03. September 2022
Warum wir diese Kampagne brauchen.
Tausende haben sich vor der Kathedrale in Manchester versammelt. »Wenn Du kämpfst, kannst Du verlieren. Wenn Du nicht kämpfst, verlierst Du immer«, ruft ihnen Eddie Dempsey von der britischen Eisenbahnergewerkschaft RMT zu. Er muss seine Rede draußen vor den Türen halten, weil zu viele Menschen zu der Kundgebung gekommen sind. Anlass sind die enormen Preissteigerungen, die auch in Großbritannien in eine Zeit fallen, in der eine Krise die nächste jagt, die Löhne stagnieren und bis auf die Aktionäre einiger Großkonzerne niemand hoffnungsvoll in die Zukunft schaut. »Enough is Enough« (auf Deutsch: Genug ist Genug), lautet die Antwort der Kampagne, die den Schwung wochenlanger Streiks der Eisenbahner und Postangestellten in eine breite Bewegung überführt.
Innerhalb weniger Wochen haben über eine halbe Million Menschen in Großbritannien den Aufruf der Kampagne unterzeichnet. Er fordert höhere Löhne, das Ende der maßlosen Preissteigerungen bei der Energieversorgung, ein Recht auf lebenswerten Wohnraum, bezahlbare Lebensmittel und die Besteuerung der Reichen. Essen, Wohnraum, Energie – dass Menschen für die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse protestieren müssen, zeigt, wie eklatant die Lage ist, in einem Land mit einer Inflationsrate von über 10 Prozent und kaum vorhandener sozialer Absicherung. Gewerkschaftsführer wie Mick Lynch oder Dave Ward bringen es in erfrischender Klarheit im britischen Fernsehen auf den Punkt: Dass es nun die einfachen Leute sind, die in der Krise die Zeche bezahlen sollen, ist nur der jüngste Angriff von oben in einem seit Jahren andauernden Klassenkampf.
Wer nun glaubt, dieser Konflikt tobe nur anderswo, irrt. Auch wenn unsere Gewerkschaften die Wahrheit bisher nur deutlich leiser aussprechen: Auch hierzulande wachsen die Löhne kaum, während die Preise enorm steigen. Im Klartext bedeutet das: Die Reallöhne sinken und uns bleibt weniger zum Leben. Der kalte Wind, der uns im kommenden Herbst ins Gesicht wehen wird, ist kein unausweichliches Resultat höherer Umstände wie Krieg und Ressourcenmangel. Er ist Ergebnis der systematischen Privilegierung der Interessen der Oberen auf unsere Kosten. Banken und Unternehmen werden gerettet, wo immer es nötig ist, doch statt im Gegenzug ihre Gewinne und Dividenden anzutasten, wird die Rechnung an die Menschen weitergereicht, an alle, die die Konzerne reich machen, indem sie zur Arbeit gehen, ganz gleich, wie die pandemische und geopolitische Lage gerade ist.
Hier wie dort gilt also die Devise: »Genug ist genug«. Sie drückt die Notlage aus, die uns derzeit überall begegnet, wo wir leben und arbeiten. Wir können diese Umstände nicht länger hinnehmen, wir können nicht immer länger und immer mehr arbeiten und trotzdem Angst vor der nächsten Rechnung haben. Heizen oder Duschen darf kein Luxus sein. Wir brauchen auch keine persönlichen Hygienetipps von Waschlappen aus der Regierung. Über 14 Millionen Menschen in diesem Land leben seit Jahren in Armut, niemand muss ihnen etwas vom Sparen erzählen.
Wie unsere britische Schwesterzeitschrift Tribune, die die dortige Kampagne mitorganisiert, starten nun auch wir einen Aufruf, uns zusammenzutun. Weil wir wissen und spüren, dass sich eine ungemeine Wut über die Politik breitmacht, die sich weigert, die Interessen der großen Mehrheit zu vertreten. Weil unheimlich viele Menschen auf uns zugekommen sind und gesagt haben, dass es so eine Kampagne auch in Deutschland braucht. Die hunderten Nachrichten, die wir in den ersten Tagen bereits erhalten haben, zeigen, dass wir damit einen Nerv getroffen haben. Allerorts finden sich Menschen zu Demonstrationen unter unterschiedlichen Bannern, aber mit sehr ähnlichen Zielen zusammen. Das ist gut so, denn es zeigt, dass viele bereit sind, sich zu wehren. Doch bisher mangelt es noch an einer gemeinsamen Klammer und an einer zielgenauen strategischen Ausrichtung der Proteste.
Klar ist, dass wir den Aufstand nicht den Rechten überlassen dürfen. Das ist selbstverständlich, kann aber nicht unser Hauptaugenmerk sein. Wir müssen uns darauf konzentrieren, Druck auf die Bundesregierung auszuüben, die nicht liefert oder Hilfen sogar aktiv blockiert, während sie Konzerne an Gesetzen wie der Gasumlage mitschreiben lässt, die ihre Interessen gnadenlos durchsetzen. Fangen wir an, es so zu machen wie die Reichen und Mächtigen. Boxen auch wir einmal unsere Interessen gnadenlos durch.
In den kommenden Monaten rollt eine Wirtschaftskrise auf uns zu; die Preise werden weiter steigen und es gibt bisher wenig Aussicht auf Abhilfe. Die Entlastungspakete sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Wir brauchen deshalb unverzüglich Lösungen, die ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit schaffen. Dazu gehört die Gewährleistung einer bezahlbaren Energieversorgung durch einen Preisdeckel auf Gas und Strom sowie perspektivisch, Energiekonzerne wieder in öffentliches Eigentum zu überführen und demokratisch zu kontrollieren. Sowohl ein günstiger Nah- und Fernverkehr als auch eine Steuer auf die enormen Übergewinne von Krisenprofiteuren sind möglich. All dies sind Maßnahmen, die sich unverzüglich umsetzen ließen. Aber dafür braucht es eine Kampagne, die die Forderungen zusammenführt und mit der Kraft eines breiten Bündnisses agiert, von dem sich alle angesprochen fühlen können.
Unsere Kampagne steht auch an der Seite derer, die im Herbst und Winter in kommenden Tarifkonflikten für höhere Löhne und Entlastungen streiten werden. Es waren kämpferische Pflegerinnen, die vorgemacht haben, wie dies gelingen kann, ebenso wie wütende Hafenarbeiter, Lehrerinnen und Erzieher. In den kommenden Monaten werden es Fahrzeughersteller, Müllfahrer und viele andere Berufsgruppen sein, die für höhere Löhne streiken werden. Aber nicht nur das: Menschen schließen sich zusammen, um für die Weiterführung des 9-Euro-Tickets zu kämpfen oder aus der Anonymität zu treten und von ihrer Armut zu berichten. Vieles ist in Bewegung, überall finden sich Menschen zusammen, die sich wehren und ihr Recht auf ein würdevolles Leben einklagen. Für die kommenden Monate heißt das: Wir sollten uns vergegenwärtigen, dass wir gewinnen können. Wir haben eine historische Chance und wir werden unseren Beitrag dazu leisten, sie zu nutzen.
Ines Schwerdtner ist Editor-in-Chief bei JACOBIN.
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Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.