19. Juli 2023
Als Sprachreform noch ein linkes Gewinnerthema war.
»Im Deutschen müsste sich unter anderem das Y vor solchem Kulturbolschewismus fürchten.«
Illustration: Zane Zlemeša1918 in Russland, das erste Jubiläum der Oktoberrevolution stand ins Haus, die Aristokratie war entmachtet, die Kirchengüter enteignet – nun schafften die Bolschewiki per Dekret auch noch die Lieblingsbuchstaben der ehemals Herrschenden ab.
Drei verschiedene i-lautende Zeichen wurden zu einem zusammenrationalisiert. Von zwei F-Formen musste eine dran glauben. Und ein Buchstabe, der optisch ein bisschen wie ein Reichsapfel anmutete – die handliche Kugel mit aufgesetztem Kreuz, die man des öfteren auf historischen Gemälden weltlicher Herrscher christlichen Glaubens findet –, wurde gestrichen, weil es ein einfaches E auch tat.
In welchem Fall welches Zeichen gesetzt wurde, wusste man nur, wenn man es auswendig gelernt hatte. Im ausgehenden Zarenreich, in dem der Alphabetisierungsgrad bei nur 25–30 Prozent lag, traf das in erster Linie auf den Adel, den Klerus und andere gehobene und gebildete Schichten zu. In der Sowjetunion hingegen sollte jeder Mensch, der Russisch sprechen konnte und das Alphabet kannte, auch korrekt schreiben können.
Die Bolschewiki kamen nicht als erste auf diese Idee. Eine Expertenkommission der russischen Akademie der Wissenschaften diskutierte eine solche Reform bereits 1904, aber konservative Kräfte stiegen auf die Bremse. Unter Lenin und Co. ging es nun auch deshalb schneller voran, weil sie es sich mit den Konservativen ohnehin schon verscherzt hatten. Exilierte Fans des Zarismus und der orthodoxen Kirche verwendeten die alte Rechtschreibung noch Jahrzehnte später aus Trotz, doch auch sie mussten sich schließlich der Vernunft geschlagen geben.
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Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.