16. April 2024
Das neue Asylsystem der EU bringt mehr Gewalt und Tod an den Außengrenzen, haftähnliche Bedingungen für Geflüchtete und Asylverfahren, die ihren Namen nicht verdienen. Nichtsdestotrotz muss der Kampf für die Menschenwürde von Schutzsuchenden weitergehen.
Die GEAS-Reform treibt die Entrechtung geflüchteter Menschen in Europa weiter voran.
»This pact kills!«, skandierten Aktivistinnen und Aktivisten vergangenen Mittwoch im Europäischen Parlament, während über fünf Verordnungen abgestimmt wurde, die zusammen das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) bilden. Alle fünf wurden angenommen, unterdessen flogen Papiere mit Informationen zu an den EU-Außengrenzen verstorbenen Flüchtenden durch den Plenarsaal.
Der 10. April 2024 wird in die Geschichte eingehen als der Tag, an dem Europa den Zugang zum individuellen Recht auf Asyl abschaffte. Mit dem neuen europäischen Asylsystem wird es mehr illegale Push-Backs, mehr Gewalt an den Grenzen und mehr Tote geben. Durch die GEAS-Reform werden Geflüchtete, abgeschottet von der Außenwelt, in haftähnlichen Elendslagern festgehalten und Asylverfahren verkommen zu fragwürdigen Schnellverfahren, deren einziges Ziel die Abschiebung ist. Ausnahmen gibt es nicht einmal für Familien und Kinder, für schwer traumatisierte Personen oder für Menschen aus Kriegsgebieten.
Diese Entrechtung von Asylsuchenden hat System – und eine Vorgeschichte.
Bereits seit 1990 versucht die EU, ein einheitliches Asylsystem in ihren Mitgliedstaaten zu etablieren. Denn mit der Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen sahen die Regierungschefs die Notwendigkeit, gemeinsame Regelungen zum Umgang mit Asylsuchenden und zur Kontrolle der Außengrenzen zu schaffen. Seither wurden verschiedene Richtlinien und Verordnungen erlassen und immer wieder verändert. Sie regeln zum Beispiel die Bedingungen, unter denen Asylsuchende aufgenommen und untergebracht werden, sowie die Abläufe der Asylverfahren. Trotz des gemeinsamen Rahmens bestehen allerdings bisher große Unterschiede im Asylverfahren zwischen den einzelnen Ländern.
Zentral für das europäische Asylsystem ist die Dublin-Verordnung. Sie gilt aufgrund ihres Verordnungs-Status direkt in sämtlichen Mitgliedstaaten und regelt, dass in der Regel jener Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständig ist, den die Schutzsuchenden als ersten betreten haben. Die Verantwortung für den Schutz von geflüchteten Menschen wird somit strukturell auf die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen übertragen, während zentral gelegene Staaten – wie Deutschland oder Frankreich – weniger Asylverfahren durchführen müssen.
»Das individuelle Recht auf Asyl – das als direkte Konsequenz aus den Verbrechen der NS-Zeit entstand – droht gänzlich ausgehöhlt zu werden.«
Spätestens ab 2014, als die Asylantragszahlen stiegen, geriet dieses System ins Wanken. Schutzsuchende flohen innerhalb der EU weiter, weil es in den EU-Staaten mit Außengrenze keine Unterbringung und Versorgung für sie gab. Die EU-Kommission reagierte mit einer »Europäischen Migrationsagenda« und der Einführung von als »Hotspots« bezeichneten Lagern in Griechenland und Italien. Ankommende Asylsuchende sollten unter Beteiligung europäischer Agenturen zügig registriert und 160.000 Personen in andere Mitgliedstaaten umverteilt werden. Die angekündigten Zahlen wurden allerdings bei weitem nicht erreicht.
Im März 2016 veränderte sich mit dem EU-Türkei-Deal schließlich die Idee hinter dem Hotspot-Ansatz. Asylsuchende sollten von den griechischen Ägäis-Inseln, wo sich die Mehrzahl der Hotspotlager befand, nicht mehr umverteilt, sondern in die als »sicher« geltende Türkei abgeschoben werden. Aber auch das funktionierte nicht wie geplant. Anstelle von schnellen Abschiebungen entwickelten sich die Hotspots auf den griechischen Inseln zu Elendslagern, in denen Menschen über Monate und Jahre bis heute unter menschenunwürdigen Bedingungen festgehalten werden.
Die »Europäische Migrationsagenda« beinhaltete neben dem Hotspot-Konzept noch weitere Vorschläge für eine Reform des GEAS – insbesondere eine Verschärfung der Dublin-Regelungen. Allerdings konnten sich das Europäische Parlament und der Rat nicht auf gemeinsame Initiativen einigen. Um die ins Stocken geratene Diskussion wiederzubeleben, veröffentlichte die EU-Kommission im September 2020 unter der Führung der deutschen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein neues Asylpaket und setzte damit die Reformbestrebungen fort. Das Paket enthielt unter anderem die Idee von beschleunigten Grenzverfahren direkt an den EU-Außengrenzen.
Dieses Asylpaket bildet die Basis für die GEAS-Reform, die vergangenen Mittwoch nach dreieinhalbjährigen Verhandlungen angenommen wurde. Die Einigung steht für mehr Abschottung und Gewalt an den Grenzen und gegen den Schutz von Menschen. Das individuelle Recht auf Asyl – das als direkte Konsequenz aus den Verbrechen der NS-Zeit entstand – droht gänzlich ausgehöhlt zu werden.
Bis 2026 müssen die neuen Verordnungen umgesetzt werden. Sie gelten dann unmittelbar und verbindlich in Deutschland, wie nationales Recht. Zentral für die Reform und zugleich menschenrechtlich besonders bedenklich sind die verpflichtenden Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen, die Fiktion der Nicht-Einreise und die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten. Was das in der Praxis bedeutet, lässt sich am besten an einem hypothetischen Beispiel nachvollziehen:
Farhad, ein syrischer Staatsangehöriger, flieht mit seiner fünfjährigen Tochter Bahira über die Türkei nach Griechenland. Dort angekommen, stellt er einen Asylantrag. Farhad und Bahira werden in ein Lager an der Außengrenze gebracht, erkennungsdienstlich behandelt und nach ihrer Fluchtroute gefragt. Sie sind zwar bereits in der EU, stehen also mit ihren Füßen auf ihrem Boden, gelten aber rechtlich als noch nicht als eingereist – das ist die sogenannte Fiktion der Nicht-Einreise. Aus diesem Grund dürfen sie sich auch nicht frei bewegen, sondern müssen im Lager bleiben. Sie befinden sich faktisch in Haft.
»Die Lebensbedingungen sind so schlecht, dass selbst Kinder Suizidversuche unternehmen, um ihnen zu entkommen.«
Nach sieben Tagen muss entschieden werden, ob Farhad und Bahira ein reguläres Asylverfahren durchlaufen und daher auch offiziell in die EU einreisen dürfen oder ob ein beschleunigtes Grenzverfahren durchgeführt wird. Grenzverfahren sind verpflichtend für alle Schutzsuchenden, die als eine »Gefahr für die öffentliche Sicherheit« eingestuft werden oder für deren Herkunftsstaat die Asyl-Anerkennungsquote unter 20 Prozent liegt.
Innenministerin Nancy Faeser betonte während der Verhandlungen zum neuen GEAS daher immer wieder, dass Asylsuchende aus Ländern mit hohen Schutzquoten, etwa aus Syrien oder Afghanistan, nicht von den Grenzverfahren betroffen seien. In unserem Fallbeispiel landen Farhad und seine Tochter allerdings trotzdem im Grenzverfahren, denn auch wenn Asylsuchende über einen angeblich sicheren Drittstaat eingereist sind, können die Grenzverfahren auf sie angewandt werden.
Farhad und Bahira gelten somit auch während des Asylverfahrens als nicht eingereist und müssen im Haftlager bleiben. Die Situation in diesen Elendslagern können wir bereits jetzt auf den griechischen Inseln oder auch auf Zypern beobachten: Sie sind abgeschottet von der Außenwelt und es besteht kein Zugang zu rechtlicher, medizinischer oder psychologischer Beratung und Versorgung. Erwachsene können keiner Arbeit nachgehen, Kinder und Jugendliche erhalten keine Schulbildung und spielen mit Müll. Die Lebensbedingungen dort sind so schlecht, dass selbst Kinder Suizidversuche unternehmen, um ihnen zu entkommen.
Während Farhad und Bahira also versuchen, unter diesen menschenunwürdigen Umständen zu überleben, läuft ihr Grenzverfahren. In einem regulären Asylverfahren würden jetzt ihre individuellen Asylgründe angehört, um zu prüfen, ob sie Schutz brauchen. Im Grenzverfahren spielt das erstmal keine Rolle: Weil die Betreffenden über einen angeblich sicheren Drittstaat wie die Türkei eingereist sind, geht es nur um die Frage, ob eine Abschiebung in diesen Drittstaat möglich ist. Das Asylverfahren wird dann in dieses Land ausgelagert.
Der jeweilige Staat muss weder die Genfer Flüchtlingskonvention anerkennen noch müssen alle Landesteile als sicher gelten, »sichere Gebiete« reichen bereits aus. In vielen Fällen sind daher Kettenabschiebungen in die Herkunftsländer oder weitere Transitländer zu erwarten. Für Farhad und seine Tochter würde das bedeuten, dass sie aus Griechenland zurück in die Türkei geschoben werden und von dort weiter nach Syrien. Ihre Asylgründe würden an keiner Stelle ernsthaft geprüft.
»Die EU und die Ampel-Regierung haben sich aus Angst vor einem weiteren Aufstieg rechter Parteien dazu treiben lassen, selbst rechte Politik zu machen.«
Mit der GEAS-Reform wird das System des EU-Türkei-Deals verrechtlicht und verallgemeinert. Ein System, das seit Jahren in einer rechtlichen Grauzone wie in einem Laboratorium erprobt wurde, wird somit zur neuen Normalität. Mit den Regelungen der Krisenverordnung besteht außerdem die Möglichkeit, die ohnehin schon zu niedrigen Standards für die Versorgung von Schutzsuchenden und die Durchführung der Asylverfahren noch weiter zu unterschreiten.
Befürworterinnen des neuen GEAS behaupten, damit würde endlich ein System der Verantwortungsteilung zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen. Doch nicht einmal das ist richtig. Am Dublin-System wird festgehalten, und es wird sogar noch verschärft. Staaten an den EU-Außengrenzen werden weiterhin die Hauptverantwortung für die Unterbringung der Menschen und die Durchführung der Asylverfahren tragen. Der vermeintliche »Solidaritätsmechanismus« ist dagegen reine Symbolpolitik. Mitgliedstaaten können, statt Schutzsuchende aufzunehmen, auch andere Formen der Unterstützung leisten – wie beispielsweise in die Aufrüstung von Grenzanlagen zu investieren oder Grenzschutzbeamte abzuordnen. Entlastung für die Staaten mit Außengrenze wird es dadurch keine geben.
Man könnte sagen: Die Reformen sind beschlossen, die Rechten haben gewonnen. Das individuelle Recht auf Asyl ist Vergangenheit, die EU und die deutsche Ampel-Regierung haben sich aus Angst vor einem weiteren Aufstieg rechter Parteien dazu treiben lassen, selbst rechte Politik zu machen. Doch Aufgeben war noch nie eine Lösung. Was es jetzt braucht, ist eine aktive europäische Zivilgesellschaft mit einer europäischen Solidarität von unten und linke Parteien, die sich gemeinsam weiter dafür einsetzen, die Menschenwürde fliehender Menschen zu achten.
Es ist jetzt wichtiger denn je, solidarische und breite Bündnisse aufzubauen, damit die Strategien der Herrschenden nicht aufgehen. Diese bestehen darin, Menschen entlang des Aufenthaltsstatus zu hierarchisieren, marginalisierte Gruppen gegeneinander auszuspielen und die arbeitende Bevölkerung so weiter zu spalten. Das Wissen darüber müssen wir zum Ausgangspunkt unserer Gegenwehr machen. Gewinnen können wir nur, wenn wir den Angriffen auf die Rechte von Geflüchteten einen verbindenden Klassenkampf entgegensetzen.
Clara Bünger ist Volljuristin und seit 2022 Sprecherin für Flucht- und Rechtspolitik für die Linke im Bundestag.