19. Juli 2023
Im Zeitalter Künstlicher Intelligenz müssen wir nicht weniger lernen, sondern mehr.
»Eine Möhre kann man sich als zusammengesetzten Körper aus einem Zylinder und einem Rotationsparaboloid vorstellen.«
Illustration: Nico H. BrauschDie textgenerative Software ChatGPT des US-amerikanischen Unternehmens OpenAI hat sich so schnell verbreitet wie noch keine Technologie zuvor in der Geschichte. Doch ebenso rasant sprachen sich in Medien, Politik und am Stammtisch Halbwissen und Bullshit über ChatGPT und sogenannte Künstliche Intelligenz im Allgemeinen herum. Sich einiger dieser Irrtümer gewahr zu werden, sollte von ausgesprochenem Interesse für all diejenigen sein, die dieser Technologie als mündige User gegenübertreten wollen.
Schon wenige Wochen nach dessen Einführung hyperventilierte man in Lehrerzimmern und unter Hochschulpersonal, dass sämtliche Lernaufgaben, Leistungskontrollen und schriftliche Abschlussarbeiten bis hin zu wissenschaftlichen Fachpublikationen bald nicht mehr fair bewertet werden könnten, wenn sie in Teilen oder in Gänze von generativer Künstlicher Intelligenz erzeugt würden. Gewieftere Kolleginnen scherzten, dass man sich dann auch gleich alle Mühen sparen könnte, indem man die Bewertung selbst an die KI abträte. Besonders besorgte Universitäten geben schon erste prüfungsrechtliche Hinweise bekannt und die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Simone Fleischmann, eine weltbekannte KI-Expertin, weiß schon »ganz genau, wie man KI in ein gutes Bildungssystem integrieren kann«, und fordert, dass die »Leistungsmessung« sich deshalb nun ändern müsse.
Auch außerhalb des Bildungswesens schallten die immer fortgesetzten, nie aufhörenden Vorschläge zur Abschaffung jeglicher Formen von anspruchsvollem Denkhandwerk durch die Meinungskorridore: Ob journalistisch, poetisch, belletristisch, übersetzend, lektorierend, berechnend, bürokratisch, wissenschaftlich oder codierend – große Sprachmodelle wie ChatGPT beherrschten das alles, und zwar viel korrekter und viel zeitsparender als wir. Wenig verwunderlich ist also, dass dieses Märchen besonders in Management-Etagen gut ankommt, und wir können uns darauf einstellen, dass es schon bald als bequemer Vorwand für weitere Arbeitszeitverdichtungen, Lohnkürzungen, Entlassungen und sonstige Schweinereien zur Rentabilitätssteigerung dienen darf.
Insbesondere jetzt, wo Mark Zuckerbergs »Metaverse« in die Hose gegangen ist, ächzt der Technologiemarkt unter der wachsenden Skepsis der Investoren, die auch inflationsbedingt ihr Risikokapital zurückhaltender verteilen. Man sehnt sich nach einer neuen Technologieblase und Möglichkeiten, noch mehr Produktivität aus den arbeitenden, erst recht aus den kreativen Menschen herauszupressen, denen man kürzlich noch zutraute, gegen Automatisierung gefeit zu sein. Dass die große Mehrzahl der Menschen für (wenn überhaupt) einen Mindestlohn harte, ätzende und oder unnütze Arbeit fürs Kapital verrichtet, während Chatbots Gedichte für uns schreiben und Text-zu-Bild-Generatoren malen dürfen, ist jedenfalls keine Zukunft, die wir uns wünschen können. Ich wollte wirklich lieber dichten.
Abseits der Meinungskorridore weisen indes nur wenige Kundige auf all die realen Schäden hin, die sprachbasierte Künstliche Intelligenzen bereits anrichten und weiter anrichten werden, wie latente und manifeste Formen rassistischer und sexistischer Diskriminierung durch die einprogrammierte Befangenheit der Modelle, die Ausweitung der Überwachungsapparate und die fortschreitende Monopolmacht der Techgiganten im Silicon Valley. Der für die zusätzliche Hardware notwendige immense Ressourcen- und Energieverbrauch kann gar nicht oft genug erwähnt werden: Wettspiele um den tüchtigsten Börsenteilnehmer für Grafikprozessoren küren indes den US-amerikanischen Hardwarehersteller Nvidia zum Billionenkonzern, nur hätten wir ohne solche Prozessoren gar nicht die notwendige Rechenkapazität, dafür aber womöglich eine bessere weltweite Klimabilanz.
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Marlen van den Ecker ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich »Strukturwandel des Eigentums« an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie arbeitet zu einer Soziologie des geistigen Eigentums.