkeit geht es wieder nur darum, gewerkschaftsfeindliche Stimmung zu schüren.
Das ist kein Deutsche-Bahn-Zug.
»Streikt mal wie in Japan« – das rufen deutsche Journalisten seit Wochen den Streikenden der GDL zu, obwohl es völliger Unsinn ist. Egal ob Focus, Express oder Wirtschaftswoche: All diese Zeitungen verlangen von deutschen Lokführern, sich an einem japanischen Busfahrerstreik aus dem Jahr 2018 zu orientieren. Auf Social Media hat sich dieser Talking Point bereits so sehr verselbstständigt, dass er unter jedem Beitrag zum Thema dutzendfach in den Kommentaren zu finden ist.
Sehen wir uns das ganze von vorne an: 2018 streikten einige Busfahrer im japanischen Okayama – aber nicht, indem sie die Arbeit niederlegten, sondern indem sie einfach keine Tickets mehr verkauften. Auf diese Weise wurde nicht der Verkehr lahmgelegt, das Verkehrsunternehmen aber dennoch geschädigt.
Deutsche Kolumnenschreiberlinge sind sich nun, sechs Jahre später, sicher, das müsse doch auch bei der Deutschen Bahn gehen. Sie appellieren an Lokführer – die überhaupt keine Tickets verkaufen und auch nicht in derselben Gewerkschaft sind wie die Kontrolleure der Bahn –, sie mögen sich an Japan orientieren. Damit ist immer gemeint: an einem einzigen Streik aus dem Jahr 2018. Ein solcher Ratschlag ist offenkundig völlig bescheuert. Das ist in etwa so, als würde man streikenden Fließbandarbeitern sagen, sie sollten die von ihnen produzierten Autos einfach verschenken – als wären sie für den Vertrieb der hergestellten Ware zuständig.
Offenkundig geht es bei dieser Form des Journalismus nicht darum, konstruktive Hinweise zu geben, wie man der Bahn schaden kann, ohne die Reisenden zu bestrafen. Für solche Hinweise wäre ich als regelmäßiger Bahnfahrer in der Tat auch dankbar. Stattdessen geht es darum, die öffentliche Meinung dahingehend zu manipulieren, dass das Verständnis für weitere Streiks sinkt und es leichter wird, eine arbeiterfeindliche Stimmung zu schüren.
Wenn diese Journalisten dazu aufrufen, sich an Japan zu orientieren, meinen sie es in Wahrheit wahrscheinlich ganz anders. Wie wir im genannten Wirtschaftswoche-Artikel lernen können, gab es vor fünfzig Jahren nämlich noch 9.500 Streiks in Japan, 2022 hingegen nur noch 33. Das heißt: Sie sind um über 99 Prozent zurückgegangen. Genau so wünschen es sich wahrscheinlich einige deutsche Journalisten insgeheim.
»Die Bahner werden nun zum Ausgangspunkt einer neuen Inflation erklärt.«
Besonders verlogen erscheint diese Agitation für einen Streik nach japanischem Vorbild in Anbetracht dessen, dass viele Meinungsmacher die Forderungen der GDL so oder so für unmöglich erklären. Selbst ehemals linke Stimmen sind dabei, etwa Ulrike Herrmann, die kürzlich im Presseclub erklärte: »Wo soll das [das Geld für die Lohnerhöhungen] denn herkommen? Das heißt nichts anderes, als dass die Preise bei der Bahn steigen werden, man wird eine Inflation produzieren.«
Diese Argumentation ist schon mehr als perfide: Die Bahner, die den von den Unternehmen und ihren Preissteigerungen erzeugten Reallohnverlust nicht hinnehmen wollen, werden nun zum Ausgangspunkt einer neuen Inflation erklärt. Nach dieser Logik dürften niemals mehr Beschäftigte eine Lohnerhöhung verlangen – denn diese könnte sich ja auf die Preise und damit auf die Teuerungsrate auswirken.
Fragt sich nur: Wieso sollte das einen Gewerkschafter interessieren? Es interessiert ja auch keinen Unternehmer, ob er die Inflation durch Preissteigerungen ankurbelt. Nur den Beschäftigten wird dieser Vorwurf immer wieder gemacht: Wenn sie sich inmitten der allgemeinen Teuerung schadlos halten wollen, dann ist das ein unverschämter Egoismus und zeigt mangelndes Verantwortungsbewusstsein für die eigene schöne Volkswirtschaft. Ja, da sollten die Deutschen doch bitte etwas mehr von Japan lernen – und möglichst wenig für ihr eigenes Interesse gegen das Kapital einstehen.
Ole Nymoen betreibt den Wirtschaftspodcast Wohlstand für Alle und ist Kolumnist bei JACOBIN.