07. Mai 2024
Georgiens Proteste werden zum Kampf um die Zukunft des Landes in Europa stilisiert. Dabei will die Regierung selbst den EU-Beitritt. Die Wahrheit ist: NGO-Macht ist ein echtes Problem für die Demokratie, das Ausländische-Agenten-Gesetz aber keine Lösung.
In Tbilisi protestieren Menschen gegen die Gesetzesvorlage der Regierung über »Transparenz von ausländischem Einfluss«, Aufnahme vom 28. April 2024.
Die überwältigende Rolle, die international finanzierte NGOs in Georgiens Politik und öffentlichen Dienstleistungen spielen, hat das Land in eine chronische Krise seiner Demokratie geführt. Das Problem geht nun schon ein Vierteljahrhundert zurück, begann also noch vor der Rosen-Revolution von 2003. Der mittlerweile verstorbene Eduard Schewardnadse hatte als Präsident Georgiens internationalen Entwicklungshilfeorganisationen freie Hand gelassen. So hatten die georgischen NGOs schon zum Ende seiner ineffektiven, korrupten Amtszeit eine bedeutende Präsenz in der politischen Debatte gewonnen und pflegten selbstbewusste Beziehungen mit internationalen Gebern.
Nachdem Schewardnadse von seinem ehemaligen Justizminister Micheil Saakaschwili in der Rosen-Revolution abgesetzt wurde, nahmen Mitarbeiter von NGOs schnell höhere Regierungspositionen ein. Allen möglichen Entwicklungshilfe- und Reformexperimenten unter ausländischer Leitung wurden Tür und Tor geöffnet. Man kalkulierte, dass die materiellen und geopolitischen Nettogewinne dieses Arrangements die Nachteile bei Weitem überwiegen würden.
Es folgten langfristig hohe Finanzflüsse und bilaterale Entwicklungshilfeprogramme. Die Weltbank, die UNO, verschiedene internationale Entwicklungsorganisationen und sogar westliche Privatstiftungen eröffneten personalintensive Büros in Tbilisi. Um all das Geld auszugeben, ihre Projekte abzuwickeln und den Punkt »Beratung und Zusammenarbeit mit der Bevölkerung« abzuhaken, brauchten sie lokale NGOs. Nachfrage erzeugt Angebot, und heute sind in Georgien mehr als 25.000 NGOs registriert.
Nach Angaben der georgischen Regierung kommen 90 Prozent der Finanzierung dieser Organisationen aus dem Ausland, aber dieser Durchschnittswert verbirgt, dass die überwiegende Mehrheit von ihnen gar keine Mittel aus Georgien beziehen. Ihre Mitarbeitenden würden allein die Vorstellung, die Einheimischen um Geld zu bitten, wahrscheinlich ziemlich absurd finden, und selbst wenn sie es versuchten, dann würden sie so, wie sie gegenwärtig aufgestellt sind, wohl kaum Unterstützung von ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern erhalten.
Ausländische Entwicklungshilfeagenturen und ihren Erfüllungsgehilfen, die einheimischen NGOs, haben schon lange die meisten Bereiche der Politik und der öffentlichen Dienstleistungen – Schulwesen, Gesundheitssystem, Gerichtsreformen, Entwicklung des ländlichen Raumes, Infrastruktur und so weiter – kolonisiert.
»In einer funktionierenden Demokratie wählen die Menschen ihre Gesetzgeber und die Exekutive, damit diese ihre Interessen vertreten und ihnen dienen. In Georgien erhalten ungewählte NGOs ihr Mandat von internationalen Körperschaften.«
In der Praxis spielt sich das so ab: Eine größere Entwicklungshilfeagentur oder ein internationaler Kreditgeber – wie etwa USAID, die Europäische Kommission oder die Weltbank – hat sich ein neues Modell für Bildungsreform ausgedacht, das sie nun nicht nur in Georgien, sondern typischerweise in einer ganzen Reihe von Ländern umsetzen wollen. Um den Schein der Einbindung der lokalen Bevölkerung zu wahren, heuert die Entwicklungsagentur georgische NGOs an, die die tagtägliche Projektabwicklung übernehmen.
Sie zeigen Beamten, Schulen und Lehrerinnen, wie man die Dinge auf die neue Art tut, und bilden sie in den Skills aus, die sie dafür vermeintlich brauchen. Weder zu diesem noch einem anderen Zeitpunkt fragt irgendwer die Lehrer, Eltern oder Schülerinnen, und schon gar nicht das Wahlvolk allgemein, was sie brauchen, sich wünschen und wie sie die Dinge verbessern würden. Die Menschen fühlen sich ungehört, ignoriert und bevormundet – und auch minderwertig, wenn sie es nicht schaffen, die Ziele zu erreichen, die diese Ausbildung angeblich möglich macht.
Die georgischen NGOs, die Grants für diese Arbeit bekommen, mögen lokal sein, dabei haben sie jedoch erhebliche Macht über die georgische Bevölkerung. Diese Macht und Legitimität kommt nicht von basisdemokratischer Unterstützung, sondern daher, dass sie Zugang zu westlichen Botschaften und Ressourcen haben. In einer funktionierenden Demokratie wählen die Menschen ihre Gesetzgeber und die Exekutive, damit diese ihre Interessen vertreten und ihnen dienen. In Georgien erhalten ungewählte NGOs ihr Mandat von internationalen Körperschaften, die To-do-Listen von Reformen anlegen und deren Realisierung bezahlen. Lokalen NGOs fehlt damit jeder Anreiz, die Auswirkungen ihrer Projekte zu berücksichtigen, weil sie den Bürgerinnen und Bürgern, in deren Leben sie so eine dominante Rolle spielen, nicht rechenschaftspflichtig sind.
Diese Konstellation hat die Handlungsfähigkeit der georgischen Bevölkerung und die Souveränität und Demokratie des Landes zersetzt.
Aber die Gesetzesvorlage über »Transparenz von ausländischem Einfluss«, die die georgische Regierung nun das zweite Mal in etwas über einem Jahr eingebracht hat, wird dieses Riesenproblem im Herzen von Georgiens politischem System nicht lösen. Sie beabsichtigt nicht einmal, es zu lösen. Der georgischen Regierung ist die Souveränität nämlich ziemlich egal, genauso wie den ausländischen Gebern und Entwicklungshilfeagenturen oder der georgischen NGO-Elite.
Die Partei Georgischer Traum, die seit 2012 an der Macht ist, hat überhaupt nicht vor, alle ausländische Finanzierung aus der politischen Ökonomie Georgiens zu entfernen. Ganz im Gegenteil, es passt ihr sehr gut in den Kram, wenn die ausländische Finanzierung weiter fließt und der Geber-NGO-industrielle Komplex politische Programmatik und (mehr schlechte als rechte) Dienstleistungen ausspuckt.
Die georgische Politik mag notorisch polarisiert sein, aber Georgischer Traum und die meisten Oppositionsparteien sind, was ihre Ideologie betrifft, in schöner Eintracht: Sie glauben alle fest an technokratische, neoliberale, depolitisierte Verwaltung, in der Programme von (ausländischen) Experten auf Grundlage angeblich objektiver Daten und Technologie am Reißbrett entworfen werden. Wenn sie öffentliche Dienstleistungen dem Markt überlassen können, ist es umso besser.
Das zeigt sich am Beispiel des »Freiheitsgesetzes«, einem richtungsweisenden Gesetzpaket, das Steuererhöhungen und progressive Steuersätze verbietet und öffentliche Ausgaben auf 30 Prozent des BIP beschränkt. Es wurde unter Saakaschwili beschlossen, in den zwölf Jahren Regierungszeit von Georgischer Traum nicht außer Kraft gesetzt, und Transparency International Georgien (die unerbittlichste der politisierten NGOs, die die Proteste gegen Georgischer Traum anführen) hat für die Beibehaltung des Gesetzes Kampagnen durchgeführt. Die politischen Lager kämpfen aufs Wüsteste darum, wer das Land regieren soll – dann regieren sie es aber alle genau gleich.
Dass programmatische Politik, Verwaltung und Dienstleistungen weiterhin an die ausländischen Geber, einheimische NGOs und den freien Markt ausgelagert werden, ist ganz nach dem Geschmack der Führungskader von Georgischer Traum. Viele von ihnen haben mit westlichen Stipendien im Westen studiert (meist Rechtswissenschaften oder Öffentliche Verwaltung) und haben ihre Karrieren in UNO-Büros, bilateralen Entwicklungsagenturen und, ja, auch in georgischen NGOs begonnen.
Sie kommen aus der NGO-Management-Industrie, die als der wichtigste soziale Lift in die Oberschicht fungiert – in einem Land, in dem Medizin, Recht, Wissenschaft oder Unternehmertum weder Oberschichtstatus noch -einkommen bringen. Die Lebensläufe des Führungsteams von Georgischer Traum sind denen ihrer bittersten Opponenten im ausländisch finanzierten NGO-Sektor ausgesprochen ähnlich.
»Dieses Gesetz wird die Souveränität der Menschen in Georgien nicht wiederherstellen, zumindest nicht im echten Sinne einer Wiederermächtigung der Bürgerinnen und Bürger und einer Repolitisierung grundlegend politischer Belange.«
In diesem Ökosystem ist es schwer, jemanden zu finden, dem die Menschen und ihr Wohlergehen wirklich am Herzen liegen. Die einheimische NGO-Szene ist ein ausgesprochen kompetitiver Sektor, der Ehrgeiz und Selbstbeweihräucherung belohnt. Anstatt in Solidarität zusammenzuarbeiten, kocht jeder lieber sein eigenes Süppchen. Für viele in dieser Branche ist ein Job in einer NGO ein Ticket zu einem hohen Einkommen und Vorteilen wie internationalen Reisen und Empfängen in Botschaften, und Mitgliedschaft in der Elite.
Wenn Georgischer Traum so sehr für technokratische, entpolitisierte und Geber-dominierte Ersatzverwaltung ist, und für den Erhalt des großen, international finanzierten NGO-Sektors, den es dazu braucht, warum riskieren sie dann Demonstrationen zu Hause und Druck aus der EU und den USA, nur um ein sogenanntes Ausländische-Agenten-Gesetz zu erlassen?
Weil obendrauf auf dem Riesenproblem im Herz der georgischen Politik noch ein anderes, viel spezifischeres Problem sitzt, das Georgischer Traum enorm irritiert: eine kleine, aber sehr mächtige Clique von NGOs, mit Jahresbudgets von bis zu einigen Millionen Dollar oder Euros von ausländischen Gebern, einige von ihnen eng verbunden mit Micheil Saakaschwilis Partei Vereinte Nationale Bewegung, die ihre Position für offen parteiische Politik ausnutzen.
Seit etwa fünf Jahren erklären sie die Regierung für illegitim und verlangen, dass sie abgesetzt wird – und zwar nicht nur, indem sie die Opposition in Wahlen unterstützen, was bereits eine ethische rote Linie für NGOs darstellt (und umso mehr, wenn sie von anderen Staaten unterstützt werden). Sie agitieren für einen revolutionären Machtwandel außerhalb demokratischer, verfassungsgemäßer Prozesse. In der Vergangenheit verlangten sie etwa, dass sie selbst zu einer Expertenregierung ernannt werden, aber weil niemand (schon gar nicht die Bevölkerung) auf diesen Vorschlag einging, betreiben sie verstärkt Straßenprotest und versuchen zum Beispiel auch, das Parlament und Regierungsgebäude zu stürmen. Um das Ganze abzurunden, lobbyieren sie auch noch die EU und USA, damit diese hochrangige Mitglieder von Georgischer Traum sanktionieren oder über sie Einreiseverbote verhängen.
Georgiens Ausländische-Agenten-Gesetz, das schon einmal im Frühling 2023 eingebracht und nun als 2.0-Version in »Gesetz über ausländischen Einfluss« umbenannt wurde, zielt genau auf diese hyper-parteiische Gruppe von gut finanzierten NGOs ab. Es gibt etliche Theorien, manche abstruser als andere, warum Georgischer Traum diese Gesetzesvorlage ein Jahr nach dem ersten, abgebrochenen Versuch wieder eingebracht hat. Eine davon lautet, dass die Partei davon ausgeht, dass die Opposition schwach ist und sie dieses Mal das Armdrücken gewinnen wird.
Ein anderer Grund, den Georgischer Traum selbst angibt, ist, dass sie ein Jahr lang versucht habe, sich mit den westlichen Botschaften und Gebern zu einigen – letztere sollten die parteiischen NGOs entweder nicht mehr finanzieren oder deren politisiertes Auftreten durch einen freiwilligen Verhaltenskodex moderieren. Das aber wurde abgelehnt, wenn auch nicht von allen, so doch zumindest von einigen wichtigen Gebern. Hinter geschlossenen Türen geben westliche Diplomaten zu, dass das Verhalten der von ihnen finanzierten politisierten NGOs Grenzen überschreitet, und dass man da etwas tun sollte. Aber wenn man nachdrücklich fragt, was sie zu tun vorhaben, werden sie ungehalten.
Was macht das alles mit der georgischen Zivilgesellschaft? Nichts Gutes, zweifelsohne. Alle NGOs, die ausländische Finanzierung erhalten, würden sich nach dem Gesetz mehr Kontrolle und Verdächtigungen ausgesetzt sehen und müssten zusätzlichen Verwaltungsaufwand bewältigen. Es könnte ihnen auch Schlimmeres drohen, etwa Geldstrafen. Die NGOs, die sich der (Partei-)Politik ferngehalten haben, die versucht haben, ihren eigenen Statuten zu folgen und nicht den Anweisungen der Geber, die echte Solidarität praktizieren und die Autonomie der Bürgerinnen und Bürger respektieren, werden in dieses neue Gesetz verstrickt werden, obwohl sie eigentlich gar nicht gemeint waren.
Jetzt einmal ganz abgesehen davon, dass dieses Gesetz die NGOs zu finanzieller Transparenz verpflichten würde, während die privaten Unternehmen weiterhin keine derartige Verpflichtung haben. Dieses Gesetz wird die Souveränität der Menschen in Georgien nicht wiederherstellen, zumindest nicht im echten Sinne einer Wiederermächtigung der Bürgerinnen und Bürger und einer Repolitisierung grundlegend politischer Belange. Und trotz des Aufruhrs wird es die politisierten NGOs nicht zurechtstutzen oder ihr Verhalten zähmen. Das Gesetz ist ein Rundumschlag, der aber trotzdem sein Ziel nicht trifft.
Die überschwänglichen Reden mit ihrem Pseudopatriotismus, sowohl von Regierung als auch Opposition, verschleiern, wie wenig beide Seiten den Durchschnittsgeorgiern anzubieten haben, wenn es um echte demokratische Ermächtigung oder Hoffnung auf ein besseres Leben geht.
Als eine der Autorinnen dieses Textes sich unlängst mit Mitgliedern einer Krankenschwesterngewerkschaft traf, waren diese unaufgeregt, trotz der aggressiven Rhetorik und der schwelenden Krise. Diese Frauen sind viel zu beschäftigt mit ihrer Arbeit, mit Konflikten mit ihren Chefs und dem Gesundheitsminister. Sie hatten viel größere Sorgen um das Schicksal ihrer Klinik, eines der letzten verbleibenden öffentlichen Krankenhäuser, das die Behörden langsam zugrunde richten.
Sie versuchen zu verstehen, wie internationale Spenderinnen und Kreditgeber, die eng mit der Regierung zusammenarbeiten, in ihren Gemeinden und Lebensgrundlagen keinen Stein auf dem anderen lassen, ohne sie jemals zu informieren, geschweige denn nach ihrer Expertise zu fragen und nach ihren Vorstellungen, was getan werden müsste.
»Warum hat die Weltbank einen Flügel unserer Klinik renoviert? Unsere Klinik hatte doch angeblich das Budget, um das selber zu tun, aber jetzt wissen wir nicht, was aus dem Geld geworden ist. Man sagt uns nicht, wie das Geld ausgegeben wird oder Entscheidungen getroffen werden. Als sie uns während der Pandemie brauchten, haben sie uns unersetzbar genannt. Jetzt sind wir offenbar entbehrlich.«
»Vor Ort sagen die Demonstrierenden ungefragt, dass sie nicht auf der Straße sind, um NGOs zu verteidigen. Stattdessen protestieren die Leute, weil ihnen gesagt wurde, dass das Gesetz ein Knackpunkt für Georgiens Zukunft in der EU sei.«
In dem jüngsten Treffen hatten die Gewerkschaftsmitglieder kaum ein Interesse an dem Gesetz über ausländischen Einfluss, zeigten sich wenig beeindruckt und wollten nicht, dass die Gewerkschaft sich für die eine oder andere Position ausspricht. Sie waren froh zu hören, dass Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter weder zu den Protesten gegen das Gesetz gehen würden, noch dessen Verabschiedung unterstützen würden. Sie hatten Gerüchte gehört, dass es sich um ein russisches Gesetz handelt und beschlossen, das näher zu untersuchen, fanden aber dann zu ihrer Erleichterung, dass dem nicht so ist.
Während des Verfassens dieses Textes wurde die Krise blutig. Die Polizei wendete Wasserkanonen, Pfefferspray und Prügel gegen die Anti-Regierungsdemonstrationen in Tbilisi an. Bilder von Hämatomen und blutgeäderten Augen waren plötzlich überall in den sozialen Netzwerken. In den letzten Wochen sind das politische Klima und die öffentliche Debatte noch weiter abgesunken, und es war vorher schon schlimm genug. Georgiens öffentlicher Raum schwirrt von Lügen, Hysterie und Manipulation. Auch das führt Georgien immer weiter weg von einer echten Redemokratisierung und progressiver Politik. Es herrscht ein Gefühl, wie ein georgischer Beobachter gedankenvoll und schweren Herzens ausdrückt: »In welche Richtung auch immer wir gehen, es ist ein Schritt zurück.«
So frustrierend und mühselig es auch sein mag, wir sehen uns gezwungen, uns durch Lügen und Manipulation durchzuschlagen, damit wir wieder zu einer rationalen Konversation gelangen können. Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren, wenn ausländische Geber der georgischen Öffentlichkeit mit ernster Miene erklären, dass es ausländischen Einfluss gebunden an ausländisches Geld überhaupt nicht gibt, dass Geber einfach nur eine »lebendige Zivilgesellschaft« unterstützen wollen und dass sie niemals auch nur davon träumen würden, einer NGO zu sagen, was diese tun soll. Jeder, der auch nur die geringste Ahnung davon hat, wie NGOs sich um Grants bewerben, weiß, dass Geber ganz spezifische Regeln für ihre Finanzierung setzen – was für Organisationen sich bewerben können, für welche Art von Projekt, zu welchem Problem. Dazu kommen dann noch ungeschriebene Regeln und versteckte Vorurteile, die letztlich entscheiden, auf wen die Wahl fällt.
Aktivistinnen und Aktivisten in Georgien wissen ganz genau, was von ihnen erwartet wird, welches Verhalten bestraft oder belohnt wird: Die Regierung auf Facebook zu kritisieren bringt mehr Grants ein, als draußen in der Gesellschaft den Menschen zu helfen. Erst noch vor ein paar Jahren, als westliche Geber Georgischer Traum als verlässlichen Partner sahen, sagten sie Aktivistinnen, dass sie die Regierung nicht kritisieren sollen. Jetzt wollen sie, dass Aktivisten gegen Georgischer Traum Stellung beziehen. Geber verfolgen sogar, was man in den sozialen Netzwerken sagt, und wenn man etwas Falsches postet, kann es Konsequenzen geben.
Der schrille Schimpfname »Russisches Gesetz« ist eine weitere zynische Manipulation, die eifrig von georgischen Aktivistinnen, Oppositionspolitikern und auch Vertreterinnen des Westens herumgeschleudert wird. So wird uns erzählt, dass die Gesetzesvorlage vom Kreml kopiert sei (fact-check: ist sie nicht) und dass sie Georgien zu Russland machen und/oder vom rechten Weg der EU-Integration abbringen würde.
Dabei ist dieses Gesetz ein Symptom von spezifisch und einzigartig georgischen politischen Realitäten. Georgien im Jahr 2024 ist so gar nicht wie Russland im Jahr 2012, als es sein Ausländische-Agenten-Gesetz erließ – nicht politisch, nicht, was seine internationalen Allianzen betrifft, nicht bezüglich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und ganz sicher nicht, was die Rolle von NGOs anbelangt. Die Ziele des russischen Ausländische-Agenten-Gesetzes waren ganz andere als die der georgischen Gesetzesvorlage.
Noch absurder sind Vorwürfe, wonach Georgischer Traum und sein Gründer, der Milliardär Bidsina Iwanischwili, russische Marionetten seien, tief in der Tasche des Kremls steckten, und dass sie dieses Gesetz eingebracht hätten, weil Putin es ihnen befohlen habe. Nach dieser Logik hätte Putin der Partei wohl auch befohlen, mehr als ein Jahrzehnt lang eifrig EU-Integration zu betreiben, die euro-atlantische Integration in die Verfassung aufzunehmen, alle anderen Beitrittskandidaten in der Bewertung von Reformen zu übertreffen und schließlich offiziell EU-Beitrittskandidat zu werden. Aber das ständige Kreischen über das »Russische Gesetz« spielt mit den Ängsten und dem Ärger der georgischen Öffentlichkeit und mit der geopolitischen fixen Idee von Georgiens Partnern im Westen.
Das zynischste und gefährlichste Spiel aber ist es, dieses Gesetz mit Georgiens EU-Beitritt zu verknüpfen. Beobachter weit weg im Westen kriegen nasse Augen, wenn sich die Menschen in Georgien für ihre »lebendige Zivilgesellschaft« einsetzen. Aber vor Ort sagen die Demonstrierenden ungefragt, dass sie nicht auf der Straße sind, um NGOs zu verteidigen, und dass ihnen diese ziemlich egal sind. Diese Eindrücke werden von jahrelangen Meinungsumfragen unterstützt, nach denen Georgierinnen und Georgier nur ein geringes Vertrauen in NGOs haben. Stattdessen sind die Leute auf der Straße, weil ihnen gesagt wurde, dass das Gesetz ein Knackpunkt für Georgiens Zukunft in der EU sei.
»Es ist unverantwortlich, wenn EU-Vertreter einstimmen, dass so ein Gesetz nicht mit ›EU-Normen und Werten‹ vereinbar sei. ›Normen und Werte‹ ist praktischerweise vage, anders als die tatsächlichen EU-Gesetze, welche die Regulierung von NGO-Finanzierung nicht verbieten.«
Georgiens Streben nach EU-Mitgliedschaft ist der blankeste aller Nerven in der georgischen Politik und Kultur. Nach drei Jahrzehnten von post-sowjetischer Verarmung, von Schmerz und Trauma, menschlichen Verlusten, chronischem Stress, Unsicherheit und Erniedrigung, ist die Idee der EU-Mitgliedschaft für viele Georgierinnen und Georgier zu einem eschatologischen Projekt geworden: Sie bedeutet das Versprechen von Erlösung nach langem und ungerechten Leid und Aufopferung. Die EU steht dabei nicht nur für Träume – von materiellem Wohlergehen, Sicherheit, Würde, Komfort – die sich erfüllen, sondern auch für die Anerkennung, die Georgier seien immanent »europäisch«, besonders und kulturell überlegen gegenüber ihren »asiatischen« Nachbarn.
Andererseits haben viele der Menschen auf den Straßen mit ihren EU-Flaggen weniger metaphysische und mehr bodenständige Anliegen: In Umfragen in den letzten Jahren nennen Georgierinnen und Georgier die Möglichkeit, auszuwandern, als den wichtigsten Grund für ihren Wunsch, der EU beizutreten. Tatsächlich haben viele bereits »mit ihren Füßen abgestimmt« – alleine in 2021 und 2022 haben mehr als 5 Prozent der Bevölkerung das Land verlassen, die meisten von ihnen in den grauen, ungeregelten Arbeitsmarkt in der EU.
Egal, ob es um spirituelle Rettung oder um knappe materielle Chancen geht, die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft stellt für die Menschen in Georgien etwas Existentielles dar. Das erlaubt der Opposition, ihren parteiischen NGO-Stellvertretern und deren westlichen Gebern, die Krise um das Gesetz zum »ausländischen Einfluss« in eine verzweifelte, monumentale Schlacht um die strahlende Zukunft Georgiens umzudeuten. Schlimmer und ganz besonders unverantwortlich ist es, wenn EU-Vertreter mit einstimmen, und einer nach dem anderen wiederholen, dass so ein Gesetz nicht mit »EU-Normen und Werten« vereinbar sei. »Normen und Werte« ist praktischerweise vage, anders als die tatsächlichen EU-Gesetze, welche die Regulierung von NGO-Finanzierung nicht verbieten.
Zuletzt gab ein EU-Sprecher an, dass der Beschluss des Gesetzes gegen die »Werte und Erwartungen« der EU ginge, womit er den Maßstab in noch nebulösere Bereiche verrückt hat. Der angeblich objektive und meritokratische EU-Beitrittsprozess verkommt zur willkürlichen Schikane. Wenn EU-Vertreter damit drohen, dass sie Georgiens Beitrittsprozess entgleisen lassen, dann klingt das wie ungebührliche Erpressung.
Grundsätzlich gilt, dass der wachsende Verdacht einer jeden Regierung gegenüber den Motiven ausländischer Geber für die Finanzierung von hyper-parteiischen NGOs nur noch bestärkt wird, wenn man jene Regierung durch eskalierende Drohungen zwingt, diese Finanzierung weiter zuzulassen. Das ist ein Feiglingsspiel, das ganz böse enden kann. Unter diesen Umständen, wenn die Fronten verhärtet sind und die existentiellen Ängste der Menschen manipuliert werden, ist eine offene Debatte über das jahrzehntealte Problem, das zu diesem Gesetz geführt hat, und über dessen Effektivität und Angemessenheit, nicht mehr möglich.
Almut Rochowanski ist Aktivistin und hat sich auf die Mobilisierung von Ressourcen für die Zivilgesellschaft in der ehemaligen Sowjetunion, darunter in Georgien und Russland, spezialisiert. Ihre anderen Publikationen zu diesem Thema sind auf Discomfort Zone nachzulesen.
Sopo Japaridze ist die Vorsitzende des Solidaritätsnetzwerks, einer unabhängigen Gewerkschaft für Pflegekräfte in Georgien. Sie erforscht und studiert Arbeits- und Sozialbeziehungen und schreibt für verschiedene Publikationen. Außerdem ist sie Mitbegründerin der Initiative und des Podcasts Reimagining Soviet Georgia.