08. Dezember 2022
Der Linken fehlt die gesellschaftliche Verankerung, um Menschen in dieser Krise für sich zu gewinnen. Ein Kampagnenvorschlag.
Durch die Fokussierung auf ein einmaliges, medienwirksames Event verpuffen Stunden der politischen Arbeit mit der nächsten Pushmeldung.
Die Linke befindet sich in einer paradoxen Situation. Einerseits schreit die Preiskrise nach sozialistischen Lösungen – Forderungen nach Umverteilung und sogar Vergesellschaftung der Daseinsvorsorge sind in der Bevölkerung so beliebt wie nie. Doch die Massenmobilisierung durch verschiedene linke Bündnisse, die sich vor allem in den Großstädten gebildet haben, bleibt bisher aus. Für dieses Dilemma ist nicht nur ein Grund, sondern ein Bündel an Ursachen ausschlaggebend.
Erstens dämpft die derzeitige Bundesregierung die Proteststimmung durch die Entlastungspakete immer gerade so sehr, dass sie nicht direkt auf die Straße getragen wird. Die unpopuläre Gasumlage hätte zur politischen Katastrophe werden können – man sagte sie gerade rechtzeitig ab. Trotzdem müssen wir festhalten: Die staatsinterventionistische Politik der Bundesregierung ist in erster Linie von Krisen getrieben, nicht von unseren Protesten. Linke Konzepte wie nun die Gaspreisbremse werden zwar angewendet, weil sie richtig sind, aber sie werden zu zaghaft und zu spät umgesetzt. Die Linke agiert dabei im besten Fall als Stichwortgeberin, ohne jedoch wirklich politischen Einfluss auszuüben. Hierfür fehlt ihr schlichtweg der Machthebel.
»Mit über fünf Millionen Mitgliedern besitzen sie immer noch die größte gesellschaftliche Basis, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen durck kollektive Selbstermächtigung – anstelle kollektiver Bettelei – durchzusetzen.«
Zweitens sind diejenigen, die am meisten unter den Krisen leiden, auch diejenigen, die seit Jahren oder vielleicht Jahrzehnten politisch nicht mehr erreichbar, geschweige denn organisiert sind. Mit der Transformation der SPD zur »Marktsozialdemokratie« (Oliver Nachtwey) wurde der Bruch zwischen den Arbeitenden im Niedriglohnsektor und der parlamentarischen Linken vollendet. Das untere Drittel wird in den Parlamenten kaum repräsentiert und auch keine andere Organisation oder Bewegung hat diese Lücke füllen können. Für die politische Linke ist die in diesem Teil der Gesellschaft besonders große Apathie und Hoffnungslosigkeit einer der wesentlichen Knackpunkte. Durch eigene Regierungsbeteiligungen oder eine zurückhaltende, angepasste Politik sind auch Linkspartei und Gewerkschaften nicht mehr die natürlichen Partnerinnen derjenigen, die diese Organisationen am meisten brauchen.
Drittens konnten die üblichen Bündnisstrategien der großen Organisationen und Gruppen in der Vergangenheit wie auch in diesem Herbst immer seltener über die eigene Blase hinaus Menschen auf die Straße mobilisieren. Auch dieses Dilemma ist nicht erst seit gestern zu beobachten. Mit Blockupy, Grenzenlose Solidarität statt G20, Unteilbar und kürzlich dem Solidarischen Herbst haben wir eine Reihe von Großdemonstrationen erlebt, die, obwohl sie fast alle Kräfte der organisierten Linken bündelten, in der Welt der abhängig Beschäftigten so gut wie keinen Unterschied gemacht haben. Die strategische Ausrichtung solcher Kampagnen krankt immer wieder am gleichen Problem: Sie setzt auf Mobilisierung statt Organisierung und hat Akzeptanz und Aufmerksamkeit in einer »bürgerlichen Öffentlichkeit« (Oskar Negt und Alexander Kluge) zum Ziel, anstatt eigene Erfahrungsräume und neue solidarische Beziehungsweisen zu schaffen. Durch die Fokussierung auf ein einmaliges, medienwirksames Event verpuffen Stunden der politischen Arbeit mit der nächsten Pushmeldung.
Viertens ist ein Teil der parteipolitischen Linken entweder selbst in der Bundesregierung vertreten und erlebt dort den schon oft beobachteten Marsch durch die Institutionen, wobei sie von Machtpolitik zerrieben wird, oder verharrt wie die Partei DIE LINKE in einem quälenden Zustand der Zerrissenheit. Letztere müsste in dieser Krise die parlamentarische Stimme einer linken Gegenbewegung sein, ist im Moment aber nicht einmal in der Lage, ein kohärentes Programm auszuformulieren, das Menschen erreichen oder gar überzeugen könnte.
Die Verantwortung verlagert sich deshalb fünftens immer stärker auf die Gewerkschaften, die mit Sozialprotesten in der Vergangenheit auch zurückhaltend waren, sich aber angesichts der hohen Lebenshaltungskosten mit der Frage konfrontiert sehen, ob sie ihr politisches Mandat nicht stärker ausfüllen müssten. Mit über 5 Millionen Mitgliedern besitzen sie als politischer Akteur immer noch die größte gesellschaftliche Basis in der Bundesrepublik. Und mit dem Streik verfügen sie über einen wirklichen Machthebel, um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen durch kollektive Selbstermächtigung – anstelle kollektiver Bettelei – durchzusetzen.
In der jüngsten Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie mobilisierte die IG Metall zwar 900.000 Menschen in den Arbeitskampf, erzielte aber einen Abschluss, der keinesfalls zufriedenstellen kann. Zu unterschiedlich sind die Realitäten in der Fläche. Das Ergebnis einer zweistufigen Lohnerhöhung um gerade einmal 8,5 Prozent, bei einer Laufzeit von 24 Monaten und Optionen auf »Differenzierung«, macht es nicht gerade einfacher, in den kommenden Wochen und Monaten auch in anderen Branchen schlagkräftig einen Inflationsausgleich zu fordern. Mit ihrer defensiven Haltung wird es für die Gewerkschaften zunehmend schwieriger, die Bastion gegen Reallohnverlust zu sein.
All das bedeutet für die politische Linke, dass sie strategisch umdenken muss: von der kurzfristigen Mobilisierung im Rahmen klassischer Kampagnenpolitik hin zu einer Organisierung, in der Menschen sowohl ihren Protest zum Ausdruck bringen als auch sich selbst als wirksam wahrnehmen können. Neben einer überzeugenden Praxis fehlt vor allem der Aufbau von Beziehungen (und damit Vertrauen) über die eigene Blase hinaus – das heißt die gesellschaftliche Verankerung linker Politik.
Strategisch braucht Protest darüber hinaus Ankerpunkte. Solche Punkte können zum Beispiel dort entstehen, wo Beschäftigte Perspektiven gegen Reallohnverluste und Verarmung entwickeln – etwa in Lohnauseinandersetzungen zusammen mit ihren Gewerkschaften. In einigen offensiv geführten Arbeitskämpfen der vergangenen Jahre ist genau das passiert: Mit einem echten Machtaufbau von unten haben Beschäftigte ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und lebensverändernde Tarifverträge durchgesetzt. Dabei ist das Bewusstsein, das sie in diesen Kämpfen ausgebildet haben, nicht innerhalb der Grenzen ihrer Betriebe gefangen geblieben, sondern hat gesellschaftspolitische Dimensionen erreicht. So haben sich 2021 die Krankenhausbeschäftigten von Charité und Vivantes in Berlin mit einer betrieblichen und politischen Druckkampagne und einem mehr als einmonatigen Erzwingungsstreik nicht nur über Berufsgruppen hinweg stark gewerkschaftlich organisiert, sondern konnten vor allem auch echte Verbesserungen für viele Kolleginnen und Kollegen durchsetzen. Ihr Erfolg strahlt weit in andere Gewerkschaftsbereiche und in die Gesellschaft hinein.
Auch die Beschäftigten von Teigwaren Riesa versuchen in diesen Wochen trotz klammer Streikkassen eben nicht nur eine Lohnerhöhung um 2 Euro zu erstreiken: Sie kämpfen auch gegen den Niedriglohn und für die Angleichung der Ost-Gehälter. Und auch in der Metall- und Elektroindustrie greift man zu neuen Mitteln. So ließen sich zum Beispiel die Beschäftigten von vier Standorten des Automobilzulieferers Musashi Europe im Mai dieses Jahres nicht spalten und setzten unter dem Motto »Zukunft durch Widerstand« mit offensiver Konfliktführung und gegen die Verzichtsforderungen des Managements einen Zukunfts-, Transformations- und Sozialtarifvertrag durch.
Durch die zentrale Mitwirkung von Akteuren der politischen Linken sind Organizing sowie Ansätze einer offensiven und politischen Konfliktführung selbst im Elfenbeinturm Hochschule angekommen. Nachdem 2018 studentische Beschäftigte der Berliner Hochschulen erfolgreich einen neuen Tarifvertrag durchsetzen konnten, streikten 2021 – nach vorangegangenem Strukturaufbau – erstmals auch in anderen Städten wissenschaftliche Hilfskräfte für bessere Arbeitsbedingungen. Aktuell bereiten sie eine bundesweite Tarifbewegung für das nächste Jahr vor.
»Die Verbindung von Gewerkschaftskämpfen und Sozialprotest ist deshalb der Kern der Kampagne Genug ist Genug.«
Trotz dieser kleineren und größeren Erfolge der strategischen Erneuerung bleiben Gewerkschaften widersprüchliche Orte. Viele Hauptamtliche haben das Stellvertretertum verinnerlicht und klammern sich vielerorts noch immer an diese Rolle, obwohl die Sozialpartnerschaft bereits großflächig von der Kapitalseite aufgekündigt wurde. Trotz der relativen Stärke, die die Gewerkschaften in Deutschland nach wie vor besitzen, muss diese in Zeiten von Mitgliederverlust und Defensivkämpfen veraltete Kultur infrage gestellt werden. Organizing ist dafür nicht das einzige Mittel, aber sicherlich die Methode der Wahl.
Die Verbindung von Gewerkschaftskämpfen und Sozialprotest ist deshalb der Kern der Kampagne Genug ist Genug, die wir vor einigen Wochen von den britischen Kolleginnen und Kollegen von Enough is Enough übernommen und nach Deutschland geholt haben. In der britischen Kampagne ging das Streikgeschehen den Protesten voraus. Auch konnte sie sich auf eine existierende sozialistische Linke stützen, die besser in den Gewerkschaften verankert ist. Und die konservative Regierung in Großbritannien gibt einen eindeutigeren Gegner ab als die Ampel in Deutschland. Auch wenn wir es mit unterschiedlichen Verhältnissen zu tun haben, so eint uns doch die Grunderkenntnis der Arbeiterbewegung, dass wir nichts geschenkt kriegen, sondern uns alles selbst erarbeiten und erkämpfen müssen. Und wenn sich in Krisenzeiten nur wenige Gewinner die Taschen voll machen und der Staat allenfalls besänftigend eingreift, ist der Boden deutlich fruchtbarer für eine neue und offensive linke Politik.
Es mögen hierzulande nur einige kleine Feuerchen sein, die bisher lodern. Aber sie sind doch ein Anzeichen dafür, dass sich innerhalb der Gewerkschaften, aber auch der radikalen und bewegungsorientierten Linken etwas verschiebt. Auch in der Klimagerechtigkeitsbewegung ist viel stärker der Wunsch zu spüren, sich über die eigenen Forderungen hinaus Sozialprotesten anzuschließen und längerfristig gemeinsam gegen fossile Unternehmen und eine zerstörerische Politik vorzugehen. Genug ist Genug kann ein Banner sein, hinter dem sich verschiedene Gruppen und Personen versammeln, um realistische und radikale Forderungen aufzustellen und gemeinsam mehr Menschen zu erreichen, als sie es allein je könnten.
»Nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die kompromisslose Umsetzung realer Forderungen ist entscheidend.«
Um erfolgreich zu sein, müssen wir jedoch die übliche Bündnispolitik überdenken. Nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die kompromisslose Umsetzung realer Forderungen ist entscheidend. Das bedeutet, die eigene Polit-Gruppe, Partei oder Gewerkschaft nicht als Nische zu behandeln, in die wir uns wohlig zurückziehen können, sondern unsere Forderungen als Mehrheitspolitik zu begreifen. Es bedeutet, so viele Menschen wie möglich hinter dem Banner von Genug ist Genug zu versammeln, ohne die Forderungen oder die Angriffslust gegenüber Bundesregierung und Arbeitgebern zu verwässern. Wir brauchen ein starkes und stabiles Bündnis mit den Menschen, die von Armut betroffen oder erwerbslos sind – mit allen, die sich seit Jahren nicht mehr gesehen oder gar repräsentiert fühlen. Und wir müssen das Potenzial nutzen, das gerade dadurch entsteht, dass Arbeitskämpfe über die Betriebe hinausreichen und gewerkschaftliche Forderungen mit gesellschaftlichen zusammenfallen.
Das bedeutet, im Inhalt wie im gesamten Auftreten anschlussfähig zu sein. Linke Besserwisserei wird uns den Menschen an den Haustüren oder in den Betrieben nicht näher bringen. Dafür braucht es eine überzeugende Strategie und solidarische Beziehungen. Bei den Rallys von Genug ist Genug – den Saalkundgebungen, die nun, organisiert von den über dreißig entstandenen Orts- und Hochschulgruppen, in der ganzen Bundesrepublik stattfinden –, sind bereits viele Menschen über sich hinausgewachsen. All diese Momente können ein neues Fundament für eine menschennahe linke Politik schaffen, die den schweren Auseinandersetzungen der Zukunft standhalten kann.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.
Marvin Hopp ist Zerspanungsmechaniker und Sozialökonom. Aktuell studiert er an der Universität Göttingen. Er war bei der IG Metall bei Volkswagen in Braunschweig aktiv, heute unter anderem bei der TVStud-Kampagne und bei Genug ist Genug.