23. September 2024
Die hitzigen Debatten um das Gendern reißen nicht ab. Rechte Identitäre und linke Identitäre empören sich jeweils um den Sprachgebrauch der Gegenseite. Die Auseinandersetzung mit der Geschlechtergerechtigkeit wird dadurch zu einem Streit um Kommunikationsstile degradiert.
»Es geht aber nicht, dass Sprache am Ende verordnet wird«, findet CSU-Chef Markus Söder – und verhängt selbst ein Genderverbot.
Gendersensible Sprache triggert die Gemüter. Aus der Diskussion um Sprache ist eine Frage um Identität, Gesellschaft und Geschlecht geworden. Kritikerinnen und Kritiker erachten das Gendern als übergriffiges Handeln einer Minderheit, während seine Befürworterinnen und Befürworter darin die Chance für die Neukonstruktion von Geschlechtsidentitäten, sozialen Beziehungen und gesellschaftlicher Normen sehen, die das Zusammenleben sowie die Bestimmung von sozialem Geschlecht verändern und zu einer gerechten Gesellschaft beitragen.
Vor allem Rechtskonservative, Klerikale aber auch Liberale kritisieren das Gendern sehr emotional. Für sie gefährdet das Gendern bestehende tradierte Normen, Sichtweisen und Werte, die den alten gesellschaftlichen Commonsense definieren, und der durch linke Identitätspolitik in Frage gestellt wird. Die Debatte um Sprache und Gendern sei ideologisch und würde von den wahren gesellschaftlichen Problemen ablenken, die eigentlich bearbeitet werden sollten. Die Gesellschaft verliere aufgrund dieser Debatte ihren kulturellen und moralischen Kompass.
Umgekehrt glauben die Beführworterinnen und Befürworter gendersensiblen Sprechens und Schreibens, das Gendern neue Werte und Normen vermittelt, neue Freiheiten schafft und der Pluralität von Geschlechteridentitäten kulturelle Anerkennung verschafft. Sprache wird von ihnen als Machtfaktor verstanden, der das Denken und Handeln verändert, indem Sprache zu einer neuen Normalität beiträgt. Alte Gesellschaftsbilder, die die Geschlechterdifferenz aufrechterhalten, würden so dekonstruiert, wodurch marginalisierte Gruppe in ihrer kulturellen Identität Anerkennung fänden.
Um die Genderfrage ist ein kommunikativer Konflikt entflammt, der nicht im Sinne eines argumentativen Streits, sondern auf der Grundlage emotionaler Empörung geführt wird. Dieser emotionale Konflikt wurde nun in Bundesländern wie Bayern, Hessen aber auch in Sachsen Anhalt durch gesetzliche Regelungen autoritär gelöst. So hat etwa der bayrische Staat im April dieses Jahres seinen Behörden verboten zu gendern. Auch der Staat Hessen untersagt seinen Schulen die Anwendung gendersensibler Schreibweise und andere Bundesländer wollen nachziehen. In diesem Kontext wird den Behörden nicht nur das generische Maskulinum, sondern auch das generische Femininum verordnet. Zu benennen wäre hier der Landkreis Rotenburg in dem unter der Rigide der CDU die Behörde per Dienstanweisung angehalten wurde, nur noch im generischen Femininum zu Schreiben. Doch kritisieren vor allem Parteien wie die CDU/CSU oder die AfD das Gendern aufs Schärfste und mobilisieren ihre Basis zu diesem Thema. Im Gendern präsentiere sich hiernach die Ideologie von Minderheiten, die der gesellschaftlichen Mehrheit übergestülpt würde und daher im Sinne der Mehrheit abgeschafft gehöre.
»Das wiederum führt dazu, dass kaum gefragt wird, ob Gendern auch das bringt, was ihm angedichtet wird. Vielmehr ist die Auseinandersetzung ums Gendern zu einem moralischen Streit geworden.«
Doch während die gendersensible Sprache vor dem Verbot freiwillig von denen praktiziert wurde, die in ihr eine moralische Verpflichtung sahen und die anderen weiterhin so sprechen konnten, wie sie wollten, ist dies nun in Bayern und Hessen so nicht mehr möglich. Die oben benannten Staaten haben durch ihr Verbot eine normative Klarheit im Sinne binärer Geschlechtsidentität geschaffen, die den alten patriarchalen Commonsense festschreibt. Doch ist zu berücksichtigen, dass das sprechende Subjekt in beiden Fällen in seiner Dualität zum Geschlecht und seiner Funktion im gesellschaftlichen Konsens zu sehen ist. Aus diesem Grund wäre bei der Frage um das Gendern zuerst einmal ein argumentativer Streit darüber zu führen, wie die Wirklichkeit geschlechtlicher Hierarchien im bestehenden Kapitalismus aussieht und wie das Individuum im Sinne seines Materialismus überhaupt im Bestehenden existiert. Gendersensible Sprache löst die Selektivität des Arbeitsmarktes nicht auf und schafft die materiellen Zwänge des Kapitalismus nicht ab, die zu Diskriminierung beitragen.
Ein solcher dialektisch argumentativer Streit um den Gegenstand findet jedoch im Konflikt um das Gendern nicht statt. Vielmehr wird Sprache im Sinne rechter wie linker Identitätspolitik zu einem funktionalen Mittel eigener Machtansprüche degradiert, um Privilegien zu verschieben, zu erhalten oder abzubauen. Der argumentative Streit tritt zu Gunsten eines vulgären Essentialismus beziehungsweise Kulturalismus in den Hintergrund. Das wiederum führt dazu, dass kaum gefragt wird, ob Gendern auch das bringt, was ihm angedichtet wird. Vielmehr ist die Auseinandersetzung ums Gendern zu einem moralischen Streit um kollektive Kommunikation im Sinne der Identität geworden. Als gute Staatsbürgerinnen und Staatsbürger machen sich die Protagonistinnen und Protagonisten rechter wie linker Identitätspolitik in erster Linie Gedanken um den sittlichen Austausch im Gemeinwesen und die Frage, ob in ihm alle und vor allem die richtigen Angesprochen werden. Hierbei empören sich die Kontrahenten über vermeidlich amoralische Verhaltensweisen und kulturalistische Verwerfungen des Gemeinwesens mit dem Ziel, diese moralisch zu retten. Als gute Staatsbürgerinnen und Staatsbürger sind sie vor allem eins: Moralisten des Gemeinwesens. Und als solche sehen sie an jeder Ecke Diskriminierungen, deren Ursache sie aber nicht überwinden, sondern nur unter den Bedingungen des Bestehenden im Sinne sozialer Gerechtigkeit regeln wollen. Der eigene Moralismus wird dabei im Sinne der Identitätslogik zur Messlatte, über die jeder zu springen hat.
Auch im Diskurs um das Gendern steht einzig und alleine die Identität als begründende Größe im Raum, wobei der Fakt verdrängt wird, dass aus der Identität alleine erst einmal nur die subjektive Wahrnehmung und Interpretation der individuellen Lebenssituation folgt und kein abstrakter Zusammenhang oder gar eine politische Überzeugung. Der Mensch bezieht sich aus der eigenen Identität heraus auf die Welt und macht seine Interpretationen und Erfahrungen. Ob diese richtig oder falsch sind und ob sich aus ihnen ein richtiges Bewusstsein über die Welt ableitet, wäre durch den argumentativen Streit zu klären. Doch nur weil Identitätsgruppen in der Sprache berücksichtigt werden, heißt das nicht, dass sich das in ein herrschaftsfreies Zusammenleben beziehungsweise eine Emanzipation von Herrschaft übersetzt.
»Im Sinne neuer deutscher Spießigkeit affirmiert sich der identitätspolitisch Handelnde zum ideellen Hausmeister des Bestehenden.«
Identitätspolitik konstruiert ideologische Zusammenhänge wo keine sind und reduziert subjektive Problemlagen im Sinne von Gendern auf die kulturelle Kommunikation im Bestehenden, wobei reale Machtfaktoren der Herrschaft des Kapitals vernachlässigt werden. Zwar wird versucht anhand veränderter kultureller Kommunikation Menschen zur Selbstemanzipation im Bestehenden zu verhelfen. Doch ist diese Beschränkung auf die Verhältnisse des Kapitalismus nur das, was die Welt aus uns gemacht hat. Sie dient somit nicht der Selbstemanzipation von marginalisierten Gruppen, sondern ist eher die Voraussetzung ideeller Integration ins Bestehende, als Konkurrenzsubjekte. Auf Grund von Identitätslogik konkurrieren Meinungen und subjektive Sichtweisen miteinander, ohne den Anspruch auf Geltung zu erheben. Aus diesem Grund empfinden Identitäre die Kritik subjektiver oder kollektiver Meinungen als die Infragestellung der eigenen Identität und empören sich emotional, anstatt den Inhalt der Kritik zu prüfen. Im Sinne neuer deutscher Spießigkeit affirmiert sich der identitätspolitisch Handelnde zum ideellen Hausmeister des Bestehenden. Als dessen moralisches Gewissen wird eher gecancelt, als um den Inhalt gestritten.
Aus diesem Grund hat nicht die Identitätspolitik oder die Frage, ob man Gendern gutheißt oder nicht, die Basis linker Politik zu sein, sondern die dialektische Analyse der Verhältnisse und ihrer Widersprüche. Im Sinne eines argumentativen Streits hat linke Politik zu einem richtigen Bewusstsein der Verhältnisse beizutragen, dessen Konsequenz über das Bestehende hinausreicht. Es ist die Systematik des Bestehenden, sein ideologischer Überbau sowie seine Produktionsweise, die die Menschen in kollektive Zusammenhänge bringt und sie Zwängen aussetzt, aus denen sich subjektive und kollektive Interessenlagen, Diskriminierungen und Abhängigkeiten begründen. Hierbei ist es durchaus richtig, das Probleme und Konflikte aus der subjektiven Lebenswelt interpretiert und Urteile abgeleitet werden. Daraus eine Kausalität der Identität abzuleiten, wäre aber ein Fehler. Vielmehr muss eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand und keine emotionale Reaktion folgen. Kollektives Handeln braucht objektive Begriffe und keine moralistische Empörung. Es ist die Aufgabe linker Praxis, die objektiven Widersprüche des Bestehenden zu überwinden. Hierzu gehört auch die Veränderung von Sprache. Doch ist dies nicht das entscheidende Ziel.
Friedrich Böttiger ist promovierter Kultur- und Bildungswissenschaftler. Kürzlich erschien von ihm Der Mensch ohne Gesicht (Alibri Verlag).