01. November 2024
Laut Regierungsgegnern waren die Wahlen in Georgien »durchweg gefälscht«. Handfeste Beweise dafür gibt es bislang aber nicht. Wahrscheinlicher ist, dass die in den Städten konzentrierte Opposition es nicht geschafft hat, die Landbevölkerung zu überzeugen.
Georgiens Präsidentin Salome Surabischwili neben Vertreterinnen und Vertretern der Opposition bei einer Pressekonferenz am 27. Oktober 2024.
Am Samstagabend vergangener Woche herrschte bei vielen Georgierinnen und Georgiern Anspannung. Ein Video, in dem ein Mann versucht, bei der Wahl mehrere Stimmzettel in eine Urne zu stopfen und Wahlbeobachter ihn daran hindern wollen, beginnt gerade die Runde zu machen. Dutzende Kameras waren anwesend; das Filmmaterial verbreitete sich schnell in den lokalen und internationalen Medien sowie in den sozialen Netzwerken. Weitere Videos zeigten Handgemenge vor Wahllokalen und gingen viral. Schnell entstand das Bild, die Wahl sei von Gewalt und Wahlfälschung überschattet.
Nach dem offiziellen Ende der Wahl wurden dann drei Wahltagsbefragungen veröffentlicht, die jeweils von verschiedenen Kräften in Auftrag gegeben worden waren. Laut einer Umfrage hatte die Oppositionsallianz insgesamt 51 Prozent der Stimmen erhalten. Dies wäre ausreichend, um die bisherige Regierungspartei Georgischer Traum abzulösen und eine neue Regierung zu bilden.
Dementsprechend erklärte das Oppositionsbündnis umgehend seinen Sieg, und Präsidentin Salome Surabischwili – Staatsoberhaupt, aber ebenso erbitterte Gegnerin der Regierungspartei – dankte den Wählerinnen und Wählern für ihre politische Reife und »Europäität«. Die regierungsfreundliche Umfrage ergab hingegen einen Sieg des Georgischen Traums mit 56 Prozent der Stimmen. Eine weitere von Oppositionskräften in Auftrag gegebene Umfrage ermittelte hingegen einen Stand von 41 zu 42 Prozent für die Opposition. Beide Lager beanspruchten den Sieg für sich, wobei westliche Medien zunächst weitgehend über den (vermeintlichen) Vorsprung der Opposition berichteten.
Im Laufe der abendlichen Auszählung zeigte sich aber, dass der Georgische Traum wohl einen Vorsprung haben und über 50 Prozent erreichen würde. Präsidentin Surabischwili verstummte. Die Opposition, die parallel Auszählungen durchgeführt hatte, veröffentlichte ihre Daten plötzlich nicht mehr. Stattdessen betonten diverse Oppositionsparteien nun, die Wahl sei manipuliert worden.
Am Sonntag richteten sich daher alle Augen auf die internationalen Wahlbeobachter, die nun ihre Ergebnisse veröffentlichen würden. Angesichts der über 500 Personen – darunter Delegationen des EU-Parlaments, der OSZE, des Europarats und der NATO – die mehr als 2.000 Wahllokale überwachten, hatte ihr Urteil Gewicht.
Der Bericht der gemeinsamen Beobachtungsmission übte scharfe Kritik am Georgischen Traum und warf der Regierung vor, vor den Wahlen ein toxisches und polarisiertes Klima geschaffen zu haben. Betont wurden umstrittene Gesetze, wie das sogenannte Gesetz über ausländische Einflussnahme, mit dem NGOs und Medien dazu verpflichtet werden, ausländische Geldgeber offenzulegen. Von Wahlbetrug war hingegen nicht die Rede. Die Beobachterinnen und Beobachter stellten fest, dass Vorfälle wie die im viralen Video selten waren. Man wisse tatsächlich nur von diesem Fall in einem der rund 3.000 Wahllokale; und das Problem sei umgehend behoben worden.
»Auch der Georgische Traum, der 2018 den Antrag auf EU-Mitgliedschaft in die georgische Verfassung schreiben ließ, verspricht weiterhin, sich in Richtung EU zu engagieren. Im Wahlkampf wurde auf Plakaten und bei Auftritten häufig die EU-Flagge eingesetzt.«
Darüber hinaus erwähnten die Beobachter eine Handvoll Versuche der doppelten Stimmabgabe, die allesamt verhindert wurden. Bei den 1.924 Beobachtungseinsätzen wurden 6 Prozent der Abläufe negativ bewertet, wobei Probleme wie Behinderung der Beobachtung (16 Prozent der kritisierten Fälle), Überfüllung der Wahllokale (16 Prozent), unsachgemäße Verwendung der Wahlscheinumschläge (9 Prozent), falsche Einrichtung/Aufteilung der Wahllokale (8 Prozent) sowie sichtbare Markierungen auf den Stimmzetteln (6 Prozent) angeführt wurden. Die Beobachtungsmissionen betonten, die Wahlen seien im Allgemeinen aber gut organisiert gewesen. Man werde den Prozess nach den Wahlen nun weiterhin beobachten, um etwaige weitere Beschwerden zu prüfen. Die Beobachterinnen und Beobachter wollten die Wahl insgesamt nicht als manipuliert oder gar gefälscht bezeichnen. Für die georgische Opposition war das enttäuschend.
Später am Sonntagabend hielt Präsidentin Surabischwili eine Pressekonferenz ab, an der auch drei der vier Unterzeichner ihrer Oppositionscharta teilnahmen. Sie bezeichnete die Wahlen als »durchweg gefälscht« und verglich deren Anerkennung mit »Georgiens Unterwerfung unter Russland«. Seitdem hat Surabischwili ihre Ressourcen und Kontakte bei westlichen Regierungen und Medien mobilisiert und mit einer Flut von Meldungen und Pressemitteilungen versucht, die westliche Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Russland die georgischen Wahlen manipuliert habe.
Nur wenige Journalisten konfrontierten sie mit kritischen Fragen. Bei der Frage nach Beweisen für russische Einmischung kam sie beispielsweise mit der Antwort davon: »Das ist sehr schwer nachzuweisen. Kein Land, nicht einmal die Vereinigten Staaten oder europäische Nationen, konnten russische Einmischung in ihre jeweiligen Wahlen nachweisen.« Diverse Sprecher der Opposition verwiesen auf Propaganda im russischen (oder sogar »sowjetischen«) Stil, antiwestliche Rhetorik und Angst vor einem möglichen Krieg mit Russland als Erklärung und Begründung, die Wahl müsse manipuliert worden sein.
Surabischwili setzte dem Ganzen die Krone auf, indem sie behauptete, Georgien habe nun einmal weniger Ressourcen zur Verfügung als beispielsweise die USA und es dürfe daher nicht erwartet werden, dass Beweise vorgelegt werden können. Stattdessen sei »nur wichtig, was die georgische Bevölkerung fühlt«.
Surabischwilis Behauptungen stützten sich stark auf eine zumindest zweifelhafte Annahme: Sie argumentiert im Prinzip, die Wahlen müssen manipuliert worden sein, weil einerseits die Meinungsumfragen durchweg gezeigt haben, dass die georgische Bevölkerung die EU-Integration wollen, andererseits aber der Georgische Traum die Wahlen gewonnen haben soll. Sie fragt daher: Wenn die Wählerinnen und Wähler der EU beitreten wollen, warum sollten sie dann für diese als russlandfreundlich geltende Partei stimmen? Die Wahrheit ist etwas komplizierter. Denn auch der Georgische Traum, der 2018 den Antrag auf EU-Mitgliedschaft in die georgische Verfassung schreiben ließ, verspricht weiterhin, sich in Richtung EU zu engagieren. Im Wahlkampf wurde auf Plakaten und bei Auftritten häufig die EU-Flagge eingesetzt.
Aus Sicht der Präsidentin lassen sich diese Versprechen und die tatsächliche Politik der Regierungspartei aber nicht in Einklang bringen. Im Gegensatz dazu brüstet sie sich mit ihren Kontakten zu westlichen Regierungschefs, die sich mit Vertretern des Georgischen Traums nicht treffen wollen. In dieser Sichtweise sind sie und die Opposition die Vertreter einer von der EU-Führung gebilligten Version des »Pro-Europäertums«, während alles andere schlicht und einfach »prorussisch« sein muss. Dieses Schwarz-Weiß-Bild bemüht Surabischwili auch mit ihren Verweisen auf die großen Proteste im März gegen das sogenannte NGO-Gesetz, die hauptsächlich in Tiflis stattfanden. So fragte sie nach den Wahlen: »Wo sind diese Tausende von Menschen jetzt? Sind sie einfach verschwunden?« Damit implizierte sie, dass die Proteste von der gesamten Bevölkerung mitgetragen wurden, was sich dementsprechend auch in den Wahlergebnissen hätte widerspiegeln müssen.
In den vergangenen Tagen hat sie wiederholt von Wahlbetrug, doppelter Stimmabgabe und Wahlmanipulation gesprochen, ohne Einzelheiten über das Ausmaß oder gar Beweise vorzulegen. Vor nicht allzu langer Zeit hatte sie der georgischen Öffentlichkeit noch versichert, dass die erstmals im Land eingesetzten Systeme zur elektronischen Stimmabgabe sicher seien – nun behauptet sie, diese seien zur Manipulation der Ergebnisse genutzt worden. Bei einer Protestkundgebung am Montag kündigte Surabischwili an, sie werde nun Beweise für Wahlmanipulationen für ihre westlichen Verbündeten sammeln.
»Die Partei Georgischer Traum hat die in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschende ›Anti-LGBT‹-Stimmung strategisch genutzt, um die eigene Wählerschaft zu vergrößern.«
Zeitgleich will die Präsidentin, die früher französische Botschafterin in Georgien war, ihre Verbindungen zu westlichen Regierungen nutzen, um diese dazu zu drängen, die Wahlergebnisse nicht anzuerkennen, bis sie ihren Beweis für die Fälschung vorlegen kann. Andere Oppositionsmitglieder schlossen sich ihren Forderungen an. Einige forderten bereits Neuwahlen, die vollständig von ausländischen Aufsichtsbehörden überwacht werden müssten. Sollte dies nicht geschehen, werde man die parlamentarische Arbeit boykottieren.
So geht die emsige Suche nach Beweisen für Wahlmanipulation weiter; konkrete Belege gibt es nach wie vor nicht. Darüber hinaus scheint es in der Opposition inzwischen konkurrierende Theorien darüber zu geben, welche Art von Manipulation eigentlich stattgefunden habe. Einige Politikerinnen und Politiker betonten deswegen, es sei besser, sich auf eine Spur zu konzentrieren und Beweise für diese eine Spur zu sammeln.
Nach offizieller Zählung erhielt der Georgische Traum 54 Prozent der Stimmen und wurde gerade in den ländlichen Regionen stark unterstützt. Die Opposition schnitt auf dem Land eher schlecht ab, hatte aber eine klare Hochburg in der Hauptstadt Tiflis. Während einige Regierungskritiker zwar halbherzig einräumen, dass der Georgische Traum tatsächlich mehr Stimmen erhalten habe als erwartet, wird insgesamt weiter nach Erklärungen gesucht, mit denen die eigenen Fehler übertüncht werden können.
Die aktuell wichtigste Oppositionskraft besteht aus einer losen Koalition aus vier Parteien und Bündnissen. Sie hatten sich im Vorfeld der Wahl zu einer von Präsident Surabischwili ausgearbeiteten »Georgischen Charta« verpflichtet. Laut dieser sollte Surabischwili im Falle eines Wahlsieges der Opposition die nächste Regierung bilden und die alleinige Befugnis haben, den oder die nächste Premierministerin auszuwählen. Surabischwilis eigene Amtszeit als Präsidentin endet bald; sie selbst ist weder Teil einer Parteiliste noch stand sie auf dem Stimmzettel für diese Wahlen. Obwohl sie also offiziell nicht an der Wahl teilnahm, behält sie durch diese Vereinbarung eine entscheidende Rolle in der politischen Ausrichtung der Opposition. Sie selbst nennt dies ein Beispiel für eine »echte europäische Demokratie«.
Die Charta enthielt darüber hinaus Pläne für eine Übergangsregierung, die von der Opposition gebildet werden sollte und deren Hauptaufgabe darin bestehen würde, einerseits die von der EU kritisierten Gesetze rückgängig zu machen und andererseits für die EU-Integration erforderliche Gesetze zu verabschieden. Nach diesen Änderungen sollten erneute, »freie« Wahlen unter dem neuen Rechtsrahmen abgehalten werden. Für sich allein genommen erreichte kaum eine Partei der Oppositionsallianz mehr als 10 Prozent der Stimmen.
Europäische Beobachter stellten eine »polarisierte« Atmosphäre im Zuge der Wahlen fest und verwiesen auf Vorwürfe, es habe russische Propaganda gegeben (von Bemühungen der EU oder der USA, die georgische Politik zu beeinflussen, war keine Rede). Georgische Gesetze, wie das sogenannte Gesetz über die Transparenz ausländischer Einflüsse und Gesetze gegen vermeintliche »LGBT-Propaganda«, hatten zuvor im Westen für Unmut gesorgt.
Die EU hat den Beitrittsprozess Georgiens offiziell gestoppt; und sowohl die EU als auch die USA haben Finanzhilfen in Millionenhöhe ausgesetzt. Der Ansatz umfasst auch Sanktionen gegen Einzelpersonen. So wurden einzelne Politikerinnen und Politiker aufs Korn genommen und es gelten Visabeschränkungen für diejenigen, die angeblich die georgische Demokratie untergraben. Die Biden-Regierung hat eine Überprüfung der Beziehungen zwischen den USA und Georgien eingeleitet und warnt, dass weitere Einschränkungen folgen könnten, wenn Georgien auf seinem derzeitigen Kurs bleibt.
Die Resolutionen des EU-Parlaments gegen den Georgischen Traum in diesem Jahr waren deutlich und machten klar, dass die Aktionen der georgischen Regierung in Brüssel und Straßburg missbilligt werden. So wurden strenge Maßnahmen gefordert, wie sie in der internationalen Diplomatie selten zu sehen sind – insbesondere gegenüber einem Land, das offiziell eine EU-Mitgliedschaft anstrebt. Das Europäische Parlament drohte der georgischen Regierung die Unterstützung zu entziehen, und forderte, dass alle EU-Hilfen eingestellt werden, bis die georgische Führung die von ihr erlassenen autoritären Gesetze rückgängig macht.
»Sowohl Wahlanalysen als auch Umfragen deuteten darauf hin, dass eine auf Geopolitik ausgerichtete Botschaft bei den 70 Prozent der georgischen Bevölkerung, die außerhalb der Hauptstadt Tiflis leben, wohl auf wenig bis keine Resonanz stößt.«
In der Resolution wurden auch »gezielte persönliche Sanktionen« gegen Bidsina Iwanischwili, den Milliardär hinter dem Georgischen Traum, und andere hochrangige Beamte gefordert. Die Sprache war unverblümt: Iwanischwili wird als die Figur gesehen, die im Hintergrund die Fäden zieht und dabei ganz klar eine »engere Ausrichtung an Russland« anstrebt. Das EU-Parlament warf der georgischen Führung indirekt vor, das Land mit dem Gesetz über ausländischen Einfluss in einen russischen Satellitenstaat zu verwandeln. Ähnliche Gesetze seien schließlich 2012 auch in Russland verabschiedet worden. Letztlich wurde die Nachricht gesendet, Georgien werde der EU möglicherweise nie beitreten, wenn die Menschen nicht gegen den Georgischen Traum stimmen.
Die US-Botschaft in Georgien warnte auf Facebook eindringlich vor einer drohenden Isolation des Landes. Wie um die Turbulenzen noch zu verstärken, kam es zu Abstimmungsproblemen: So wurde der amtierende georgische Premierminister während der UN-Generalversammlung in New York zwar zu Joe Bidens Begrüßungsempfang eingeladen, ihm dann aber buchstäblich an der Tür die Teilnahme verweigert. Großbritannien hat kürzlich seinen jährlichen Sicherheitsdialog mit Georgien ausgesetzt und weitere Gespräche über Sicherheitskooperationen vorerst abgesagt.
Während der Westen also Georgien mit Sanktionen unter Druck setzt, bleiben auch die Beziehungen zu Russland nach dem Krieg im Jahr 2008 kompliziert. Allerdings wurden die Visabeschränkungen inzwischen aufgehoben. Der russische Außenminister Sergej Lawrow hat sogar seine Bereitschaft signalisiert, das Thema der abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien erneut anzusprechen. Bisher werden diese von Russland offiziell als »unabhängig« anerkannt. Ein Kompromiss in dieser Sache könnte den Abzug russischer Soldaten aus bestimmten Gebieten beinhalten. Russland hat darüber hinaus die Hilfsleistungen für Abchasien (das stark von Russland abhängig ist) eingestellt sowie die ermäßigten Energiepreise für die Region abgeschafft. Auch zeigt man sich in Moskau weitgehend d’accord mit den meisten Erklärungen und Gesetzen des Georgischen Traums.
Um der ossetischen Bevölkerung gegenüber guten Willen zu zeigen, hat der Georgische Traum seinerseits Entschuldigungen ausgesprochen und gefordert, dass Mitglieder der vorherigen Regierung, die für Verbrechen in Ossetien verantwortlich sein sollen, vor Gericht gestellt werden müssten. Diese angestrebten Verfahren wurden von der georgischen Führung reichlich plump und unüberlegt als »Nürnberger Prozesse« bezeichnet. Dennoch hat die Darstellung der Wahlen durch den Georgischen Traum als eine Entscheidung zwischen Krieg und Frieden wahrscheinlich dazu beigetragen, den Stimmenanteil für die Regierungspartei zu erhöhen. In gewisser Weise kann die Partei auch eine Erfolgsbilanz vorweisen: Sie ist seit 2012 an der Macht und dabei die einzige georgische Regierung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die nicht in einen offenen Krieg involviert war. Sie präsentiert sich entsprechend als Partei der Stabilität – und bringt gerne die Ukraine als Gegenbeispiel an. Letztere steht in dieser Diktion für eine Zukunft, die man für Georgien in jedem Fall vermeiden will.
Derweil betont der Georgische Traum auch, proeuropäisch zu sein. Ein Wahlkampfslogan lautete »Mit Würde nach Europa«. Dabei ist die eigene Vision jedoch anders als die proeuropäische Haltung der georgischen Liberalen. Vielmehr sieht man sich den konservativen bis rechten Kräften in der EU nahestehend. Das Versprechen lautet daher, man werde irgendwann Teil der EU, müsse aber gleichzeitig stets auf Nummer sicher gehen – angesichts der eigenen geografischen Lage an einem Reibungspunkt der mächtigen, sich widerstreitenden Nationen und einer geopolitisch instabilen Zeit.
Die Opposition hatte schon vor der Wahl deutlich gemacht, man rechne damit, dass der Georgische Traum die Wahlen manipulieren würde. Dennoch war sie zuversichtlich, die Wahl trotzdem gewinnen zu können. Nach der Wahl warf sie dem Georgischen Traum »Gier« vor. Die offiziellen 54 Prozent der Stimmen – gegenüber 48 Prozent bei der letzten Wahl 2020 – für den Georgischen Traum gingen nun doch zu weit. Offenbar war es seitens der Regierungskritiker undenkbar, dass sich die Unterstützung für die Regierungspartei erhöhen könnte.
Allerdings: Im Jahr 2020 gab es ein Mischsystem aus einer Verhältniswahl und einer Mehrheitswahl (»winner takes it all«), wohingegen 2024 die erste georgische Wahl mit ausschließlichem Verhältniswahlrecht sowie der Einführung der elektronischen Stimmabgabe stattfand. Im früheren Mehrheitswahlsystem mussten die Kandidierenden vor allem vor Ort Wahlkampf betreiben und als Einzelkandidaten antreten, anstatt sich ausschließlich auf die Parteiführung in Tiflis zu verlassen.
Im Jahr 2020 erhielten die Mehrheitskandidaten des Georgischen Traums in allen regionalen Bezirken außerhalb der Hauptstadt zwischen 43 und 69 Prozent der Stimmen. Mit dem Übergang zu einem vollständig proportionalen System 2024 wurde es schwieriger vorherzusagen, wie sich die Stimmen letztendlich verteilen würden. Daher ist es zumindest unlauter, lediglich die 48-prozentige Gesamtzahl der proportionalen Stimmen 2020 mit den jüngsten Ergebnissen zu vergleichen, ohne die Einzel-Prozentsätze aus der früheren Mehrheitswahl zu berücksichtigen.
In jedem Fall konzentrierten sich die Oppositionsparteien auf die Städte, während der Georgische Traum sich gerade in ländlichen Gebieten (wo es teilweise nicht einmal Gegenkampagnen gab) klar durchsetzen konnte, aber auch Stimmen in den Metropolen erhielt. Fraglich ist darüber hinaus, ob Drohungen aus dem Ausland überhaupt Einfluss hatten: Sowohl Wahlanalysen als auch Umfragen deuteten darauf hin, dass eine auf Geopolitik ausgerichtete Botschaft bei den 70 Prozent der georgischen Bevölkerung, die außerhalb der Hauptstadt Tiflis leben, wohl auf wenig bis keine Resonanz stößt. Für diese Menschen seien die alltäglichen Lebensverhältnisse entscheidend.
Derweil hat sich die Welt seit 2020 mit der Pandemie und dann dem Krieg in der Ukraine dramatisch verändert. Die Invasion Russlands hat die politische Dynamik überall erheblich beeinflusst, doch dies gilt insbesondere für Georgien, wo die Erinnerungen an den Krieg von 2008 und die Konflikte der 1990er Jahre noch frisch sind. Der Georgische Traum vermittelt eine »Friedensbotschaft« und warnte im Wahlkampf, es gebe Kräfte im Land, die versuchten, Georgien in einen Krieg zu ziehen. Der anhaltende Krieg in der Ukraine, die Angriffe Israels im Nahen Osten sowie die Möglichkeit einer Ausweitung bis hin zum Krieg gegen den Iran haben bei vielen Menschen Ängste ausgelöst.
»Die meisten Menschen aus ländlichen Gebieten nehmen nicht an den liberalen Demonstrationen in Tiflis teil. Gleichzeitig wissen und hören sie aber immer wieder, was die Opposition und ihre Anhängerschaft in der Hauptstadt über Menschen vom Land sagen.«
Aus Sicht von Präsidentin Surabischwili ging die Opposition im Wahlkampf auf die Wünsche der Wählerinnen und Wähler ein, wohingegen der Georgische Traum lediglich »Ängste schürt«. Faktisch ist diese Angst vor Krieg aber eine bedeutende Motivation für viele Georgierinnen und Georgier: Sie sorgen sich darum, das, was sie aktuell haben, nicht zu verlieren – anstatt auf Versprechen von europäischem Wohlstand als zukünftiges EU-Mitglied zu vertrauen, die sich für sie bisher nicht erfüllt haben.
Wie man auch dazu stehen mag: Unter dem Georgischen Traum hat das Land seine geografische Lage in den vergangenen Jahren effektiv genutzt. So wurden die Sanktionen gegen Russland nicht vollständig eingehalten, was offenbar dazu beigetragen hat, die georgische Wirtschaft anzukurbeln. Durch seine eher neutrale Haltung hat sich Georgien zu einem wichtigen Handelszentrum für Länder entwickelt, die mit Russland in Kontakt treten möchten. Das wiederum hat die Geschäftstätigkeiten, insbesondere in den Bereichen Logistik und Handel, im Land gepusht. Das prognostizierte BIP-Wachstum liegt aktuell bei 7,1 Prozent. Infolgedessen ist die Inflationsrate in Georgien seit 2022 deutlich auf 0,6 Prozent gesunken, was die Kaufkraft verbessert hat. Auch dies könnte die vielen Stimmen für den Georgischen Traum erklären.
Unbestritten ist der Georgische Traum eine neoliberale und von Oligarchen geförderte Partei. Dennoch gab es – im Vergleich zu den vorherigen zehn Jahren seiner Herrschaft und insbesondere zur Vorgängerregierung – kürzlich einige (vorsichtige) progressive Ansätze in der Sozial- und Wirtschaftspolitik. So wurde 2023 beispielsweise ein Mindestlohn für Pflegekräfte eingeführt und das Mutterschaftsgeld verdoppelt. Derartige Reformen sind nicht wirklich substanziell, zeigen aber, dass sich die sozialpolitischen Prioritäten der Regierung verschieben.
Die Beliebtheit des Georgischen Traums lässt sich zum Teil auch dadurch erklären, dass er nicht immer explizit mit den sogenannten »europäischen Werten« übereinstimmt beziehungsweise infrage stellt, was diese Werte eigentlich sind. So hat die Partei die in weiten Teilen der Bevölkerung vorherrschende »Anti-LGBT«-Stimmung strategisch genutzt, um die eigene Wählerschaft zu vergrößern. In der zutiefst konservativen Gesellschaft Georgiens kommt die Botschaft der Partei über »traditionelle europäische Werte« sehr gut an.
Laut einer UN-Studie aus dem Jahr 2021 betrachten 55,9 Prozent der Georgierinnen und Georgier LGBT-Themen als »Propaganda« (was allerdings einem Rückgang von 20 Prozentpunkten seit 2016 entspricht). Auch die Unterstützung für gleichgeschlechtliche Ehen ist nach wie vor gering, nur 10 Prozent der Befragten zeigen diesbezüglich eine gewisse Akzeptanz. In den vergangenen drei Jahren haben konservative Gruppen, die nicht mit dem Georgischen Traum verbandelt sind, ihre Anti-LGBT-Rhetorik verstärkt. Auch dies könnte einen Teil der Wählerschaft dazu motiviert haben, bei den Wahlen letztendlich der konservativen Regierungspartei die Stimme zu geben.
Wie anderswo tobt auch in Georgien ein Kulturkampf. Viele derjenigen, die beim Übergang von der Sowjetunion zu einem kapitalistischen Wilden Westen auf der Strecke geblieben sind – und insbesondere diejenigen, die nicht von westlichen Zuschüssen oder Unterstützung profitiert haben – sprechen kein Englisch und haben keinen Abschluss an europäischen Universitäten erworben. Wenn diese Menschen aus ländlichen Gebieten nun beispielsweise einmal im Jahr zum sogenannten »Familientag« – einem christlich konnotierten Fest, bei dem traditionelle Familienvorstellungen abgefeiert werden – zu Demonstrationen oder Kundgebungen des Georgischen Traums nach Tiflis kommen, werden sie von der städtischen Opposition oft als »rückständig« verspottet.
Diese Kritik zielt nicht nur auf rein kulturelle Aspekte (wie die Vorliebe für russische Musik auf dem Land), sondern auch auf Hygiene, Kleidung, Essensgeschmack und den allgemeinen Lebensstil der »Dörfler« ab. So vertieft sich die soziale und kulturelle Kluft zwischen urbaner und ländlicher Bevölkerung. Mit Blick auf Proteste in der Hauptstadt lässt sich sagen: Die meisten Menschen aus ländlichen Gebieten nehmen nicht an den liberalen Demonstrationen in Tiflis teil. Gleichzeitig wissen und hören sie aber immer wieder, was die Opposition und ihre Anhängerschaft in der Hauptstadt über Menschen vom Land sagen.
Während sich die Opposition im letzten Wahlkampf also darauf konzentriert hat, wie sich das Gesetz über ausländischen Einfluss auf die (weitgehend vom Westen finanzierte) Zivilgesellschaft und ein polarisiertes politisches Umfeld in der Hauptstadt auswirkt, hat sie übersehen, was die ländliche Wählerbasis des Georgischen Traums anspricht. Die Opposition war groß, aber sie hat sicherlich nicht die gesamte Gesellschaft mobilisiert. Umfragen ergaben, dass 35 Prozent der Georgierinnen und Georgier das besagte Gesetz ablehnen, 30 Prozent es befürworten und es dem Rest schlicht gleichgültig ist. Mit den Debatten über das Gesetz wurde vor allem auf die privilegierteren Teile der Gesellschaft abgezielt. Im Gegenzug hat dies möglicherweise die potenziellen Anhänger des Georgischen Traums auf dem Land, die sich ausgegrenzt und von finanziellen Vorteilen im urbanen Business- und NGO-Sektor ausgeschlossen fühlen, dazu motiviert, wählen zu gehen.
»Die westlichen Forderungen, dass ›das georgische Volk gehört werden muss‹, zielen faktisch nur auf einen Teil des georgischen Volkes ab.«
Das Gesetz über ausländischen Einfluss hat bisher nicht zu Geldstrafen für NGOs, die ihre entsprechenden Meldefristen versäumt haben, geführt. Trotz der Behauptungen von oppositionellen NGOs, dass das Gesetz ihre Wahlbeobachtung behindern würde, scheint es bisher keine unmittelbaren Auswirkungen auf ihre Arbeit zu haben (wobei einige Aktivistinnen und Aktivisten betonen, angesichts des Gesetzes hätten sie Angst und dies wirke sich auf ihre Arbeit aus). Wenn man die jüngste Wahl als eine Art »Referendum« über die NGO-Gesetze verstehen will, scheint es nicht so, als ob die meisten Georgier bei der Wahl tatsächlich diese Gesetze kippen wollten.
Im westlichen Ausland sieht man dies freilich anders und beharrt weiterhin auf ihrer sofortigen Aufhebung. So sagte US-Außenminister Antony Blinken – ohne das Wahlergebnis ausdrücklich anzuerkennen: »Das georgische Volk hat sich gestern für die Demokratie entschieden.« Die Behörden müssten nun »diese Gesetze aufheben, die die Grundfreiheiten grundlegend untergraben«.
Im Nachgang der Wahl versucht die Opposition nun also, Argumente und Belege zu sammeln, mit denen die Wahlen als »durchweg gefälscht« angesehen und wiederholt werden können. Indem sie den Westen unter Druck setzt, die Legitimität der Wahl infrage zu stellen, hilft Präsidentin Surabischwili der Opposition, Zeit zu gewinnen, um ihre Beweise zu sammeln und sie ausländischen Verbündeten vorzutragen. Ihre wiederholten Warnungen vor einer »russischen Übernahme« sind Teil dieser Bemühungen und ermutigen die westlichen Regierungen, weiterhin Druck auf die Regierung des Georgischen Traums auszuüben. (Aktuell ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán der einzige unter den westlichen Staats- und Regierungschefs, der die offiziellen Ergebnisse akzeptiert hat.)
Wenn die westlichen Staats- und Regierungschefs die Wahl letztendlich nicht anerkennen sollten, könnte dies zu einer schwierigen Pattsituation in Georgien führen. Die westlichen Forderungen, dass »das georgische Volk gehört werden muss«, zielen faktisch nur auf einen Teil des georgischen Volkes ab. Darüber hinaus ist die Opposition nach wie vor eine fragile Koalition, der es offensichtlich am nötigen Zusammenhalt fehlt, um den Georgischen Traum deutlich zu schlagen. Andererseits ist diese Koalition nicht gewillt, eine weitere Amtszeit des Georgischen Traums zu dulden.
Sollten die Ergebnisse in Georgien bestätigt, im Westen aber nicht anerkannt werden, würden einige komplexe Fragen aufgeworfen: Würden ausländische Kräfte versuchen, den Georgischen Traum anderweitig von der Macht zu verdrängen? Welche Gestaltungsmöglichkeiten hat die Opposition überhaupt? In jedem Fall gibt es in der georgischen Öffentlichkeit wenig Appetit auf einen Umsturz »à la Maidan«. Die Lage in Georgien bleibt daher angespannt. Wenn es keine eindeutige Lösung für das aktuelle Patt gibt, ist die Stabilität des Landes gefährdet und weiteres Chaos droht.
Sopo Japaridze ist die Vorsitzende des Solidaritätsnetzwerks, einer unabhängigen Gewerkschaft für Pflegekräfte in Georgien. Sie erforscht und studiert Arbeits- und Sozialbeziehungen und schreibt für verschiedene Publikationen. Außerdem ist sie Mitbegründerin der Initiative und des Podcasts Reimagining Soviet Georgia.