28. Juni 2022
Die USA haben ein massives Problem mit Polizeigewalt. Der US-Politologe Cedric Johnson meint, Antirassismus ist machtlos dagegen. Denn die Polizei dient dazu, die Armen zu gängeln und das Kapital zu stützen.
Polizeileute sperren nach einer Mahnwache für Winston Boogie Smith, der bei einem Poliezeieinsatz erschossen wurde, eine Straße ab, Minneapolis, 15. Juni 2021.
Was ist eigentlich die gesellschaftliche Funktion von Polizei und Gefängnissen? Die Aufgabe dieser staatlichen Gewaltapparate wird häufig als Fortschreibung einer historisch gewachsenen rassistischen Unterdrückung verstanden. Besonders in den USA hat sich unter dem Schlagwort »New Jim Crow« die These etabliert, dass der aktuelle Modus der Kriminalitätsbekämpfung eine Art Rassentrennung 2.0 darstellt.
Nach dem brutalen Mord an George Floyd durch einen Polizeibeamten in Minneapolis am 25. Mai 2020 brachen in den USA massive Proteste aus. Es schien, als habe diese drastische Gewalttat das Land verändert zurückgelassen. Von Radikalen auf der Straße über Abgeordnete im Kongress bis hin zu globalen Konzernen wie Nike stellte sich ein sehr breites Bündnis hinter die Bewegung Black Lives Matter – eine durchaus ungewohnte Einigkeit.
Das hätte niemanden verwundern sollen, argumentiert Cedric Johnson, Politikwissenschaftler und Professor für Black Studies. Denn der Fokus auf Rassismus ist eine willkommene Ablenkung von den Klassenwidersprüchen, die der Polizei im Kapitalismus ihre Aufgabe geben: die soziale Kontrolle der prekärsten Anteile der Arbeiterklasse. In seinem neuesten Buch The Panthers Can’t Save us Now erklärt er, warum sich Polizeibrutalität nicht durch antirassistische Bewusstseinsbildung bekämpfen lässt und warum es nur einen Weg gibt, um die Exzesse der Polizeigewalt zu beenden: der Kampf gegen Armut.
Cedric Johnson auf der Jacobin-Konferenz »Socialism in Our Time«, Berlin, 11. Juni 2022.
Polizeigewalt wird oft als ein Symptom von Rassismus beschrieben. Du meinst, das verschleiert die tatsächliche soziale Funktion der Polizei: die Sicherung der Klassenverhältnisse. Das tritt besonders deutlich zutage, wenn wir uns die historischen Ursprünge der Polizei ansehen. Wie hat sich Polizeiarbeit im Laufe der Zeit verändert?
Die Aufgabe der Polizei war es schon immer, bestimmte Klassenverhältnisse aufrechtzuerhalten, aber die konkreten Anforderungen an Polizeiarbeit sind vom jeweiligen historischen und geographischen Kontext abhängig und sie verändern sich mit den Bedürfnissen des Kapitals. Viele zeitgenössische Theoretikerinnen und Aktivisten in den USA legen den Fokus ausschließlich auf den leicht erkennbaren rassistischen Aspekt der Polizeiarbeit und der Masseninhaftierungen in den USA. Sie sehen die Ursprünge rassistischer Polizeigewalt in den Sklavenpatrouillen. Oder sie verweisen auf den 13. Zusatzartikel der US-amerikanischen Verfassung, der es auch nach Abschaffung der Sklaverei erlaubt, Straftäter zu Zwangsarbeit zu verpflichten. Für Aktivistinnen und Aktivisten, die argumentieren, dass es bei Polizeigewalt schon immer um rassistische Vorherrschaft ging, ist der Verweis auf diese historischen Ereignisse natürlich sehr nützlich, das ist aber keine hilfreiche Analyse.
Was diese Interpretation der Vergangenheit vollständig ausblendet, ist die Tatsache, dass zur selben Zeit in London und verschiedenen US-amerikanischen Städten die ersten Polizeidienststellen eingerichtet wurden. Und diese standen im Dienst der kapitalistischen Klasse. Denn ihre Aufgabe war es, die Macht der damals militanten industriellen Arbeiterklasse zu brechen und die sozialen Konflikte unter Kontrolle zu halten, die in Folge der raschen Urbanisierung entstanden. Egal ob wir über die Sklavenhalter auf ihren Plantagen in den Südstaaten oder die städtischen Großindustriellen im Norden sprechen – im Wesentlichen ging es bei der Polizeiarbeit darum, die Interessen des Kapitals abzusichern.
Hinzu kommt, dass im späten 19. Jahrhundert und bis ins frühe 20. Jahrhundert die unmittelbare Zerschlagung von Arbeitskämpfen wirklich die zentrale Funktion der Polizei war. Das verändert sich unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Schwerpunkt und die Funktionsweise der Polizeiarbeit verlagert sich, weil sich die Anforderungen des Kapitals verändern. In den Nachkriegsjahren konzentriert sich die Polizei weniger auf die Unterdrückung von Arbeitskämpfen, weil die Arbeiterklasse nicht mehr so militant war wie zuvor. Sie wurde durch Maßnahmen wie das Taft-Hartley-Gesetz von 1947, das gewerkschaftliche Organisierung kriminalisierte und die Macht der Arbeiterinnen und Arbeiter schmälerte, gezähmt. In dieser Zeit wächst in den USA auch die Mittelschicht stark an – ein weiterer Faktor, der zum Rückgang von Arbeitskämpfen beitrug.
»Stadtverwaltungen wollen mit der Ausweitung von Polizeiarbeit wohlhabendere Anwohner zurück in Bezirke mit steigenden Immobilienpreisen locken.«
In den 1950er und 60er Jahren passt sich die Polizeiarbeit an diesen Wandel an. Von da an fokussiert sie sich vermehrt auf organisierte Kriminalität, die bestimmten Kapitalblöcken ein Dorn im Auge war. In dieser Zeit rückt auch die Schwarze Arbeiterklasse, die die Südstaaten verlässt und in die städtischen Ghettos strömt, ins Visier der Polizei. Denn der Schwarze Migrant aus dem Süden ist eine symbolische Bedrohung für die aufstrebende Mittelklasse in den Vorstädten, deren Herausbildung durch massive staatliche Investitionen in Hypothekenkredite und den Bau von Autobahnen befördert wurde.
In all diesen verschiedenen Momenten ist die Polizei für die Sicherung des kapitalistischen Klassenverhältnisses von entscheidender Bedeutung, auch wenn sich die Stoßrichtung der Polizeiarbeit verändert.
Um zu erklären, welche Rolle die Polizei bei der Bewältigung sozialer Probleme spielt, die durch den Kapitalismus verursacht werden – etwa Armut oder Kriminalität –, verwendest Du den Begriff »Stress Policing«. Was meinst Du damit?
Um diesen Begriff zu verstehen, muss man zur Broken-Windows-Theorie, die 1982 von dem Politikwissenschaftler James Q. Wilson und dem Kriminologen George Kelling in einem Artikel eingeführt wurde, zurückgehen. In relativ kurzer Zeit setzte sich diese Sichtweise in den meisten Rathäusern und Polizeidienststellen durch. Dieser Theorie zufolge müssen Bagatelldelikte, insbesondere Sachbeschädigung, Autoeinbrüche, Vandalismus, Ladendiebstähle, Graffiti und dergleichen hart bestraft werden, ansonsten vermittle man Kriminellen den Eindruck, dass sie an Orten, an denen sich solche Vorfälle häufen, keinen Widerstand der Staatsgewalt zu befürchten hätten. Damit Kriminalität gar nicht erst zu einem größeren Problem werden kann, müsse man also eine Nulltoleranzstrategie in der Verbrechensbekämpfung verfolgen.
»Stress Policing« wird in der Regel angewendet, um Kriminalität in Stadtteilen mit stabilen oder steigenden Immobilienpreisen zu unterbinden. Und sie richtet sich gegen die prekärsten Teile der Arbeiterklasse, um sie aus Stadtteilen, die Investorinnen und Investoren anziehen, zu verdrängen. Stadtverwaltungen wollen mit der Ausweitung dieser Art von Polizeiarbeit wohlhabendere Anwohnerinnen und Anwohner zurück in diese Bezirke locken.
»Die meisten Menschen wollen keine rassistische Gewalt sehen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie die generelle Managementfunktion der Polizei ablehnen.«
Die extrem hohe Anzahl an Menschen, die in den USA im Gefängnis sitzen, ist eine direkte Konsequenz des »Stress Policing«. Man darf nicht vergessen, dass die große Mehrheit der Inhaftierten aus ganz bestimmten Stadtvierteln kommt, das ist in allen US-Bundesstaaten so. Die Insassen sind dieselben Menschen, die ständig durchsucht und angehalten werden, deren Nummernschilder permanent in der Polizeidatenbank nach Haftbefehlen gescannt werden. Es sind diese Menschen, die dann wegen Bagatelldelikten verhaftet werden und im Gefängnis landen, weil sie kein Geld haben, um auf Kaution frei zu kommen. In den meisten Fällen werden sie verurteilt, weil sie sich keinen Anwalt leisten können. Sie müssen sich auf Pflichtverteidiger verlassen, die in der Regel völlig überlastet und unterfinanziert sind. So geraten dann immer dieselben Menschen mit der Justiz in Kontakt. »Stress Policing« ist also eine Strategie, um in den meisten Städten die Grenzen zwischen den gentrifizierten Gebieten der Mittelschicht und den Ghettos der Unterschicht zu verwalten, die für die meisten Menschen und neoliberale Politikerinnen und Politiker als No-Go-Areas gelten.
Ich habe den Eindruck, dass es einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass die Polizei in ihrer stark militarisierten Form so wie auch ihr regelmäßiger Machtmissbrauch ein Problem ist. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob sich diese Ablehnung auch gegen die soziale Kontrollfunktion der Polizei richtet, die Du gerade beschrieben hast.
Genau das ist ein ganz zentrales Problem. Was Du gerade beschrieben hast, zeigt, warum Black Lives Matter einerseits in der Lage war, so große Menschenmassen zu mobilisieren und andererseits keinen mehrheitsfähigen Machtblock organisieren konnte, der in der Lage ist, Polizeigewalt und das System der Masseninhaftierung zu beenden. Die meisten Menschen, die im Sommer 2020 auf die Straße gingen, waren wegen des Mordes an George Floyd dort. Dieser Fall von Polizeigewalt war offensichtlich unmenschlich und extrem. Es war ja augenscheinlich, wie exzessiv und abscheulich die Taten von Derrick Chauvin waren und wie sich die anderen Polizeibeamten mitschuldig gemacht haben. Es gibt Fälle von Polizeibrutalität, die weniger eindeutig sind, etwa wenn ein Verdächtiger in seinem Hosenbund nach einer Waffe greift oder auf Polizeibeamte einschlägt, um sich der Verhaftung zu widersetzen. Aber bei George Floyd war das nicht so. Was diesem Mann passiert ist, war so offensichtlich falsch, dass die Menschen massenhaft dagegen protestierten. Die meisten Menschen wollen keine rassistische Gewalt sehen. Aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie die generelle Managementfunktion der Polizei ablehnen. Das haben die letzten zwei Jahre sehr deutlich gezeigt, denn die Proteste haben nicht den Wandel herbeigeführt, den sich im Sommer 2020 so viele erhofft hatten.
Um es mal an einem Beispiel konkret zu machen: Ich lebe in Chicago. Gerade wenn das Wetter wärmer wird, strömen die Menschen massenhaft zu den touristischen Hotspots der Stadt – in die Parks, an die öffentlichen Strände und den Navy Pier, der früher einmal die meistbesuchte Touristenattraktion im mittleren Westen war. In den letzten Jahren kommen auch immer mehr Schwarze Teenager an diese Orte. Sie können nirgendwo anders hin, um mit ihren Freundinnen und Freunden abzuhängen. Einige von ihnen prügeln sich, andere belästigen Touristen, manche werden wiederum von Touristinnen angepöbelt und reagieren auf diese Provokationen. Es kommt also immer wieder zu Auseinandersetzungen.
Im Mai wurde der 16-jährige Seandell Holliday nach einem Streit mit einem anderen 17-Jährigen erschossen. Dieser Vorfall hat in der gesamten Stadt den Ruf nach einem höheren Polizeiaufgebot laut werden lassen, das für Recht und Ordnung sorgen soll. Seit einigen Jahren gibt es in der Stadt auch immer mehr Raubüberfälle. Diese rassistische Panik vor vermeintlich krawallsuchenden Schwarzen Jugendlichen sorgt dann dafür, dass das Problem der Raubüberfälle mit ganz normalen Teenagern in einen Topf geworfen wird. Für die Bürgermeisterin der Stadt war das Anlass genug, um eine strenge Ausgangssperre für Jugendliche zu verhängen. Wer unter 18 Jahre alt ist, darf sich ohne Begleitung eines Elternteils oder einer erwachsenen Aufsichtsperson abends nicht einmal mehr in der Innenstadt aufhalten. Der Gouverneur des Bundesstaats ist gerade im Wahlkampf und will nicht den Eindruck erwecken, er würde der Kriminalität nicht entschieden entgegentreten. Also hat er für Raubüberfälle härtere Strafen verhängt. Diese Law-and-Order-Politik ist nicht das Werk der Republikaner. Sowohl die Bürgermeisterin als auch der Gouverneur sind liberale Demokraten und in gesellschaftspolitischen Fragen generell progressiv eingestellt.
Der Widerspruch liegt auf der Hand: Dieselbe politische Elite hat über Jahrzehnte hinweg Millionen, wenn nicht Milliarden von Dollar in die Innenstadt gepumpt und dem Privatsektor Grundstücke zugewiesen, großzügige Infrastrukturgeschenke gemacht, Steuern erleichtert und Umwelt- und arbeitsrechtliche Vorschriften außer Kraft gesetzt, um das Geschäftsviertel und die touristischen Bezirke der Stadt zu entwickeln und den Bau von Eigentumswohnungen anzuheizen. Andere Stadtteile wurden völlig vernachlässigt. Außer der Grundversorgung und Discount-Geschäfte gibt es dort nichts. Es gibt keine sicheren Orte, an denen sich junge Menschen treffen könnten. Die lokale politische Elite hat bestimmten Stadtteilen die Mittel entzogen, nur in die Polizei wird noch investiert. Doch die Menschen, die in diesen Gegenden wohnen, lassen sich nicht einfach so ausschließen, auch sie wollen am städtischen Leben teilhaben. Also sind sie in die Touristenviertel zurückgekommen. Viele Chicagoer und Touristinnen, die über den Fall von George Floyd empört waren, befürworten die Ausgangssperren, die obligatorischen Mindeststrafen und die Härte, mit der diese Jugendlichen behandelt werden. Gegen diese Maßnahmen ist niemand auf die Straße gegangen.
Die Black-Lives-Matter-Proteste vom Sommer 2020 waren eine massive Sympathiebekundung für George Floyd. Sie waren kein Ausdruck eines Sinneswandels innerhalb der amerikanischen Bevölkerung, die sich plötzlich gegen das Regime der Kapitalakkumulation auflehnt, das die Verdrängung und die Polizeigewalt hervorbringt, der George Floyd und viele Schwarze Jugendliche in Chicago ausgesetzt sind. In jenem Sommer 2020 gab es einen Moment, in dem die Mehrheit der US-Bevölkerung, etwa 60 Prozent, die Grundprämisse von Black Lives Matter unterstützte, das hielt allerdings nur wenige Monate an. Positionen des Abolitionismus und Forderungen nach Abschaffung von Polizei und Gefängnissen oder einer Minderung der Finanzmittel, die der Polizei zur Verfügung stehen, haben in der Bevölkerung nicht verfangen. Die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner wollen keinen brutalen Mord wie den an George Floyd mit ansehen müssen, aber sie finden es völlig in Ordnung, dass die Polizei junge Leute wegen des Verkaufs von Cannabis in den Knast steckt.
Wie Du dargelegt hast, können Maßnahmen, die Polizeigewalt primär als Konsequenz rassistischer Unterdrückung verstehen, das Polizeiproblem nicht an der Wurzel packen, weil sie den Aspekt der sozialen Ungleichheit ausblenden. Ich muss zugeben, dass ich die Forderung »Defund the Police« – also weniger Finanzmittel für die Polizei – daher eigentlich überzeugend fand.
Das ist ja keine liberale Antidiskriminierungspolitik, es geht eher um die Frage nach der Verteilung öffentlicher Gelder. Man wollte vermitteln, dass die Mehrheit der Menschen, die in den Innenstädten leben, gar nichts davon hat, wenn massenhaft öffentliche Mittel in die Polizei gesteckt werden. Aber wie Du schon sagtest, war diese Forderung nicht sonderlich populär. Was ist also das Problem mit »Defund the Police«?
Das Beste an der Forderung »Defund the police« war, dass sie eine Diskussion darüber angestoßen hat, welche öffentlichen Ausgaben von Stadtverwaltungen priorisiert und welche vernachlässigt werden. Die Forderung nach weniger Finanzmitteln für die Polizei könnte eine grundlegendere Kritik an der Vergabe öffentlicher Gelder in Gang setzen. Ich denke da jetzt an genau die Art von Stadtpolitik, auf die ich vorhin angespielt habe: öffentliche Investitionen in Sportstadien, Eigentumswohnung und andere Projekte kapitalistisch motivierter Stadtentwicklung. In dieser Hinsicht unterstütze ich die Stoßrichtung der Forderung und die Möglichkeiten, die sie bieten könnte.
Auf der anderen Seite nähert man sich mit »Defund the Police« Forderungen nach Austerität an. Rechten öffnet man damit Tür und Tor, um das zu tun, was sie seit langem unermüdlich tun, nämlich gegen die Beschäftigten des öffentlichen Diensts vorzugehen. Die Verkleinerung von Polizeidienststellen unter Missachtung rechtsverbindlicher Verträge ist in Wirklichkeit ein Argument der Rechten, das im Gewand linker Rhetorik daherkommt. Man darf dabei nicht vergessen, dass solche Maßnahmen alle Polizeibeamten entmachten würden – und die meisten von ihnen haben noch nie ihre Dienstwaffe abgefeuert, geschweige denn einen Zivilisten ermordet. Als Gewerkschafter und als Beschäftigter im öffentlichen Dienst betrachte ich das mit Unbehagen. Denn ich bin mir sicher: Zuerst ist die Polizei dran, denn die ist ein leichtes Ziel, und ehe man sich versieht, werden sich die gleichen gewerkschaftsfeindlichen Kräfte erst die Feuerwehrleute vorknöpfen und dann den Rest.
Hinzu kommt, das der Entzug von öffentlichen Mitteln und die Auflösung von einzelnen Polizeistellen nicht unbedingt das Problem der Polizeigewalt lösen wird. Das Kernproblem ist die massive Ungleichheit, die in den USA herrscht. Es gibt Menschen, die nicht einmal mehr in den Arbeitslosenstatistiken erfasst werden, weil sie nicht aktiv nach Arbeit suchen. De facto gibt es nach wie vor eine Überschussbevölkerung. Was die Schwarzen unter diesen arbeitslosen Bevölkerungsgruppen betrifft, so muss man sagen, dass sie von den großen Errungenschaften der Bürgerrechtsbewegung und den Reformen der Great Society [Anm. d. Red.: Sozialpolitisches Reformprogramm, das 1964 unter der Regierung von Präsident Lyndon B. Johnson angestoßen wurde] nicht profitiert haben. Viele wurden in eine Zeit hinein geboren, in denen diese Errungenschaften schon wieder nostalgisch verblasst waren.
»In der Zeit, in der die Überreste der Sozialdemokratie eingestampft wurden, nimmt der Ausbau der Gefängnisse richtig Fahrt auf.«
Millionen von Menschen aus der amerikanischen Arbeiterklasse werden nach wie vor die gleichen Kämpfe um das tägliche Überleben ausfechten müssen, selbst wenn man die Polizei einmal außen vor lässt. Meiner Meinung nach sollte der Schwerpunkt daher nicht auf dem Entzug von öffentlichen Geldern für die Polizei liegen, sondern vielmehr auf der Beseitigung der extremen Ungleichheit. Genau davon lenkt die Forderung »Defund the Police« ab – und diese Ungleichheit betrifft nebenbei gesagt auch nicht ausschließlich die Schwarze Bevölkerung. Im ganzen Land wurden Teile der Arbeiterklasse in deindustrialisierten Gegenden und ländlichen Gebieten abgehängt.
Du hast gerade die Deindustrialisierung und die mangelnde wirtschaftliche Entwicklung in bestimmten Teilen der USA angesprochen. Ich habe mich gefragt, welche Rolle die wirtschaftliche Stagnation in diesem Kontext spielt. Du hast in Bezug auf das »Stress Policing« die unverhältnismäßige Ahndung von Bagatellendelikten erwähnt. Vieles darunter ist Armutskriminalität, die daraus resultiert, dass Menschen einfach nur versuchen, über die Runden zu kommen, und die Art und Weise, wie sie das tun, wird kriminalisiert. Etwa zur gleichen Zeit verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum und die Arbeitslosigkeit steigt. Und genau in dieser Phase wird auch die Masseninhaftierung in den USA ein enormes Problem.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Zunahme der Masseninhaftierung einerseits und der Unfähigkeit des Kapitalismus andererseits, mit der Überschussbevölkerung umzugehen, die er selbst produziert?
Ja, absolut. Als Ronald Reagan 1980 gewählt wurde, saßen in den amerikanischen Gefängnissen noch mehrheitlich »weiße« Gefangene. Das begann sich erst in den 1980er und 90er Jahren zu wandeln. Unter den Regierungen von Reagan und George H.W. Bush und später dann unter den Clinton-Demokraten wurden die sozialdemokratischen Errungenschaften aus der Zeit des New Deal verstärkt angegriffen. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden die Sozialhilfeprogramme stark gekürzt, und das Programm Aid to Families with Dependent Children, das arme Familien unterstützte, wurde komplett abgeschafft. Nicht die Republikaner, sondern der Demokrat Bill Clinton führte HOPE VI ein, eine nationale Strategie für die Sanierung von Sozialwohnungen, im Zuge derer viele Hochhäuser und andere Gebäudekomplexe in Stadtzentren abgerissen wurden, die in den 1950er Jahren als Wohnungen für Arme gebaut worden waren. HOPE VI hat den Abriss dieser Sozialwohnungen finanziert, um dort Wohnkomplexe für unterschiedliche Einkommensklassen zu errichten, nur ein Teil der Armen durfte bleiben.
»Anstatt die Armen in Sozialwohnungen unterzubringen, steckt man sie in Gefängnisse.«
In der Zeit, in der die Überreste der Sozialdemokratie eingestampft wurden, nimmt der Ausbau der Gefängnisse richtig Fahrt auf. Wie Adaner Usmani und John Clegg argumentiert haben, sind Gefängnisse eine billige Lösung für das Problem der Armut – wenn auch eine besonders unmenschliche und krisenanfällige. Anstatt die Armen in Sozialwohnungen unterzubringen, steckt man sie in Gefängnisse. Die breite Öffentlichkeit hat das mitgetragen. Dieser Konsens ist immer wieder ins Wanken geraten, aber er hat sich gehalten – auch nach Black Lives Matter.
Um zu verstehen, warum das so ist, muss man sich vor Augen führen, dass die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung glaubt, dass das Polizeiproblem nichts direkt mit ihnen zu tun hat. Wenn man glaubt, die Wurzel allen Übels seien rassistische Polizeibeamte oder historischer Rassismus, dann könnte man das durch Entlassungen oder Gerichtsprozesse lösen oder durch eine gesamtgesellschaftliche Erinnerungspolitik, die uns die Geschichte des Rassismus vergegenwärtigt, in dem man zum Beispiel beleidigende Statuen, Gebäude- oder Straßennamen entfernt und andere Maßnahmen dieser Art ergreift.
Wenn wir aber verstehen, dass Polizeigewalt strukturell durch die Beziehung zwischen der Überschussbevölkerung und der Polizei bedingt ist und dass sie die soziale Konsequenz der Kapitalintensivierung und der Globalisierung von Produktionsprozessen ist, dann können wir nicht länger mit dem Finger auf rassistische Polizisten zeigen oder die Geschichte kolonialer Ausbeutung zur Erklärung heranziehen. Dann müssen wir uns mit der Krisenhaftigkeit und den Widersprüchen unserer Gesellschaft auseinandersetzen.
Diese Entkopplung von »Race« und Klasse, die Du gerade angesprochen hast, ist innerhalb der heutigen Linken ein weit verbreiteter Konsens, der so selten hinterfragt wird, dass er für viele von uns fast selbstverständlich geworden ist. Das war allerdings nicht immer so, wie Du in Deinem Buch The Panthers Can’t Save Us Now betonst. Was hat der grassierende Antikommunismus während der McCarthy-Ära mit dem zaghaften, liberalen Antirassismus von heute zu tun?
Leute wie A. Philip Randolph [Anm. d. Red.: Sozialist und Bürgerrechtler, der die erste afroamerikanische Gewerkschaft, die Brotherhood of Sleeping Car Porters, organisierte] machten keinen Unterschied zwischen dem Kampf um die Abschaffung der Rassentrennung, dem Kampf gegen Diskriminierung und Forderungen nach mehr Macht für die Arbeiterschaft. Er und andere Schwarze Linke seiner Zeit wie John P. Davis vom National Negro Congress wussten zwar aus eigener Erfahrung, dass Schwarze Arbeiterinnen und Arbeiter in Gewerkschaften diskriminiert und schikaniert wurden. Für Leute wie Randolph und Davis war das aber eher eine Herausforderung, die sie bei der gewerkschaftlichen Organisierung lösen mussten, und kein unüberwindbares Hindernis, so wie es viele Linke in den USA heute sehen.
Die McCarthy-Ära hatte eine abschreckende Wirkung auf die Bürgerrechtsbewegung. Leute wie Randolph und noch militantere Linke und Gewerkschafter verschwinden danach zwar nicht gänzlich von der Bildfläche, aber der Aufstieg von Schwarzen Liberalen wurde auch durch den aggressiven Antikommunismus erleichtert. Das FBI und antikommunistische Abgeordnete im Kongress beschuldigten Bürgerrechtsaktivistinnen und Bürgerrechtsaktivisten routinemäßig, Kommunisten zu sein, um sie zu diskreditieren und mundtot zu machen – und einige von ihnen waren das auch. Viele Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler hatten Verbindungen zur amerikanischen Kommunistischen Partei der Zwischenkriegszeit. In einigen Fällen traf die Anschuldigung also zu.
Als der Kampf gegen die Rassentrennung auf dem juristischen, aber auch dem Weg der direkten Aktion Aufwind erfuhr und von nationalen Eliten aufgegriffen wurde, versuchte man, eine offene Assoziation mit dem Kommunismus zu vermeiden, da sie von der Führung der Bürgerrechtsbewegung zunehmend als hinderlich empfunden wurde. Daher schrumpfte in den frühen Jahren des Kalten Kriegs der Möglichkeitsraum für revolutionäre Politik. Sobald der liberale Antirassismus durch die Erfolge der Bürgerrechtsbewegung institutionalisiert wurde und die Regierung begann, Diskriminierung als Verstoß gegen das kapitalistische Versprechen der Chancengleichheit zu betrachten, war die Entkopplung von »Race« und Klasse besiegelt.
»Während der Regierungszeit von Lyndon B. Johnson, wenden sich die liberalen Demokraten eindeutig von einer Klassenanalyse ab und beginnen, Armut als Produkt rassistischer Diskriminierung zu betrachten.«
Schauen wir uns zum Beispiel Präsident Lyndon B. Johnson an. Er wollte die Armut der Schwarzen Bevölkerung im Besonderen angehen. Das hat er in einer Rede 1965 sogar explizit so gesagt. Schwarze Armut sei anders als weiße Armut. Damit meinte er, dass sich die Armut der Schwarzen Bevölkerung in den Städten konzentrierte und dass daraus spezifische soziale Probleme resultierten.
Sein sozialpolitisches Reformprogramm »Great Society« fokussierte sich daher auf Maßnahmen, die eher darauf abzielten, das Verhalten der Menschen zu regulieren, etwa die Förderung von Berufsausbildung oder Unterstützungsprogramme für junge, arme Mütter wie etwa Head Start [Anm. d. Red: Vorschulprogramm für einkommensschwache Haushalte]. Damit wich die Regierung von politischen Interventionen ab, die das Leben der Arbeiterklasse vorher verbessert hatten, etwa die Stärkung von Tarifverhandlungen oder die Ausweitung von Bundesprogrammen zur Schaffung staatlicher Arbeitsplätze. In der Vergangenheit gab es sogar gezielte lokale Programme, wie die Dyess Colony, ein landwirtschaftliches Rehabilitationsprojekt, das 1934 während der Großen Depression für die überwiegend weißen Farmpächter in Arkansas geschaffen wurde. Es gab noch viele andere experimentelle Projekte dieser Art, die damals von der Bundesregierung unterstützt wurden und die in den 1960er Jahren von der breiten Öffentlichkeit vergessen und von der Politik aufgegeben wurden.
Während man also bei diesen früheren Maßnahmen den Arbeiterinnen und Arbeitern rechtlichen Schutz, staatliche Jobs und Land zur Bewirtschaftung geboten hatte – also die Grundlagen für ein besseres Leben und mehr Selbstbestimmung –, waren die Maßnahmen der Great Society in erster Linie auf Unterstützung ausgerichtet. Und selbst wenn sie die Selbstbestimmung der Schwarzen Bevölkerung förderten, wie im Fall des Community Action Programs, stärkten solche Maßnahmen eher die lokale Schwarze politische Elite und nicht die Arbeiterklasse, für die diese Programme eigentlich geschaffen wurden.
Es gibt also einen Moment während der Regierungszeit von Lyndon B. Johnson, in dem sich die liberalen Demokraten eindeutig von einer Klassenanalyse abwenden und beginnen, Armut als Produkt rassistischer Diskriminierung zu betrachten. Und diese Haltung hat sich bis heute nicht verändert.
Die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner gehen heutzutage davon aus, dass die Mehrheit der Schwarzen arm sind, obwohl das schon seit Jahrzehnten nicht mehr der Fall ist. Genauso wird auch fälschlicherweise angenommen, dass die meisten Weißen zur Mittelschicht gehören oder wohlhabend sind. Das führt dann zu einer Wahrnehmung, die Weiß und Schwarz als Symbole für Arm und reich interpretiert. Aber »Rasse« und Klassenunterschiede sind nun einmal nicht dasselbe. Dieses Denken ist eine Ablenkung und führt uns weg von einer Analyse der Klassenverhältnisse, auf deren Basis wir politische Macht aufbauen können.
Diese mangelnde Fähigkeit, die tatsächliche Komplexität des politischen Lebens wahrzunehmen und zu berücksichtigen, dass es innerhalb der Schwarzen Bevölkerung widersprüchliche Interessen gibt, führt allgemein zu einem sehr flachen Gesellschaftsverständnis. In einem Deiner Essays argumentierst Du, dass dieses essenzialisierende Denken mit dem Aufkommen der Standpunkt-Theorie verbunden ist. Ist dieser Ansatz noch zu retten oder war er von Grund auf fehlgeleitet?
Dieses Denken ist nicht hilfreich, weil in dieser Theorie Dinge miteinander vermengt werden, die nichts miteinander zu tun haben. Du kannst gemeinsam mit jemandem im selben Viertel aufwachsen, und dann wird man natürlich bestimmte Erfahrungen und Empfindungen teilen. Aber das muss sich nicht zwangsläufig in einer bestimmten politischen Positionierung niederschlagen, auch wenn uns die Standpunkt-Epistemologie etwas anderes glauben machen will. Wie man zu seinen politischen Überzeugungen kommt, ist ein unvorhersehbarer und oft auch wenig geradliniger Prozess. Ich meine, Friedrich Engels wurde nicht in Armut, sondern in eine Fabrikantenfamilie hineingeboren. Er hätte ein Fabrikbesitzer, Kapitalist und Ausbeuter werden können. Aber er ist genau das Gegenteil davon geworden.
»Wenn wir das Leben Schwarzer Menschen ehrlich und aufmerksam betrachten, dann erkennen wir dort die gleichen Klassenwidersprüche wieder, die auch in der breiten Bevölkerung vorhanden sind.«
Ich bin in den Südstaaten aufgewachsen, habe an der Ostküste und im Mittleren Westen gelebt und bald werde ich an die Westküste ziehen. In all diesen Teilen des Landes wird Politik, gerade innerhalb der Schwarzen Bevölkerung, völlig unterschiedlich praktiziert und verstanden. Diese Komplexitäten gehen uns abhanden, wenn wir diese rassifizierten Verallgemeinerungen bedienen. Genau das war schon immer so gefährlich am Rassismus: Er blendet die Individualität und die Komplexität sozialer Interaktionen aus und etabliert falsche Trennungen und Hierarchien, um die Macht der kapitalistischen Klasse aufrechtzuerhalten und auszuweiten. Wenn wir das Leben Schwarzer Menschen ehrlich und aufmerksam betrachten, dann erkennen wir dort die gleichen Klassenwidersprüche wieder, die auch in der breiten Bevölkerung vorhanden sind.
Ein Slogan wie Black Lives Matter kann sich daher auch so gut an verschiedene Klassenpositionen anpassen. Es sollte daher wirklich niemanden verwundern, dass Menschen sich jetzt für Schwarzes Unternehmertum engagieren, etwa mit Slogans wie »Black Wealth Matters«. Als sich das abzeichnete haben viele Linke argumentiert, das sei ein typischer Fall von kapitalistischer Vereinnahmung einer radikalen Bewegung. Was allerdings nicht erkannt wurde, ist, dass diese Vereinnahmung im Interesse der bürgerlichen Milieus innerhalb der Schwarzen Bevölkerung ist. Denjenigen, die sich für die Förderung von »Black Wealth« einsetzen, spielt das in die Hände. Das sollte eigentlich offensichtlich sein, aber die Tatsache, dass es das offenbar nicht ist, hat katastrophale Folgen.
Nach der Ermordung von George Floyd haben die politischen und unternehmerischen Eliten die Gunst der Stunde genutzt, um den Mythos wiederzubeleben, dass wir das Wohlstandsgefälle zwischen Weißen und Schwarzen durch bestimmte Anleiheprogramme, Reparationszahlungen, Charity und der Förderung Schwarzen Unternehmertums beheben könnten. Aber keiner dieser technokratischen Ansätze wird die verzweifelte Lage der Überschussbevölkerung, zu der auch George Floyd gehörte, auch nur ansatzweise verbessern.
Wenn ich hier in Berlin einen anderen Afroamerikaner treffe und wir ein Gespräch beginnen, wird es sicherlich einige Dinge geben, die wir gemeinsam haben. Vielleicht gibt es bestimmte Musik, die uns sentimental werden lässt. Wenn wir im gleichen Alter sind, werden wir vielleicht feststellen, dass unsere Erfahrungen in der Jugend in gewisser Weise miteinander verwoben sind. Und sicherlich könnten wir auch ähnliche Geschichten über Diskriminierung austauschen; darüber, wie wir beim Einkaufen belästigt wurden, welche belastenden Begegnungen wir mit der Polizei hatten oder wie wir rassistisch beschimpft wurden und so weiter. Ich würde niemals abstreiten, dass Afroamerikanerinnen und Afroamerikaner eine gemeinsame Geschichte haben und ähnliche Erfahrungen teilen. Aber wenn wir anfangen über Politik zu reden, wird die Sache komplizierter. Wir können dieselben Erfahrungen teilen, aber was wir aus diesen Erfahrungen machen und wie wir die Welt verstehen, ist eine komplett andere Angelegenheit. Wir können nicht einfach Identität mit politischer Überzeugung gleichsetzen. Das ist einfach nicht hilfreich und versperrt den Blick auf die tatsächliche Komplexität des Lebens Schwarzer Menschen.
Als die Black-Lives-Matter-Proteste ihren Höhepunkt erreicht hatten, schien es wirklich so, als sei die öffentliche Meinung zur Polizei ins Wanken geraten. Sogar Zentristen im Parlament und große Konzerne haben die Bewegung zumindest rhetorisch unterstützt, und auch innerhalb der Bevölkerung hatte sie breiten Rückhalt. Nur zwei Jahre später sehen wir, dass die Regierung es nicht nur versäumt hat, weniger Geld in die Polizei zu stecken, sie hat die Finanzmittel für die Polizei sogar erhöht. Und jüngsten Umfragen zufolge scheint auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Polizei wieder gestiegen zu sein, so als wäre nichts geschehen. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?
Um zu verstehen, warum die Proteste gegen den Mord an George Floyd so groß und so spektakulär waren, müssen wir uns zunächst vor Augen halten, dass es sich dabei um einen wirklich extremen Fall von Polizeibrutalität handelte. Es war so offensichtlich, dass das, was diesem Mann widerfahren war, schlicht und ergreifend falsch war.
»Es gibt einen fundamentalen Unterschied zwischen Mobilisierung und Organisierung. Es ist ziemlich einfach, Leute zu empören. Aber Massenproteste sind nicht dasselbe wie in der Bevölkerung verankerte politische Macht.«
Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass die Proteste in eine Zeit fielen, als die strengen Corona-Auflagen aufgehoben wurden. Die Proteste, die sich schnell auch über die Grenzen der USA hinweg ausbreiteten, boten einen gesellschaftlich akzeptablen Grund, sich wieder in der Öffentlichkeit zu bewegen. Viele dieser Proteste hatten in Teilen eine fast partyähnliche Atmosphäre, da man Freundinnen und Freunde zum ersten Mal seit Monaten wieder persönlich sehen konnte. Das muss man bedenken, wenn man sich die Frage stellt, wie sehr man sich dem politischen Auftrag verpflichtet fühlte, der in jenen Wochen auf den Demonstrationen, Mahnwachen, Konzerten, Kundgebungen und Krawallen formuliert wurde. Abgesehen von einer Reihe engagierter Black-Lives-Matter-Aktivisten, muss man sich fragen, wie ernst es den vielen Menschen auf der Straße mit ihrer Unterstützung für das eigentliche Anliegen der Proteste war. Mit Blick auf die letzten zwei Jahre müssen wir anerkennen: nicht besonders ernst.
Es gibt außerdem einen fundamentalen Unterschied zwischen Mobilisierung und Organisierung. Es ist ziemlich einfach, Leute zu empören. Die Ermordung von George Floyd, Ahmad Arbery und Breonna Taylor hat die Menschen wütend gemacht, und das zu Recht. Aber Massenproteste sind nicht dasselbe wie in der Bevölkerung verankerte politische Macht. Proteste sind nicht immer dazu in der Lage, das Handeln der Herrschenden zu beeinflussen – sie können von den Mächtigen unterdrückt, ignoriert, belächelt oder vereinnahmt werden. Es gibt eine Diskrepanz zwischen Mobilisierung und realer Macht, und viele Aktivisteninnen und Intellektuelle, die ich kenne und die sich von der Euphorie der Proteste mitreißen ließen, sehen diesen Unterschied nicht mehr. Sie dachten, diese Proteste sind die Vorboten für eine Art Linksruck.
Wir können Menschenmengen mobilisieren, aber wir waren nicht in der Lage, die Unterstützung der breiten Masse auf eine nachhaltige Weise zu organisieren, die eine andere, sozial gerechtere Ordnung erkämpfen könnte. Und genau das erfordert mehr als nur Demonstrationen. Es bedeutet Arbeit, es bedeutet neue Menschen in diese Arbeit einzubinden, es bedeutet Menschen zu überzeugen und mit ihnen eine Beziehung als Genossinnen und Genossen einzugehen – also nicht als Freundinnen und Freunde, sondern als Menschen, die sich für dieselben Interessen einsetzen. Diese Art der nachhaltigen politischen Organisierung macht nicht immer Spaß, manchmal ist sie dröge, manchmal mühsam und manchmal undankbar. Aber wenn wir der Masseninhaftierung und der Waffengewalt wirklich etwas entgegensetzen wollen, kommen wir um diese Arbeit nicht herum. Mit der Organisierung von Macht können wir viel mehr erreichen als mit Massenprotesten. In der US-Linken ist hier noch viel Luft nach oben.
Ohne Macht werden unsere Überzeugungen also fromme Wünsche bleiben. Die Art von politischer Organisierung, die Du gerade beschrieben hast, basiert klar auf der Mobilisierung von gemeinsamen Klasseninteressen. Gleichzeitig wird genau dieser Ansatz immer wieder hart kritisiert – und zwar nicht nur von Konservativen, sondern auch von vielen Linken, die diese Strategie als »Klassenreduktionismus« diskreditieren.
Wer Klasseninteressen die oberste Priorität einräume, sei dazu verdammt, rassistische Diskriminierung zu reproduzieren, das würde etwa der New Deal beweisen. Dieser habe auch die Lebensumstände der gesamten Arbeiterklasse verbessern sollen, habe aber die Schwarze Arbeiterklasse im Stich gelassen, so das Argument. Du widersprichst dieser Darstellung.
Ich meine, das ist absolut unglaublich. Es ist eine Sache, wenn es Journalistinnen und Journalisten auf der Suche nach einem bissigen Hot Take für ihren neuesten Meinungsartikel mit den historischen Gegebenheiten nicht so genau nehmen. Gerade während des Präsidentschaftswahlkampfes 2016 hat man das beobachten können, als solche Behauptungen in den Medien kursierten, oftmals mit dem Ziel, die Politik von Bernie Sanders schlechtzureden. Es ist aber noch beunruhigender, wenn Historikerinnen und Historiker diese Lügen verbreiten. Man muss das in dieser Härte sagen, sie lügen einfach. Viele Behauptungen über den vermeintlichen Rassismus des New Deal widersprechen den tatsächlichen historischen Ereignissen und auch den Erfahrungen von Hunderttausenden Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern.
Schwarze profitierten besonders von der Works Progress Administration [Anm. d. Red.: New-Deal-Programm, das Arbeitslosen Arbeitsplätze beim Bau öffentlicher Infrastrukturprojekte bot]. Sie waren in der Belegschaft zahlenmäßig überrepräsentiert. Das Gleiche gilt auch für das Civilian Conservation Corps [Anm. d. Red.: Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des New Deal für die Erhaltung natürlicher Ressourcen]. Es war sogar im Bundesgesetz festgeschrieben, dass die Arbeitsplätze des Civilian Conservation Corps gemäß des proportionalen Anteils der Schwarzen innerhalb der Gesamtbevölkerung verteilt werden mussten. Das wird alles unter den Teppich gekehrt.
Es gab sogar Aspekte des New Deal, die offensiv antirassistisch waren, wie die Slave Narrative Collection [Anm. d. Red.: Projekt der Works Progress Administration, das arbeitslosen Schriftstellerinnen und Schriftstellern Arbeit bot, um die Geschichten ehemaliger Sklaven zu sammeln und aufzubereiten]. Trotzdem hat sich die Idee durchgesetzt, der New Deal habe die Rassentrennung in der Politik fortgeschrieben. Dabei gibt es eindeutige Beispiele, die das Gegenteil bezeugen. Dank dieses Projekts haben wir heute ein Audioarchiv, das Zeitzeugenberichte von Versklavten aus der Ära vor dem amerikanischen Bürgerkrieg bewahrt – das ist wirklich von immenser Bedeutung.
»Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner wissen ganz genau, dass dieses Gesellschaftssystem gegen sie arbeitet. Aber ihnen ist nicht klar, wie sie diesen Verhältnissen entkommen können.«
Denjenigen, die argumentieren, dass wir nicht versuchen sollten, breite Institutionen für die Arbeiterklasse aufzubauen und für den Sozialismus zu kämpfen, würde ich entgegnen, dass diese Argumentation die Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse bricht und uns spaltet. Wenn wir keine klassenbasierte Politik machen und uns nicht darauf fokussieren, wie der Kapitalismus unser Leben bestimmt, dann können wir einfach nicht die Art von Klassenbewusstsein, Arbeitersolidarität und politischer Macht aufbauen, die notwendig ist, damit wir diesen Kampf gewinnen können.
Wir stehen aber vor einem noch größeren Problem. Viele Amerikanerinnen und Amerikaner haben den Glauben an die Politik und die Demokratie verloren. In gewisser Weise kann ich ihnen das nicht verübeln. Wir haben das Desaster der Trump-Präsidentschaft alle ertragen – die ungeschönteste Darstellung der Arroganz der herrschenden Klasse, angesichts derer sich so viele Menschen machtlos fühlen. Die Lage ist wirklich kritisch. Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner wissen ganz genau, dass dieses Gesellschaftssystem gegen sie arbeitet. Sie leiden unter der jahrzehntelangen Lohnstagnation und der stetigen Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen, unter finanzieller Unsicherheit und Prekarität. Aber ihnen ist nicht klar, wie sie diesen Verhältnissen entkommen können. Fatalismus und Apathie sind natürlich nicht die Antwort. Wenn Menschen erst einmal davon überzeugt sind, dass sie nichts tun können, dass es keinen Unterschied macht, ob sie wählen gehen oder nicht, dass ihre Interessen nicht gehört werden, dass ihnen das politische Geschehen im Grund egal sein könnte, dann bereitet man den Boden für Trump und andere gefährliche Akteure.
Wir brauchen Deiner Meinung nach also eine breite linke Koalition, um die Ursachen der Polizeigewalt zu bekämpfen. Da stimme ich Dir vollkommen zu, nur ist das natürlich ein sehr langfristiges Ziel. Gibt es Deiner Meinung nach Reformen, die auf dem Weg dorthin unterstützenswert sind, um die Masseninhaftierung einzudämmen und dafür zu sorgen, dass nicht mehr so viele arme Menschen durch die Polizei ihr Leben verlieren, um es mal drastisch zu sagen?
Seit 2020 gibt es in einigen Bundesstaaten gewaltfreie Einsatzteams für psychische Krisensituationen, da Menschen mit psychischen Erkrankungen besonders häufig Opfer von Polizeigewalt werden. Das finde ich richtig und begrüßenswert. Ein anderer Aspekt ist die Entkriminalisierung. Würde man etwa Cannabis in allen Bundesstaaten legalisieren und die Strafakten von Menschen, die für den Handel und Besitz von Cannabis inhaftiert wurden, löschen, würde das viel bewirken. In meinem Heimatstaat Louisiana gehen immer noch Menschen für den Verkauf von Cannabis ins Gefängnis, während das etwa in Illinois nicht mehr als Verbrechen geahndet wird. Wie Du ja auch gesagt hast, handelt es sich dabei um Formen der Überlebenskriminalität, die von Armen begangen werden. Wir sollten Menschen nicht ins Gefängnis stecken, weil sie versuchen, über die Runden zu kommen. Wir haben Cannabis in einem Bundesstaat legalisiert, und gleichzeitig zerstören wir das Leben von Menschen in anderen Teilen des Landes wegen eines Bagatelldelikts. Das ist unnötig und ungerecht. Wir müssen die gesamte USA auf denselben Standard bringen und die Ungerechtigkeit des jahrelangen War on Drugs rückgängig machen. Ähnlich verhält es sich mit Sexarbeit, die auch entkriminalisiert werden muss.
Viele Aspekte des Strafvollzugs sollten außerdem abgeschafft werden, das gilt für das Kautionssystem und unterfinanzierte Pflichtverteidigerinnen und Pflichtverteidiger. Die sind oft so überarbeitet, dass sie die Menge der ihnen zugewiesenen Fälle überhaupt nicht bewältigen können und daher keine andere Wahl haben, als für ihre Klientinnen und Klienten Deals auszuhandeln, bei denen diese auf schuldig plädieren müssen, anstatt sie vor Gericht engagiert zu verteidigen.
Bei all diesen Reformen geht es im Prinzip um soziale Ungleichheit. Das zeigt auch noch einmal, wie sehr sich das derzeitige System gegen Menschen in Armut richtet.
Genau, denn das sind die Menschen, die am ehesten im Gefängnis landen. Deshalb müssen wir gleichzeitig die zugrunde liegende Ungleichheit bekämpfen. Eine Wiederbelebung von Programmen zu Schaffung staatlicher Arbeitsplätze könnte dieses Problem effektiv angehen. Während des New Deal haben wir öffentlich finanzierte und öffentlich verwaltete Beschäftigungsprogramme entwickelt. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Entwicklung der Infrastruktur öffentlich finanziert, aber privat verwaltet. So wurde das Autobahnsystem unter Eisenhower gebaut und so wird es auch heute instand gehalten – nicht durch öffentlich angestellte Beschäftigte, sondern durch Bauunternehmen und private Subunternehmer, die vom Staat Aufträge erhalten.
Warum können wir das öffentliche Bauwesen nicht wiederbeleben, auch für die Großstädte? Und warum können wir das nicht auf demokratische Weise tun, damit Menschen mitbestimmen können, was sie in ihren Städten brauchen, ob es jetzt um mehr Radwege geht oder den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, mehr öffentlichen Wohnraum oder mehr Investitionen in den Pflegesektor, ein weiterer Bereich wichtiger, aber schlecht bezahlter Arbeit. In jeder Stadt gibt es alle möglichen Bedürfnisse, die der kapitalistische Markt nicht befriedigt. Diese Bedürfnisse werden von Ort zu Ort unterschiedlich sein, aber wir könnten demokratische Planung und ein öffentliches Jobprogramm nutzen, um unser gesellschaftliches Leben so zu organisieren, dass der Nutzen und nicht der Profit im Vordergrund steht. Nur so können wir die zugrunde liegende Ungleichheit bekämpfen, die sich in exzessiver Polizeigewalt und Masseninhaftierung ausdrückt.